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Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 5, doc. 149
volume linkBern 1983
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E27#1000/721#19850* | |
Old classification | CH-BAR E 27(-)1000/721 4861 | |
Dossier title | Beitritt der Schweiz zu den Haager Vereinbarungen von 1899 und 1907, Bd 1 - 2 (1899–1914) | |
File reference archive | 10.C |
dodis.ch/43004
Der Chef der Generalstabsabteilung, Th. von Sprecher, an den Vorsteher des Militärdepartementes, E. Müller1
Durch Überweisung vom 21. September 06 geben Sie mir Anlass, mich über die Einwendungen auszusprechen, welche das Tit. politische Departement2 gegen die Begründung erhoben hat, mit der ich s. Z. den Antrag auf den Beitritt der Schweiz begleitete. Der Umstand, dass das tit. politische Departement zu dem Schlüsse gelangt, der Beitritt empfehle sich, trotzdem einzelne der von mir aufgeführten Gründe in seinen Augen sich als nicht stichhaltig ausnehmen, sollte im Grunde nur der Überzeugung Nahrung geben, dass das Interesse der Schweiz den Beitritt verlange. Überdies aber glaube ich, müssen bei näherer Betrachtung einzelne der erhobenen Einwendungen eine merkliche Abschwächung erfahren.
1. Die Auseinandersetzungen des politischen Departements laufen im Wesentlichen auf eine Argumentation e contrario hinaus: «Weil in Art. 2 (neues Reglement) das Recht des Kriegführenden nur der Bevölkerung im nicht occupierten Gebiet zugestanden sei, so ergebe sich logischerweise, dass im occupierten Gebiet dies nicht der Fall sein solle, und dass diese Auffassung ipso facto von den Vertragschliessenden anerkannt worden sei.» Hier liegt m. E. der Irrtum.
Es ergiebt sich aus dem Brüsseler wie aus dem Haager Protokolle, dass in Bezug auf diesen Punkt die Ansichten der Delegierten sich stracks entgegenstanden; darüber besteht kein Zweifel.
Für die richtige Beurteilung des schliesslichen Resultates der Diskussion gilt es aber folgende Tatsachen im Auge zu behalten:
a. Die Konferenz hat weder im Sinne der «Starken» noch in dem der «Schwachen» entschieden.
b. Sie hat die Argumentation e contrario nicht zugelassen. Vgl. meine erste Eingabe betr. Voten Blanc, Lambermont, v. Martens.
c. Die Erhebung im occupierten Gebiete gehört zweifelsohne zu den im Abkommen nicht vorgesehenen Fällen und für diese gilt die Martens’sche Erklärung, die ohne Widerspruch in das Schluss-Protokoll aufgenommen wurde. Sie besagt: es liege nicht in der Absicht der Konferenz, dass die nicht vorgesehenen Fälle... der willkürlichen Beurteilung der militärischen Befehlshaber überlassen sei... sie unterliegen vielmehr ebenfalls den Gesetzen des Völkerrechtes. In diesem Sinne sind insbesondere die von der Konferenz angenommenen Art. 1 und 2 zu verstehen.
Das politische Departement findet nun diese Erklärung habe keinen ändern Wert als den einer schönen Phrase. Demgegenüber erlaube ich mir zu fragen: hat eine solche von der Konferenz ohne Widerspruch in den Schlussakt aufgenommene Erklärung für das Völkerrecht nicht mehr Wert als die einseitigen Äusserungen einzelner Vertreter von Grossstaaten, die zudem Schritt für Schritt auf Widerspruch stiessen? Es fällt mir nicht ein zu behaupten, dass damit unsere Ansicht betr. die Rechte der Volkserhebung von der Konferenz in allen Teilen sanktioniert worden sei; - soviel aber ergiebt sich jedenfalls daraus, dass die Konferenz sich nicht im Sinne der Grossstaaten ausgesprochen hat, welche die Volkserhebung durch Reglementierung einschränken wollten. Man beachte die Ablehnung des weitgehenden Antrages Schwarzhoff betr. die kriegsgerichtliche Aburteilung der Teilnehmer am Volksaufstande. Treten wir dem Abkommen bei, so haben wir ein Recht, uns gegenüber den Ansprüchen des Invasors hierauf zu berufen - andernfalls nicht.
Übrigens ist die von Martens’sche Erklärung z. B. in extenso aufgenommen in die Sammlung der auf Heer und Flotte bezüglichen Gesetze und Verordnungen des deutschen Reichs (München, Beck, 1906, S. 749 ff.), und wir werden gut tun, dem Beispiel event, zu folgen. Im Grunde aber ist die Frage, auf die es ankommt nur die: Geben wir durch den Beitritt zu, dass im occupierten Gebiete das sich erhebende Volk, wenn es die Erfordernisse von Art. 1 nicht erfüllt, der Rechte des Kriegführenden verlustig gehe. - Dass dies nicht der Fall ist, ergiebt sich ohne weiteres aus der Unstatthaftigkeit der Argumentierung a contrario wie sie oben nachgewiesen wurde. Damit ist aber der einzige Grund beseitigt, der anno 1899 den Nichtbeitritt der Schweiz veranlasste.
