Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
X. LANDESVERTEIDIGUNG
Abgedruckt in
Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 5, Dok. 254
volume linkBern 1983
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Archiv | Schweizerisches Bundesarchiv, Bern | |
▼ ▶ Signatur | CH-BAR#E1001#1000/6#420* | |
Alte Signatur | CH-BAR E 1001(-)1000/6 420 | |
Dossiertitel | Anträge des Finanz- und Zolldepartementes 1855-1911 (1855–1911) | |
Aktenzeichen Archiv | 1.6 |
dodis.ch/43109
Der Vorsteher des Militärdepartementes, E. Müller, an den Bundesrat1
Das Finanzdepartement verlangt in seinem «Exposé sommaire» vom 22. April 19092 ganz besonders vom Militärdepartement, dass es seine Ausgaben einschränke und nur die allernotwendigsten Kreditbegehren einbringe. Es verlangt dann in näherer Ausführung dieses Gedankens im speziellen, dass die Ausgabe für Befestigungsbauten von Fr. 6.500.000.- vertagt werde und dass sich das Militärdepartement äussere über die Frage, ob nicht auch die Neubewaffnung der Fussartillerie auf spätere Zeiten verschoben werden könnte; ferner berührt es noch den Erwerb von Waffenplätzen durch den Bund, die Neuuniformierung der Armee und die drahtlose Telegraphie.
Vor dem Eintreten auf diese einzelnen Punkte sei es uns gestattet einige allgemeine Gedanken über die Stellung des Militärwesens in unserm Staate und der Militärausgaben in unserer Staatsverwaltung darzulegen:
Keinem, der die Zeichen der Zeit verfolgt, kann es verborgen bleiben, wie dermalen in der Welt zwei Strömungen mit einander ringen. Die eine lässt sich kennzeichnen als das Bestreben, dem eigenen Staate und der Nation möglichst viel von dem Besitze und den Gütern dieser Welt zu sichern, in freiem Wettbewerb allerdings, aber einerseits unter Ausnützung aller nach Völkerrecht im Frieden anwendbaren Machtmittel und mit der Drohung im Hintergründe, wonötig auch die Kriegsmacht für den Zweck einzusetzen. Neben dieser gewaltigen Strömung nimmt sich einstweilen die andere, die der grundsätzlichen Friedensfreundschaft und der sozialen Völkerverbrüderung, recht bescheiden und fast hoffnungslos aus, und es hiesse sich einer argen Selbsttäuschung hingeben, wollte man damit rechnen, dass in absehbarer Zeit die letztere die Oberhand gewinne. An verantwortlicher Stelle aber gar sich dieser Täuschung hinzugeben, wäre ein schweres Unrecht gegen das eigene Land. Kein Vernünftiger kann verkennen, wie die Kriegsrüstungen allerorts, und vor allem in den uns umgebenden Staaten, einen Umfang angenommen und eine Steigerung erfahren haben und noch weiter erfahren, die den Gedanken an einen dauernden Frieden logischerweise nicht aufkommen lässt, ja die vielmehr beinah die Gewissheit ergibt, dass es einmal noch zu der grossen Abrechnung in Europa kommen werde. Es ist ja möglich, dass wir nicht direkt an der Abrechnung werden teilzunehmen haben; sicher aber ist, dass wir nur dann die Hoffnung hegen können, nicht in sie hineingezogen zu werden, wenn wir so gewappnet dastehen, dass wir jede Zumutung im berechtigten Bewusstsein unserer Stärke abweisen dürfen. Je mehr auch bei unsern Nachbarn die Überzeugung besteht, dass eine Verletzung unserer Grenzen sie teuer zu stehen kommen werde, um so sicherer können wir sein, dass der Krieg unsern Grenzen fern bleibe, und um so ruhiger dürfen wir der Entwicklung der Dinge entgegensehen. Wenn für irgend ein Land die Armee und ihre Stärke eine Garantie des Friedens ist, so trifft dies für unser Land zu und ist keine leere Phrase. In einer Zeit aber, wo ringsherum alles dem Kriege zutreibt und wo wir noch vor kurzem erst nur um eine Handbreite davon entfernt waren, in solcher Zeit an den notwendigen Mitteln für die Armee kargen, das wäre eine falsche Politik, mag sie auch noch so populär sein.
