Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
IX. LANDESVERSORGUNG
Abgedruckt in
Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 5, Dok. 407
volume linkBern 1983
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Archiv | Schweizerisches Bundesarchiv, Bern | |
Signatur | CH-BAR#E2001A#1000/45#648* | |
Dossiertitel | Nr. 622. Verschiedenes; Getreide- und Kohlenversorgung der Schweiz im Kriegsfall (1912–1917) | |
Aktenzeichen Archiv | B.251 |
dodis.ch/43262
Im Aufträge des Herrn Bundespräsidenten als Chef des Politischen Departements, hatte ich am 25. und 27. dieses Monats Unterredungen mit dem französischen Militârattaché, H. Commandant Pageot, über die Frage, welche Vorkehrungen von der Schweiz und von Frankreich zu treffen wären, um während eines europäischen Krieges allfällig eine Verproviantierung der Schweiz mit Getreide (Weizen und Hafer) auf dem Wege über französische Meerhäfen sicher zu stellen.
Wir sind zu folgendem Ergebnis gelangt (Meine Erwägungen und Bemerkungen in Klammern):
1) Zwischen H. Commandant Pageot, als Vertreter des französischen Generalstabes und mir, dem Unterzeichneten, für den schweizerischen Generalstab, wird ausschliesslich mündlich über die Sache verhandelt.
2) Den Abreden wird ein täglicher Bedarf der Schweiz von 150 Wagen Weizen und 40 Wagen Hafer (zu 10 Tonnen), im Ganzen also von 190 Wagen = 1900 Tonnen Getreide zu Grunde gelegt. (Dieser Bedarf war Herrn Pageot natürlich bekannt.)
3) Dieses Quantum kann in 5-6 der auf den französischen Linien zulässigen Eisenbahnzüge verladen und geführt werden.
4) Das für die Schweiz bestimmte Getreide würde, wie z. Z. üblich, vom Oberkriegskommissariat durch Vermittler in Argentinien, den Vereinigten Staaten oder Canada angekauft, jedoch nicht auf den Namen von Zwischenhändlern (wie in Friedenszeiten gebräuchlich), sondern auf den Namen des Oberkriegskommissariats und ausschliesslich zu Händen der Schweiz verschifft. Der französischen Regierung müssten im voraus die Seehäfen bekannt gegeben werden, in denen die Verschiffung für die Ozeanfahrt stattfinden soll, damit die französischen Konsuln an diesen Orten beauftragt werden können, die Transportbewilligung nach französischen Häfen zu erteilen. Die Schweiz hätte an den Einschiffungshäfen amtliche Vertreter zu bezeichnen, die Gewähr dafür übernehmen, dass der Transport für die Eidgenossenschaft bestimmt ist.
Als Ausladehäfen kämen nur Bordeauxund Nantes(mit St. Nazaire) in Betracht, Marseillenur auf besonderen Wunsch der Schweiz und wenn die französische Regierung die Sicherheit des Transports garantieren kann. Der Transport ist selbstverständlich bei der Behörde des Ausladehafens anzumelden. Die Schweiz hätte in jedem der drei genannten Häfen einen der französischen Regierung genehmen Vertreter (Konsul oder Stellvertreter) zu bezeichnen.
5) Die Hafenbehörden und Eisenbahnkommandos (autorités de port et commandants de réseau) werden ohne Verzug den Auslad gestatten und die nötigen Bahnzüge zur Verfügung stellen, sobald der Transport, als für die schweizerische Regierung bestimmt, ausgewiesen ist. Die Säcke für den Umlad sind vom Oberkriegskommissariat zu liefern.
6) Der Eisenbahntransport durch Frankreich soll nicht mehr als 4-5 Tage erfordern und wird unter allen Umständen nach Genferfolgen, mit der Befugnis für die Schweiz, die aus französischem Wagenmaterial bestehenden Getreidezüge mit schweizerischen Lokomotiven ohne Aufschub von Genf nach Renens zu führen. Dort sind sie unverzüglich zu entladen und alsbald der P.L.M.-Gesellschaft in Genf wieder zur Verfügung zu stellen.