2. Das politische Departement spricht sodann die Ansicht aus, wir hätten das Recht, uns auf die humanen Bestimmungen der Haager Konvention zu berufen, auch wenn wir nicht beitreten, denn die Konvention habe nur bestehendes Völkerrecht codifiziert. - Dieser Auffassung kann ich mich in keiner Weise anschliessen. Wenn dem so wäre, was hätte dann die Grosszahl der civilisierten Staaten veranlasst beizutreten? Es ist aber auch etwas ganz anderes, wenn man sich auf bestimmtes, geschriebenes, vertraglich festgelegtes Völkerrecht berufen kann, als wenn die Berufung nur möglich ist auf ein in der Luft schwebendes, theoretisches, vielfach umstrittenes Völkerrecht. Das giebt das Gutachten des politischen Departements übrigens am Schlüsse selbst zu. Die Erfüllung der Bedingungen um als kriegführend behandelt zu werden wird durch den Beitritt zudem wesentlich erleichtert, indem man sich alsdann vor bestimmte und erfüllbare Vorschriften gestellt sieht, während das ungeschriebene Völkerrecht einem vielfach im Dunkeln lässt über die Forderungen, denen man sich anzupassen hat. In Bezug auf die Organisation des Wehrwesens ist dieser Vorteil nicht gering zu schätzen.
3. Was die Bündnisfähigkeit anlangt, und deren Abhängigkeit vom Beitritt zur Haager Konvention, so erlaube ich mir nur auf Art. 2 des Abkommens zu verweisen, der also lautet: «Die Vorschriften der in Art. 1 genannten Bestimmungen sind für die vertragschliessenden Teile nur bindend im Fall eines Krieges zwischen zwei oder mehreren von ihnen.»
Diese Bestimmungen hören mit dem Augenblicke auf verbindlich zu sein, wo in einem Kriege zwischen Vertragsmächten eine Nichtvertragsmacht sich einer der Kriegsparteien anschliesst. - Ist es nun glaubhaft, dass ein Grossstaat sich der Vorteile des Reglements begebe, um mit uns ein Bündnis abzuschliessen? Wird nicht unsere Zugehörigkeit zu den Vertragsmächten von vorneherein die Bündnisfähigkeit wesentlich erhöhen?
Wenn das politische Departement sich sodann damit beruhigt, dass dem Übelstande jeden Augenblick durch eine Zuschrift an die niederländische Regierung abgeholfen werden könne, so dürfte man sich doch fragen, weshalb den Beitritt verschieben bis die Not dazu zwingt und eine ruhig überlegte Schlussnahme kaum mehr möglich erscheint, wenn man ihn doch in Aussicht nimmt? Und zudem, wer garantiert uns dafür, dass die Ereignisse nicht einen Verlauf nehmen, der zu den raschesten militärischen Massnahmen zwingt und soweit irgend möglich die vorgängige Beseitigung aller Hindernisse höchst wünschbar macht? Der Beitritt ist überdies auch erst rechtswirksam, nachdem das betr. Schreiben (gemäss Art. 4 der Konvention) allen Vertragsmächten mitgeteilt worden ist.
4. Ich komme endlich noch auf diejenige klare und positive Bestimmung des Haager Reglements zu sprechen, die allein und abgesehen von dem Sinne, den man ändern Artikeln geben mag, uns veranlassen sollte dem Vertrage beizutreten, den Art. 1. Tritt man an eine Prüfung dieses Artikels heran, so muss man sich vorab darüber entscheiden, ob man für die Verteidigung des Vaterlandes alle Mittel in Anspruch nehmen oder ob man sich aus Humanitätsrücksichten gewisse Beschränkungen auferlegen will. Wer auf dem ersteren Standpunkt steht, wird nicht nur das Haager Reglement, sondern jede Umgränzung der Verteidigung ablehnen. Er muss sich aber sagen, dass er damit nicht nur dem Verteidiger, sondern ganz ebenso dem Angreifer die vollständig freie Wahl der Kampfmittel einräumt. - Ich glaube nicht, dass Viele in unserm Lande diesen extremen Standpunkt, wonach der gute Zweck alle Mittel heiligt, einnehmen, und zwar um so weniger, als die äussersten Mittel in letzter Linie dem Zwecke doch nicht dienen. Es würde eine solche Theorie in ihren praktischen Konsequenzen geradezu zur Ausrottung des Volkes führen, eine Grenze bis zu der auch die ruhmvollste Volksverteidigung in historischer Zeit nie geschritten ist. Beispiele anzuführen ist wohl überflüssig.
Ich glaube also annehmen zu dürfen, dass die grosse Mehrheit unseres Volkes und seiner Behörden gewillt ist, den Volkskrieg nicht als schrankenloses Morden und Zerstören vorzusehen, sondern dass auch dieser in den Schranken der Kriegsgebräuche der Neuzeit geführt werden soll. Diese Schranken bezeichnet nun im wesentlichen der Art. 1 des Abkommens und neben seiner Bedeutung tritt die der übrigen Artikel wesentlich in den Hintergrund.
