Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
V. FREMDENPOLIZEILICHE FRAGEN
1. Verschiedenes
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Documents Diplomatiques Suisses, vol. 5, doc. 213
volume linkBern 1983
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Archives | Archives fédérales suisses, Berne | |
▼ ▶ Cote d'archives | CH-BAR#E21#1000/131#14019* | |
Ancienne cote | CH-BAR E 21(-)1000/131 490 | |
Titre du dossier | Russen in der Schweiz (1879–1909) | |
Référence archives | 06.2.2.09 |
dodis.ch/43068
Die Bundesanwaltschaft empfing seit längerer Zeit häufige Berichte über politische Umtriebe von Russen in Genf, Lausanne und ändern Schweizerstädten, insbesondere seit Beendigung des russisch-japanischen Krieges und dem Ausbruch der innern Kämpfe zwischen Regierung und Revolution im Russischen Reiche. An einzelnen schweizerischen Universitäten drängten sich russische Angehörige beiderlei Geschlechtes in übergrosser Zahl zum Studium besonders medizinischer Fächer, zum Teil Leute mit ungenügender sprachlicher und wissenschaftlicher Vorbildung. Eine Publikation des eidg. statistischen Bureau über die Zahl der Studenten und Zuhörer an den schweizerischen Universitäten und Akademien im Wintersemester 1906/7, von welcher ein Abdruck beiliegt, zeigt folgende charakteristische Ziffern über die Frequenz der medizinischen Fakultäten:d. h. im Ganzen an diesen Fakultäten 1324 Russen, worunter 1058 weibliche, gegenüber 649 Schweizern, darunter 31 weiblichen.
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Wir lassen diese Zahlen hier ohne Kommentar, da solcher am besten von den kantonalen Erziehungsdirektionen geliefert wird in der Beantwortung von Fragen, welche wir uns am Schluss anzuregen erlauben.
Nach Programm und Spezialbericht des eidg. Polytechnikums gestaltete sich die Frequenz im Jahre 1907 wie folgt:
[...]5
Aus den Polizeiberichten über die revolutionäre russische Bewegung in der Schweiz ging hervor, dass mit ändern Angehörigen dieser Nation sich jeweilen Landsleute männlichen und weiblichen Geschlechtes verbanden, die an den schweizerischen Universitäten als Studierende oder Zuhörer eingetragen waren, entsprechend der Rolle, welche die russische «Intelligenz» in der Heimat spielt. Es erfolgten mehr oder weniger stürmische öffentliche Versammlungen in welchen unter der Mitwirkung und dem Beifall von Schweizerbürgern, worunter Sozialisten und Anarchisten, Sympathiekundgebungen für die Taten der russischen Revolutionäre und Proklamationen gegen die russische Regierung erlassen wurden. Hauptsächlich von Genf aus wurden in russischer Sprache und jüdischen Dialekten Zeitungen revolutionären Inhaltes verbreitet und bei jeder Gelegenheit publizierten russische, polnische, lettische und andere Komites Erklärungen, welche Verbrechen angeblich politischer Art, die in Russland begangen worden waren, verherrlichten und gegen die Bestrafung solcher Täter protestierten, die in der Schweiz entdeckt wurden und deren Auslieferung der russische Staat verlangte, so in den bekannten Fällen der Neuzeit: Belenzow, Keresselidzeund Konsorten und Kilachitzky.
Die schweizerischen Behörden haben bis anhin diesen Kundgebungen wenig Beachtung geschenkt. Als in Genf vor Jahren das Wappen des russischen Konsulates Gegenstand injuriöser Kundgebungen war, erfolgte polizeiliche Massregelung der Urheber, soweit sie ermittelt werden konnten, in den oben erwähnten Auslieferungsfällen schritten die politischen Behörden und das Bundesgericht über jene Kundgebungen zur Tagesordnung (vergl. die Entscheidungen des Bundesgerichtes in diesen Fällen in Band XXXII/1 531 & XXXIII/1 169 und 403).