Wenn wirklich eine Minderheit oder gar Mehrheit (?) des Volkes verblendet genug wäre, so etwas zu verlangen, so erblicken wir Aufgabe und Pflicht der leitenden Behörden nicht darin, diesem Volke auf dem Irrwege zu folgen oder gar voranzugehen, sondern darin, zu warnen und das Volk vom falschen Wege zurückzuführen. Es mag ja die Zeit kommen, wo man die Schwerter in Pflugscharen umwandeln darf; heute ist sie noch nicht da.
In wenigen Jahren werden bei einigen Nachbarstaaten die Mängel der Rüstung, die dieses Frühjahr den Kriegsausbruch noch verhindert haben, gehoben sein, und wenn wir auf diesen Zeitpunkt zur Abwehr bereitstehen wollen, so dürfen wir keinen Monat, geschweige denn Jahre verlieren, um die bestehenden Lücken in unserer Rüstung zu ergänzen. Was zählen auch 30-40 Millionen gegenüber den unermesslichen Schädigungen, die es zu verhüten gilt und die man hoffen darf verhüten zu können, wenn man nur ernstlich will.
Im Auslande ist es nicht unbekannt, dass unsere Festungen in ihrer Armierung gutenteils veraltet und ihre Sturmfreiheitsanlagen unvollständig sind, dass unsere Fussartillerie zum Teil kaum noch als kriegstüchtig angesehen werden kann, dass wir keine Steilfeuergeschütze bei der Feldartillerie besitzen, dass uns die modernen Verbindungsmittel auf dem Schlachtfelde fast vollständig abgehen u.s.w. Die Beachtung, die man im Fall eines allgemeinen Krieges uns und unserer Neutralität schenken wird, und die Behandlung, die wir dann zu gewärtigen haben, hängen ganz und gar davon ab, wie der Kriegswert unserer Armee und ihrer Ausrüstung eingeschätzt wird.
ln diesem kritischen Momente, wo es sich für uns in erster Linie darum handelt, den Krieg von unsern Grenzen fernzuhalten und unserm Volke den Frieden zu wahren, da kommt es zunächst nicht darauf an, eine schöne Staatsbilanz und einen gefüllten Staatsseckel zu besitzen, sondern vor allem darauf, dass die Armee in allen Teilen tüchtig, wohlausgerüstet und geachtet dastehe. Über die ersten Schwierigkeiten hilft uns dann der Kriegsschatz hinweg, im weitern aber unser Kredit, der wegen einer ausserordentlichen Militärausgabe von 30-40 Millionen in den nächsten 4-5 Jahren nicht zu schänden werden kann. Stellen wir aber das Bestreben nach einer schönen Bilanz und Finanzlage über das nach einer schlagfertigen Armee, so wird es uns ergehen wie den törichten Jungfrauen, die im letzten Moment zwar Geld hatten, aber kein Öl für ihre Lampen mehr zu kaufen kriegten. Der Mammon, mag er noch so reichlich vorhanden sein, schützt uns dann nicht vor dem Angriffe, wohl aber Gewehre und Kanonen, wenn sie vorhanden sind und die Armee Zeit gehabt hat auf ihren Gebrauch sich einzuüben. Zum Kaufen ist es dann zu spät und mögen die Silberlinge noch so hell im Kasten klingen.
Was haben dem alten Bern sein gefülltes Schatzgewölbe, sein dickes Titelportefeuille geholfen? Eine weniger ausschliesslich auf das materielle Wohl und glänzende Finanzen gerichtete Politik, dementsprechend weniger Geld und dafür eine bessere Armee hätten seinen Untergang wenn nicht gar verhindert, doch mindestens ehrenvoller werden lassen.
Der Satz, dass im Kriegsfall die Kraft eines Landes vor allem in seinen Finanzen und seinem Kredit und erst in zweiter Linie in seiner Armee liege, ist unrichtig.
