dodis.ch/43218
Der Vorsteher des Militärdepartementes,
A. Hoffmann, an den Bundespräsidenten und Vorsteher des Politischen Departementes,
E. Müller1
streng vertraulich
Bern, 7. April 1913
Die allgemeine europäische Lage lässt es uns wünschbar erscheinen, dass die zuständige Behörde wenn immer möglich in einem Zeitpunkte, wo eine ruhige Überlegung gesichert ist, sich schlüssig mache, wie sie bei Ausbruch eines Krieges zwischen unsern Nachbarstaaten sich zu der viel umstrittenen Frage der Neutralität Hochsavoyens stellen werde. Es ist ohne weiteres klar, dass gewisse Schlussnahmen, vorab diejenige der Besetzung des neutralisierten Gebietes, sich nicht zum voraus treffen lassen, sondern von der Gestaltung der Verhältnisse im einzelnen Falle abhängig sind. Auf der ändern Seite steht nichts im Wege, erscheint vielmehr als wünschbar, dass man sich über gewisse Grundsätze einigt, die dann gegebenen Falls zur Richtschnur genommen werden sollen.
Eine solche Einigung erscheint heute um so wünschenswerter, als der Bundesrat im Jahre 1887 aus den auf die Neutralität Hochsavoyens bezüglichen Dokumenten2 und ihrer Vorgeschichte rechtliche Schlüsse gezogen hat, die nicht nur mit der Stellungnahme der Bundesbehörden bei früheren Gelegenheiten, vorab 1859 und 1870, in Widerspruch stehen, sondern die auch mit derjenigen Haltung nicht vereinbar sind, die unseres Erachtens bei einem künftigen Konflikte zwischen Frankreich und ändern unserer Nachbarstaaten eingenommen werden sollte.
Wir haben infolgedessen den Chef der Generalstabsabteilung mit der Ausarbeitung eines Memorials über die politischen und militärischen Gesichtspunkte beauftragt, die für die Beurteilung der Savoyerfrage wegleitend sein können.
Wir lassen Ihnen das Memorial3 beiliegend zugehen und bemerken, dass wir uns mit dessen Inhalt einverstanden erklären. Wir halten dafür, dass der Bundesrat auf Grund der am Schlüsse des Memorials formulierten Anträge zweckmässig über die im Konflikte der Nachbarstaaten betreffend die Neutralität Hochsavoyens einzuhaltenden Richtlinien eine grundsätzliche Schlussnahme treffen würde; immerhin wird es sich fragen, ob Ziffer 4 der Anträge nicht besser für einmal weggelassen werden sollte, da die Beantwortung der in dieser Ziffer erörterten Frage doch wohl besser auf den Zeitpunkt verschoben würde, wo die konkreten Verhältnisse eine sichere Grundlage für die Entschliessungen der Behörde darbieten. Sodann wäre in Ziffer 1 oder 2 noch expressis verbis zum Ausdruck zu bringen, dass dem von uns beanspruchten Recht zur allfälligen Besetzung des neutralisierten Gebietes keineswegs eine Pflicht zu dieser Besetzung gegenübersteht.
Selbstverständlich würde es sich bei dieser Schlussnahme des Bundesrats nur um vorläufige Richtlinien handeln, und es ist die endgültige Entschliessung der jeweils im Amte stehenden Behörde ausdrücklich vorzubehalten, da Verhältnisse ein treten können, die sich gar nicht voraussehen lassen und die eine entscheidende Wendung unserer Neutralitätspolitik zur Folge haben können.
Wir nehmen an, dass Sie die Angelegenheit weiter verfolgen und die Antragstellung an den Bundesrat besorgen werden, da die politische Seite der ganzen Frage unbedingt prävaliert4.
Wir lassen Ihnen in der Anlage noch ein Pro memoria5 zugehen, das Herr Bundespräsident Müller im Januar 1897 zu Händen des Bundesrates über die gleiche Frage ausgearbeitet hat und in dem die ganze reichhaltige Literatur bis zu jenem Zeitpunkte verarbeitet ist.
Zum Schlüsse bemerken wir noch, dass das Studium der Akten uns zu dem Wunsche veranlasst, es möchte an die Archivleitung die Weisung erteilt werden, die Akten betreffend die Anno 1887 erfolgten Unterhandlungen mit Frankreich über die Savoyer-Frage bis auf weiteres als streng vertraulich zu behandeln und also auch nicht für wissenschaftliche Zwecke zur Verfügung zu stellen.