Daneben aber sind Ereignisse eingetreten, welche zu einem schärferen Einschreiten gegen diese unruhigen russischen Elemente nötigen, seien sie nun als Studierende oder Zuhörer an schweizerischen Erziehungsinstituten eingeschrieben oder nicht und gleichgültig, welchem Geschlechte sie angehören. Die Tatsache, dass die Belenzow, Keresselidze, Magaloff, Kilachitzky sich auf schweizerisches Territorium flüchteten, lässt wohl den Schluss zu, sie hätten Gleichgesinnte hier gekannt und auf deren Beistand gerechnet. Dass aber direkt von russischen Angehörigen in unserem Lande verbrecherische Handlungen, die auch unsere Sicherheit gefährden, geplant und ausgeführt wurden, beweist vor allem der Straffall Bilite, wo im Dezember 1905 in einem dicht bewohnten Hause und Quartiere in Genf eine verheerende Sprengstoffexplosion eintrat, in einem engen Raume, der mit russischen Studierenden beider Geschlechter angefüllt war, denen der Dr. ehem. Bilite die Anfertigung von Sprengbomben und Sprengstoffen vordemonstrierte.
Dies zeigt die Ermordung des Rentier Müllerdurch die Russin TatianaLeontiew in Interlaken, der Ausfluss politischer Agitation und politischen Wahnes.
Dies zeigt der durch zwei mit Revolvern versehene Russen ausgeführte Überfall auf die Bank in Montreuxim Sommer 1907, bei welchem durch die frechen Räuber nicht nur der Kassier der Bank, sondern auch mehrere andere Personen ermordet wurden.
Das zeigt ferner die Beteiligung des Russen Schotz an der Beschaffung von Sprengstoffen und der Anfertigung von Bomben in Zürich, die im Jahre 1907 im Fall Blatzek und Konsorten vor Bundesstrafgericht eine Rolle spielte und zur Verurteilung des Schotz wegen Übertretung von Art. 2 und 3 des Bundesgesetzes vom 12. April 1894 führte.
In den allerletzten Wochen spielt in Lausanne die Untersuchung wegen des Erpressungsversuches, welchen russische Individuen beiderlei Geschlechtes gegen ihren Landsmann Schriro inszenierten.
Ferner wurde in Genf die Entdeckung gemacht, dass grosse Summen Geldes, die von einem Raub in Tiflis herrührten, dorthin verschleppt worden sind. Die beiden Fälle sind noch pendent, aber mit aller Sicherheit wurde auch in diesem Verfahren konstatiert, dass in Lausanne und Genf eine Menge Russen existieren, die der Teilnahme an gemeinen Verbrechen dringend verdächtigt sind, die teils einzeln, teils in Gruppen vereinigt in nicht zu duldender Art anarchistische und terroristische Tendenzen propagieren.
Ein Blick in die Kontrollen über Ausweisungen von Russen aus dem Gebiete der Schweiz auf Grund von Art. 70 der Bundesverfassung vervollständigt dieses Bild, in welches nur solche Vorgänge aufgenommen wurden, bei denen die Mitwirkung von Russen ganz unzweifelhaft nachgewiesen ist. Im Mai 1889 schon gab die Explosion im Peterstobel bei Zürich, bei welcher zwei Russen anlässlich von Versuchen mit Sprengstoffen schwer verwundet wurden, den Grund zur Ausweisung von 13 Angehörigen der russischen terroristischen Partei. 1896 wurde Viktor Nakaschidze, der 6 Jahre vorher in Paris wegen Fabrikation von Sprengbomben zu nihilistischen Zwecken mit 3 Jahren Gefängnis bestraft worden, in der Schweiz im Besitze von Zeichnungen und von Anleitungen zur Herstellung von Sprengstoffen ertappt und ausgewiesen. Folgt im April 1901 die Ausweisung von 6 Russen, die an Unruhen in Genf teilgenommen, im Dezember 1903 diejenige von Bourtzeff und Krakoff, die in Genf Imprimate in russischer Sprache hergestellt und verbreitet hatten, in denen zur Ermordung des Kaisers von Russland und der hauptsächlichsten Träger der dortigen Staatsgewalt aufgefordert und Anleitung erteilt wurde. 1906 diejenige von Machlin, Bern, wegen Besitz einer Kiste mit verdächtigen Sprengstoffen; 1907 von Semenoff, Zürich, wegen Besitzes von Imprimaten revolutionären Inhaltes und einer vollständigen Anleitung zur Herstellung von Sprengstoffen.
