Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 6, doc. 196
volume linkBern 1981
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2300#1000/716#462* | |
Old classification | CH-BAR E 2300(-)1000/716 222 | |
Dossier title | London, Politische Berichte und Briefe, Militärberichte, Band 10 (1916–1916) | |
File reference archive | 096 |
dodis.ch/43471
Ich hatte jüngst Gelegenheit, mit einigen meiner hiesigen Kollegen neutraler Staaten zu sprechen. Sie sagen übereinstimmend, dass eine Offensive der Verbündeten, soweit sie nicht schon im Gange sei, auf allen Fronten zugleich, einschliesslich der nordrussischen und der von Saloniki, bevorstehe. Die Vorbereitungen seien so gut wie beendet, und die Herstellung von Kriegsmaterial in England sei nun endlich den Anforderungen entsprechend. Die gemeinsam zu unternehmende Offensive werde zeigen, ob die Zentralmächte über genügend Truppen und Reserven verfügen, um überall zugleich standzuhalten. Sei dies nicht der Fall, so könne auf eine Beendigung des Kriegs vor dem nächsten Winter gehofft werden; sei aber die Widerstandskraft der Zentralmächte einem von allen Seiten gleichzeitig ausgeübten Druck gewachsen, so müsse man sich auf einen unter Umständen noch lang dauernden, förmlichen Erschöpfungskampf gefasst machen.
Rückblickend auf die Entstehungsgeschichte des Kriegs, bemerkte mir ein hier in amtlicher Mission sich aufhaltender, sehr ruhig denkender Franzose, dass, wenn die deutsche Regierung sich so eingerichtet hätte, sich von Russland den Krieg erklären zu lassen, statt umgekehrt, der strikte «casus foederis» zwischen Frankreich und Russland nicht eingetreten wäre und die damals sehr mächtige sozialistische Partei in Frankreich eine Teilnahme der Republik am Krieg voraussichtlich verhindert hätte. Jetzt sei das ganze französische Volk einig, im festen Willen unter allen Umständen durchzuhalten. Mein Gewährsmann fügte bei, er hoffe, der regenerierende Einfluss, den der Krieg auf seine Landsleute gehabt habe, werde auch nach dem Friedensschluss anhalten und Frankreich erlauben, wieder eine geachtetere Stellung in der Welt einzunehmen als vor dem Krieg.
Die so sehr schädigenden Wirkungen, die der Krieg von Anfang an auf die Volkswirtschaft der Schweiz geübt hat, sind bisher in hiesigen uneingeweihten Kreisen nicht in ihrer Tragweite erkannt worden. Die deutsche Drohung, uns unter Umständen die Lieferung von Kohle einzustellen, hat jedoch Aufsehen erregt und manchem die Augen geöffnet. Möge man in der Schweiz die vollen Konsequenzen aus dieser Lage ziehen und jetzt schon mit aller Macht darnach streben, uns soweit nur immer möglich vom Ausland wirtschaftlich unabhängig zu machen und zu erhalten. Für gewisse Rohprodukte, die einige unserer blühendsten Industrien brauchen, wie Metalle, Baumwolle, Wolle, Seide, ist dies ausgeschlossen; für Lebensmittel nur zu kleinem Teil tunlich; zur Verringerung des Kohlen- und auch des Petrolbedarfs könnte hingegen viel getan werden. Man darf sich sogar fragen, ob da in vergangenen Jahren nicht manches versäumt wurde. Sind alle Anstrengungen gemacht worden, um die uns fehlende Kohle, das Petroleum zu Beleuchtungszwecken, durch die uns durch Verwertung unserer Wasserkräfte reichlich zur Verfügung stehenden Elektrizität zu ersetzen? Wie dem auch sei, die Zeit, in der unser Volk noch unter dem Eindruck der schädigenden Folgen des Weltkrieges steht, sollte benutzt werden, um ihm die Notwendigkeit der sofortigen Einleitung von Massnahmen darzulegen, um die Schweiz von fremder Kohle und fremdem Beleuchtungspetroleum unabhängig zu machen.
Noch eines hat der Krieg bewiesen: wie sehr wir uns, die wir keinen Seehafen besitzen, anstrengen müssen, uns Verbindungen zu Wässer mit einem Hafen der Nordsee, wie Rotterdam, und einem des Mittelmeers, wie Marseille, zu sichern. Die Bestrebungen, Kanalverbindungen mit der Rheinschiffahrt herzustellen, müssen durch solche ergänzt werden, die auf eine Verbindung mit der schiffbaren Rhone hinzielen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass ein Zugang, wie Rotterdam, auch wenn er schon bis an die Schwelle unseres Gebiets geführt hätte, infolge kriegerischer Verwicklungen (Sperrung durch Grossbritannien) versagen kann: es ist deshalb unbedingt notwendig, mindestens einen zweiten zu besitzen. Wie sehr wäre unsere Getreide- und Rohstoff-Einfuhr erleichtert, wenn wir neben den Eisenbahnen mit allen ihren Unzulänglichkeiten und Mängeln über mit zwei Meeren in Verbindung stehende Kanäle verfügen könnten! Es handelt sich um ein gewaltiges Werk; aber das anzustrebende Ziel ist der grössten Anstrengungen und Opfer wert, und die vorbereitende Arbeit sollte ohne Verzug, trotz dem Krieg, begonnen werden. Später besteht Gefahr, dass die Sache, gerade wegen der Schwierigkeiten, die sie bietet, verschoben wird, zum Schaden unserer Volkswirtschaft und deren Unabhängigkeit, die mit der politischen Unabhängigkeit unzertrennlich verbunden ist.
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- Rapport politique: E 2300 London, Archiv-Nr. 10.↩