(Die tarifmässige Lieferfrist der Bahnen beträgt im Frieden für Bordeaux oder Nantes bis Luzern 11 Tage; da Frankreich die Transporte bis Genf in 4-5 Tagen ausführen will, so wird jeder Zug für Hin- und Rückfahrt, einschliesslich Auslad in der Schweiz, mindestens 10 Tage unterwegs sein. Der tägliche Transport von 5-6 Zügen erfordert also mindestens 50-60 Züge à ca. 35 Wagen zu 10 Tonnen = ca. 1900 Eisenbahnwagen nebst den notwendigen Lokomotiven. Vermieden muss werden, während eines westeuropäischen Krieges oder bei naher Kriegsgefahr von unserm Rohmaterial ins Ausland gehen zu lassen.)
7) Die Bestimmung der für die Transporte zu benützenden Bahnlinie ist Sache Frankreichs.
Der französische Generalstab wird diese Transporte in seine militärischen Eisenbahnvorbereitungen aufnehmen und zwar wird er das Rohmaterial dafür so bereitstellen, dass die Transporte vom 35. Mobilmachungstage an aufgenommen und regelmässig durchgeführt werden können.
(Der französische Militârattaché hat von sich aus die Bereitwilligkeit geäussert, bei den französischen Bahngesellschaften sich dafür zu verwenden, dass uns für diese Transporte die französischen Militärtaxen bewilligt werden. Ich erklärte ihm, keinen Auftrag zu haben, das zu verlangen, sondern dass ich mich mit der Zusicherung der allgemeinen Tarifansätze begnüge. (Die Berechnung nach der kürzesten Linie sollte allerdings einbedungen werden.) Übrigens schien auch H. Pageot selbst daran zu zweifeln, dass die französischen Bahnen zur Gewährung des Militärtarifes für diese Transporte verhalten werden könnten. Dass Konsumzölle (octrois), Transit- und Ausfuhrzölle ausgeschlossen sein sollen, erscheint mir dagegen selbstverständlich, wird aber eher Gegenstand der politischen als der militärischen Besprechungen sein.)
8) Getreide, das zur Zeit des Kriegsausbruches schwimmt, kann, sofern es für den Bedarf der Schweiz bestimmt ist, bei gebührender Benachrichtigung der französischen Regierung, unter Änderung seines Kurses, nach einem der hievor genannten französischen Häfen geleitet werden. Trifft es dort vor dem 35. Mobilmachungs-Tage ein, so ist es für Rechnung und zu Händen der schweizerischen Regierung daselbst einzulagern, bis es abtransportiert werden kann.
(Wenn es in der Unterredung auch nicht bestimmt ausgesprochen wurde, so hat die ganze Abmachung doch Seitens Frankreichs zur Voraussetzung, dass die Schweiz ihre Neutralität mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln wahre und das auf Grund der Abrede bezogene Getreide nur in der Schweiz Verwendung finde.
Eine Ausdehnung der Abrede auch auf Steinkohle halte ich zur Zeit nicht für notwendig. Allerdings muss streng darauf gehalten werden, dass der Kohlenvorrat der Bahnen nie unter den 6 monatlichen Bedarf sinke; auch die Industrie und die Gasfabriken sollten denselben Vorrat besitzen. Frankreich aber ist selbst kein kohlenexportierendes Land und es dürften in dieser Hinsicht andere Massregeln als die für die Getreidebeschaffung in Aussicht zu nehmen sein. Von der Kohleneinfuhr sind dermalen bestimmt ca. % für die Bahnen und Dampfschiffe, ca. Vs für die Gaswerke, ca. Vs für die Industrie und ca. Vs für den Privatgebrauch; alles europäische Kohle, Bezugsquelle ganz überwiegend Deutschland. Zum Schlüsse erlaube ich mir noch die Bemerkung beizufügen, dass es doch naheliegt, an eine (vorsichtige) Sondierung von England zu denken, von dessen Verhalten vor allem die Sicherheit der für uns bestimmten Transporte abhängt.
Nicht zu übersehen ist endlich, wie sehr die in Aussicht genommene Versorgung von Tag zu Tag uns in beständiger Abhängigkeit vom guten Willen Frankreichs erhält. Weit vorzuziehen wird immer die Erhöhung der Getreidevorräte auf einen längeren Bedarf, wenigstens für 100 Tage sein und bleiben.)
- 1
- Schreiben: E 2001 (A), Archiv-Nr. 622.↩
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