1906 und 1907 wurden zwei Russen wegen anarchistischer Umtriebe aus der Schweiz ausgewiesen, aber auch im Jahre 1903 zwei Agenten der russischen Geheimpolizei und Ende 1907 ein solcher, welche in der Schweiz unstatthafte politische-polizeiliche Erhebungen machten.
Alle diese Tatsachen zeigen, wie notwendig eine möglichst genaue Kontrolle der russischen Niedergelassenen und Aufenthalter für die gewöhnliche und die politische Fremdenpolizei der Eidgenossenschaft und der Kantone ist. Sie beweisen leider nur zu klar, wie wenig ein Teil dieser Leute das ihnen gewährte Asyl in unserem Lande respektiert, gänzlich unbekümmert darum, ob durch ihre Handlungen die innere Sicherheit der Schweiz gefährdet und deren internationale Stellung kompromittiert wird, wie auch darum, ob den eigenen Landsleuten und ändern Fremden der Aufenthalt in der Schweiz erschwert wird.
Die nötige Kontrolle gestaltet sich schwierig, nicht nur durch die für so wenige Personen in der Schweiz verständlichen Sprachen, in denen die Ausweispapiere der russischen Immigranten und derer, die Aufnahme an den schweizerischen Universitäten und Akademien und am Polytechnikum suchen, abgefasst sind, sondern dadurch, dass so viele solcher Ausweispapiere gefälscht sind, oder von Personen benutzt werden, für die sie nicht ausgestellt wurden. Es ist notorisch, dass die Fabrikation falscher russischer Pässe als förmliches Gewerbe betrieben wird und wir sind im Falle, aus allerneuester Zeit das Zeugnis des Justiz- und Polizeidepartementes des Kantons Waadt darüber vorzulegen, dass die strengere Handhabung der Passkontrolle wegen Unvollständigkeit und Unzuverlässigkeit der präsentierten russischen Ausweispapiere die erwarteten Resultate nicht gebracht habe. Herr Cossy schreibt darüber:
«Die (von den Russen vorgelegten) Urkunden sind verschiedenartig, sowohl was die Form, als was die Eintragungen, die Unterschriften und die amtlichen Stempel anbetrifft. Oft sind die Namen schlecht geschrieben, die Vornamen unvollständig und mangelt die Übersetzung des Russischen in’s Französische oder in’s Deutsche. Niemals figurieren auf den Papieren die Namen von Vater und Mutter des Inhabers und fast immer fehlt das Geburtsdatum und die Angabe des Geburtsortes. So stehts auch mit den authentischen, von der zuständigen russischen Behörde ausgestellten Pässen. Das alles macht die Kontrolle sehr schwierig und erleichtert im Gegenteil die Fälschungen und insbesondere die Übergabe des Passes an eine andere Person als diejenige, deren Namen darin enthalten ist. Es kommt denn auch häufig vor, dass Personen Pässe entlehnen und auf diese Weise die strengsten Polizeimassregeln illusorisch machen. Es wäre absolut notwendig, zu bewirken, dass die russischen Pässe vollständigere Angaben enthalten und dass man das Visum der russischen Vertreter in der Schweiz (der Gesandtschaft) fordern dürfte, um sich über die Echtheit zu vergewissern.»
Der Chef des Waadtländischen Justiz- und Polizeidepartementes stellt sich für weitere Auskunft zur Verfügung und drückt den lebhaften Wunsch aus, dass Ihr Departement die Angelegenheit prüfe.
Wir konstatieren hier unter Hinweisung auf den Niederlassungs- und Handelsvertrag mit Russland vom 24. Dezember 1872 (A S, XI, 376), dass in demselben die in der Schweiz einwandernden Russen zwar hinsichtlich Domizil, Niederlassung, Pässen u.s.w. den Gesetzen und Verfügungen der Schweiz betreffend die Fremdenpolizei unterstellt sind, dass aber in diesem Vertrag und soweit hier bekannt ist, auch sonst bis anhin keine besondern Abmachungen über Form und Inhalt der hier zu respektierenden russischen Ausweispapiere getroffen wurden.
