Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 6, doc. 63
volume linkBern 1981
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E27#1000/721#13458-1* | |
Old classification | CH-BAR E 27(-)1000/721 2754 | |
Dossier title | Korrespondenzen General Wille [v.a. Kopien der Ausgänge] (1914–1914) | |
File reference archive | 06.H.3.a.1 |
dodis.ch/43338
Auf Ihre Zuschrift von gestern2 betreffend Verringerung des Bestandes der Armee habe ich die Ehre zu erwidern:
Wir haben nur noch die Truppen des Auszuges plus der Landwehrtruppen von zwei der 6 Divisionsparks unter Waffen.
In der neulichen Konferenz mit Ihnen, dem Bundespräsidenten und dem Chef des Finanz-Departements hatte ich die Gründe dargelegt, warum wir die Truppen des Auszuges unter Waffen behalten müssen.
Die Gründe waren:
1.) Solange eine Entscheidung in den Kämpfen der Alliierten gegen die Deutschen, die sich von der Nordsee bis an die Schweizer Grenze ausdehnen, nicht gefallen ist, ist man nicht in der Lage, beurteilen zu können, ob der Krieg nicht eine Wendung nimmt, die uns in denselben mit hineinzieht. Diese Entscheidung ist noch immer nicht gefallen, und als Novum ist seit unserer Konferenz hinzugetreten, dass die Gegner sich bis hart an unsere Grenze einander gegenüber eingraben, dass unsere Beobachtungsposten und Agenten nicht blosse beständige Truppenbewegungen nahe an unsere Grenze konstatieren, sondern auch das Vorhandensein schwerer Geschütze und beständige Vermehrung der Truppen.
Obgleich ich einstweilen nicht daran glauben kann, so wären wir doch im höchsten Grade leichtfertig, wenn wir die Möglichkeit aus den Augen Hessen, dass ernste Kämpfe gegen Beifort bevorstehen. Diese Möglichkeit kann zur Wahrscheinlichkeit werden, wenn die Deutschen im Norden und im Zentrum siegen und dann die französische Armee oder grosse Teile derselben gegen Südwesten abgedrängt werden. Würden die Deutschen entscheidend geschlagen, so dass Frankreich eine kraftvolle Offensive unternehmen kann, dann wäre es leicht möglich, dass Frankreich den Weg durch die Schweiz als den mühelosesten ansehen würde, um in Feindesland zu gelangen.
2.) Unsere 6 Auszugs-Divisionen dürfen - sofern man überhaupt an die Möglichkeit ihrer kriegerischen Verwendung denkt - nicht nach Hause entlassen werden. Als die Armee vor 3 Monaten unter die Fahnen gerufen wurde, war sie nicht kriegsbereit; es fehlte ihr an der Hauptsache: an der durch Erziehung und Ausbildung zu erschaffenden Kriegstüchtigkeit. Die Armee war nicht das, was sie äusserlich darstellte.
Diesen entscheidenden Mangel abzustellen, wurde - neben der beständigen Bereitschaft, sie so zu brauchen, wie sie war - zur obersten Aufgabe der Heeresleitung, und als der Verlauf des Krieges zwischen unseren Nachbarn erkennen liess, dass eine Gefahr für unser Land nicht unmittelbar bevorstehe, durfte bei der Erschaffung der Kriegstüchtigkeit der Truppen systematisch vorgegangen werden. Zuerst kam die Hauptsache: Erschaffung der auf Disziplin beruhenden Zuverlässigkeit der Truppe; dann die Ausbildung der Truppe und der niederen Führung zum Gefecht und schliesslich die Ausbildung der höheren Führung.
Wie aus meinem Befehl vom 29. Oktober, den ich die Ehre hatte Ihnen mitzuteilen, hervorgeht, sind wir erst jetzt bei der 3. Stufe in der Vervollkommnung unserer Kriegsbereitschaft angekommen. Mit dieser soll nicht etwa deswegen jetzt begonnen werden, weil wir finden, dass auf den beiden ändern Stufen ein genügend hoher Grad von Kriegstüchtigkeit erreicht ist, sondern weil ich erkannt habe, dass wir, in unabwendbarer Folge unserer Kaderausbildung und das Dienstbetriebes in unsern Instruktionskursen es, durch ausschliessliche Beschäftigung damit, nicht weiter bringen können. Die Weitervollendung kann nur durch Eingewöhnung während längerem Im-Dienst-Stehen bewerkstelligt werden.
Im übrigen durfte auch nicht länger zugewartet werden, den höheren Führern Gelegenheit zu geben, sich im Gebrauch der Truppen zu üben. Wir haben Divisionäre in der Front, die noch keinen Stunde ihre Division im Gefecht geführt haben; gleich und ähnlich ist es mit den Kommandanten der Regimenter und Brigaden.
Wie schon gesagt, die Periode dieser Ausbildung hat jetzt begonnen, und wenn die Offiziere jetzt nicht schlampig und nachlässig werden, so kann während ihrer Dauer durch die Macht der Gewohnheit die Ausbildung der vorausgehenden Perioden, die durch ausschliessliche Beschäftigung mit ihr nicht weitergebracht werden konnte, vervollkommt werden.
Wenn jetzt die Truppen nach Hause entlassen werden, um sie wieder einzuberufen, sobald die Not es erfordert, so werden die Divisionen wiederum nicht so kriegstüchtig sein, wie sie sein sollten, und so ist bis zu einem gewissen Grad die Arbeit der verflossenen drei Monate umsonst.
Es kommt noch ein dritter Grund hinzu, weswegen ich eine mehr oder weniger grosse Demobilisierung unserer Armee für verderblich erachte: seitdem der erste Schrecken sich wieder verflüchtigt hat, fällt man bei uns - ganz besonders die sogenannten Intellektuellen - wieder zurück in die alte Denkweise über Krieg und Kriegsgefahr, welche Denkweise die Ursache ist, dass wir trotz der sonstigen günstigen Faktoren immer nur bis zu einer gewissen Grenze bei Erschaffung eines kriegstüchtigen Wehrwesens kommen können. Man glaubt, dass, wenn wir uns nur hübsch still verhalten, die Kriege immer respektvoll an unserer Grenze vorbei gehen. Auch ich hoffe das diesmal wie immer, obgleich ich der Ansicht meiner besten Unterführer nicht widersprechen kann: es täte unserem Volk gut, wenn es durch harte Schläge von solchem Glauben kuriert würde.
Wenn wir jetzt teilweise demobilisieren, wäre das Förderung jenes unheilvollen Glaubens, während ihm entgegengewirkt wird, wenn der Bundesrat trotz der wohlberechtigten Rücksichten auf das wirtschaftliche Leben, auf die schwere Schwächung der finanziellen Kraft unseres Landes und auf die Begehrlichkeit des Volkes - dem es unverständlich ist, dass die Armee solange unter Waffen steht - fest dabei bleibt, dass die Armee für alle Eventualitäten bereit steht und sich, was bitter notwendig ist, immer mehr vervollkommnet, um diesen Eventualitäten begegnen zu können.
Ich bitte, die Armee noch weiter im Dienst zu belassen, und versichere dem hohen Bundesrat, dass ich der erste sein werde, der teilweise oder sogar ganze Demobilisierung beantragt, sobald ich zur Erkenntnis komme, dass das geschehen darf.