Wenn sodann das Exposé im Allgemeinen erklärt, die Aussichten unseres Budgets seien sehr dunkel und ungünstig und wir hätten allen Grund uns in den Kreditbegehren auf das durchaus Notwendige zu beschränken, so wird diesen Erklärungen Niemand die vollste Berechtigung absprechen. Verwundern kann man sich nur darüber, dass diese Forderung hinsichtlich besonders genannter Punkte nur an das Militärdepartement gerichtet wird, und nicht in gleicher Form auch an sämtliche übrigen Departemente; es steht doch ausser Zweifel, dass an manchen Stellen unseres Budgets Posten stehen, die vom verfassungsmässigen und vom praktischen Standpunkt aus viel weniger begründet sind, als die des Militärdepartements. An der Spitze der Verfassung wird als Zweck des Bundes die Behauptung der Unabhängigkeit gegen aussen und Aufrechterhaltung der Sicherheit im Innern hingestellt. Diese Forderungen gehen somit allen ändern voraus, und wenn gespart werden soll, darf folglich zuletzt das angetastet werden, was hiezu erforderlich ist. Es kann aber auch mit der grössten Bestimmtheit erklärt werden, dass wenn unsere Armee in ihrer Ausrüstung und ihren Hülfsmitteln auch nur annähernd auf die Höhe der Nachbararmeen gebracht werden soll, die aufgestellten militärischen Forderungen das Minimum des Notwendigen darstellen. Die Herabsetzungen im Budget müssen demgemäss zuerst bei den ändern Departementen und bei den Aufgaben des Bundes gesucht werden, die verfassungsmässig in zweite Linie gestellt sind.
Bei allen Militärbauten gilt vollständige Beschränkung auf das Nützliche und Notwendige als erste Aufgabe; Luxus wird grundsätzlich vermieden. Man sehe sich z. B. nur die Offizierskaserne in Thun an und vergleiche damit den Luxus der bei Postgebäuden etc. wohl schon getrieben worden ist. Das Finanzexposé wendet sich gegen eine Ausgabe von Fr. 6.500.000.- für Festungsbauten und nimmt ohne weiteres eine solche von Fr. 5.500.000.- für neue Postpaläste in St. Gallen und Aarau und eine neue Telephonzentrale in Zürich in Aussicht.
Wir werden immer Hand dazu bieten, unnütze Ausgaben zu vermeiden, das finanzielle Gleichgewicht herzustellen durch Verschieben von allem nicht unbedingt Dringlichen; aber dagegen müssen wir unbedingt Stellung nehmen, dass, wenn unsere Finanzlage sich ungünstiger gestaltet, es immer vorab das Militärwesen ist, das sich einschränken und das sich dabei Abstriche gefallen lassen soll an Dingen, die im Interesse der Landesverteidigung nicht versäumt werden dürfen.
Wir müssen dies umsomehr tun, als das Finanzexposé in seiner Einleitung selber eine Reihe von Gründen nennt, aus denen die Ausgaben des Bundes stetig anwachsen (Subventionen, verschiedene Organisationsgesetze, Zivilgesetzbuch, Verhältnisse bei der Telegraphenverwaltung), in der Folge dann aber im Einzelnen eigentlich nur das Militärwesen behandelt und nur bei ihm bestimmte Abstriche verlangt.
Eine Vergleichung der Staatsrechnungen von 1904-1908 ergibt, dass in dieser Zeit die Gesamtausgaben sämtlicher 7 Departemente um 32,6 Millionen gestiegen sind, wovon rund 21,3 Millionen nicht auf das Militär entfallen. Es ist also gar nicht nur das Militärdepartement, dessen Ausgaben sich vermehren.
Und wenn endlich das Finanzrésumé von dem ununterbrochenen Strahl der Militär-Forderungen spricht, so muss eben bemerkt werden, dass in den militärischen Rüstungen der uns umgebenden Staaten auch kein Stillstand eintritt und dass unsere Forderungen regelmässig nur bestimmt sind uns wieder auf die gleiche Linie mit jenen zu bringen. Ausserdem darf nicht vergessen werden, dass die Steigerung der Militärausgaben nicht nur von den Neuanschaffungen herrührt, sondern beinahe mehr noch von der gewaltigen Erhöhung sämtlicher Material- und Arbeitskosten.
[-I3
- 1
- (Kopie): E 1001 1/EFZD Anträge 1855-1911.↩
- 2
- E 27, Archiv-Nr. 3429.↩
- 3
- Es folgen einzelne Kürzungsvorschläge. Zur weiteren Behandlung der ausserordentlichen Militärausgaben siehe Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung vom 16. Februar 1912 in: BBl 1912, I, S. 381 ff. und Bundesbeschluss vom 20. Juni 1912 in: AS 1912, NF 28, S. 521 ff. Am 18. März 1913 beschloss der Bundesrat, zum Zweck der am 20. Juni 1912 von der Bundesversammlung bewilligten Ausgabe von Fr. 31500500 ein festes Darlehen in gleicher Höhe aufzunehmen (E 1004 1/251).↩