Die Bundesanwaltschaft ist bei diesen Vorkommnissen interessiert, weil ihr die Überwachung der politischen Fremdenpolizei und die Einleitung von Untersuchungen wegen Übertretungen der Bundesstrafgesetze obliegt. Sie erlaubt sich desshalb, das von ihr vorläufig gesammelte Material Ihrem Departemente zu unterbreiten mit dem Antrage, zur Erreichung verbesserter Zustände in erster Linie folgende Vorkehren zu treffen:
1. Die Polizeidirektionen der Kantone Zürich, Bern, Waadt, Genfund Baseldarüber anzufragen:
a. welche Ausweispapiere zur Zeit von Personen russischer Nationalität verlangt werden, die um Niederlassung und Aufenthalt nachsuchen,
b. welche Kontrolle über die Echtheit der präsentierten Ausweispapiere ausgeübt wird,
c. welche Übelstände sich bei dieser Kontrolle bisher gezeigt haben und wie denselben am besten abgeholfen werden könne,
d. ob speziell Grund vorhanden sei, durch diplomatische Schritte eine Verbesserung im Passwesen von Russland zu verlangen,
e. wie viele Personen russischer Nationalität auf Grund von Ausweispapieren sich in Ihrem Kanton aufhalten und wie viele ohne solche bei ihnen toleriert werden und unter welchen Garantien,
f. welches die offiziellen Beziehungen zwischen Polizei- und Erziehungsbehörden bezüglich der Kontrolle derjenigen Russen seien, die als Studenten oder Zuhörer die öffentlichen Bildungsanstalten besuchen.
2. Das eidg. Departement des Innern als Aufsichtsbehörde über das Polytechnikum und die Erziehungsdirektionen der oben erwähnten Kantone anzufragen:
a. welche Vorschriften betreffend die Zulassung von Ausländern und von Angehörigen russischer Nationalität als Studierende und Zuhörer an den höhern Bildungsanstalten existieren hinsichtlich der wissenschaftlichen Vorbildung und der Ablegung von Aufnahmsprüfungen,
b. ob Vorschriften bestehen, die die Aufnahme von Ausländern an die Bedingung knüpfen, dass sie von den Polizeibehörden Niederlassungs- oder Aufenthaltsbewilligung besitzen?
c. welche Übelstände sich in dem Kontrollwesen bis anhin gezeigt haben, deren Beseitigung durch diplomatische Verhandlungen möglich und wünschbar wäre,
d. wie viele russische Studierende und Zuhörer männlichen und weiblichen Geschlechtes im laufenden Semester die höhern kantonalen Bildungsanstalten besuchen.
Wir überlassen es gerne Ihnen, diese Fragen gutfindend zu ergänzen und darüber Beschluss zu fassen, ob nach Eingang derselben allfällig unter Ihrem Vorsitz eine Konferenz der interessierten Behörden behufs Vereinbarung gleichartigen künftigen Vorgehens stattfinden solle. Desgleichen enthalten wir uns absichtlich in diesem Stadium eines Antrages darüber, wie die Passkontrolle im Verhältnisse zu Russland verbessert werden könnte, da in dieser Beziehung erst die Berichte der Kantone vollständige Grundlage geben werden und es sich um eine Angelegenheit rein politischer Natur handelt, welche die Bundesanwaltschaft nicht direkte berüht.
- 1
- Bericht: E 21, Archiv-Nr. 14019.↩
- 2
- Für die Tabelle vgl. dodis.ch/43068. Pour le tableau, cf. dodis.ch/43068. For the table, cf. dodis.ch/43068. Per la tabella, cf. dodis.ch/43068.↩
- 3
- Für die Tabelle vgl. dodis.ch/43068. Pour le tableau, cf. dodis.ch/43068. For the table, cf. dodis.ch/43068. Per la tabella, cf. dodis.ch/43068.↩
- 4
- Für die Tabelle vgl. dodis.ch/43068. Pour le tableau, cf. dodis.ch/43068. For the table, cf. dodis.ch/43068. Per la tabella, cf. dodis.ch/43068.↩
- 5
- Für die Tabelle vgl. dodis.ch/43068. Pour le tableau, cf. dodis.ch/43068. For the table, cf. dodis.ch/43068. Per la tabella, cf. dodis.ch/43068.↩
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