Je genauer man nun Inhalt und Tragweite dieses Artikels prüft, desto mehr muss man zur Überzeugung kommen, dass er einen gangbaren und festen Boden für die kräftigste, opferfreudigste Landesverteidigung schafft, eine wertvolle Errungenschaft gegenüber der völkerrechtlichen Willkür, wie sie sich noch anno 70/71 geltend machte. Und dabei ist besonders zu beachten, dass unter diesen Bedingungen die Kämpfer im okkupierten wie im nicht okkupierten Lande die Rechte der Kriegführenden besitzen. Der Artikel legt uns in Bezug auf die Erziehung und Organisation des ganzen Volkes zum Zwecke der Landesverteidigung im Grunde gar keine Schranken auf, die wir uns nicht ohnedies selbst stellen müssten. Erziehung und Organisation sind eben unerlässliche Vorbedingungen eines Kampfes, der in unserer Lage nicht von vorneherein als erfolglos angesehen werden müsste und am Ende noch durch seine ungenügende Vorbereitung unsere Ehre gefährden würde. Die Ehre gebietet wohl, dass wir nicht ängstlich die Gefahr abmessen, der wir durch die Aufnahme des Kampfes entgegen gehen, nicht aber dass wir die. Massen kopflos und unvorbereitet in einen aussichtslosen Kampf senden. Ich habe bereits in meinem ersten Gutachten es ausgesprochen, dass wir die Erfüllung der Bedingungen des Art. 1 leicht werden für den Kriegsfall sicher stellen können, wenn Behörden und Volk die Mittel dazu gewähren. Ist das nicht der Fall, so bleibt nur die Annahme übrig, man wolle den Zweck nicht; dann allerdings kann man sich den Beitritt zum Haager Abkommen nebst vielem anderm ersparen. Die Lösung hängt aber vor allem davon ab, wie man sich zur Frage der Massenerhebung resp. des Massenaufgebots stellt. Es fällt dabei ganz besonders in Betracht, dass nicht jede Vermehrung der Streiterzahl auch eine Steigerung der Kraft und der Aussichten des Erfolges mit sich bringt. Die Streiter, deren Tätigkeit in die Waagschale fällt, wollen gekleidet, genährt, mit Munition ausgerüstet und zweckmässig geführt sein; sie müssen auch das Gewehr zu handhaben wissen und Mannszucht beweisen. Sobald die Art oder die Zahl der Kämpfer die eine dieser Bedingungen ausschliesst, ist man an der Grenze angelangt, jenseits von welcher der Schaden den Nutzen für das Ganze überwiegt. Ich glaube deshalb nicht, dass wir in Bezug auf die Herbeiziehung der Landsturmjahrgänge zu den organisierten Kampfeinheiten weiter gehen dürfen, als es dermalen und in der neuen M. O. vorgesehen ist3. Der Teilnahme von Freiwilligen an der aktiven Landesverteidigung ist keine andere Grenze als die der körperl. Leistungsfähigkeit und der Schiessfertigkeit gesteckt, Grenzen, die im Interesse der Sache eingehalten werden müssen. Gewehre neuester Ordonnanz sind in ausreichender Zahl zur Verfügung; deren Verbringung in die Gemeinden wird keine Schwierigkeiten bieten. Als Abzeichen gemäss Ziff. 2 eignet sich, neben dem vorschriftsmässigen Landsturmhut, der Kaput, den alle besitzen, die im Auszuge gedient haben; die Reserve für die übrigen aber ist dermalen unzureichend. Munition dürfte nach der neuen Vorschrift genügend vorhanden sein. Die Verpflegung wird stets Sache der einzelnen Detaschemente sein und wenn diese wie vorgesehen, klein sind, wird sie keine Schwierigkeiten machen. Niemals aber wird man daran denken dürfen, die Führung dieser Landsturmabteilungen der Feldarmee zu überbinden, oder diese mit der Sorge für Ausrüstung, Verpflegung und Unterkunft des Landsturms zu belasten.
Übrigens gibt das Haager Reglement nicht nur den Bewaffneten, sondern auch den Unbewaffneten (Nichtkombattanten) das Recht der Kriegführenden
(s. Art. 3) wenn sie den Vorschriften des Art. 1 nachkommen. Bekanntlich ist unser unbewaffnete Landsturm wenigstens auf dem Papier organisiert. Zu dessen wirklicher Kriegsbereitschaft bedarf es allerdings noch mancher Vorsorge, die aber ohne Belastung der Leute und der Finanzen nicht getroffen werden kann.
Es liegt m. E. überhaupt nur an uns selbst, wie weit wir uns schon im Frieden den
Forderungen des Art. 1 anpassen wollen. Im Art. selbst finde ich keinerlei
Hindernis. Ich habe diese Fragen hier gestreift, weil das Tit. politische Departement sie am Schlüsse seines Berichtes aufgeworfen hat. Eine gründliche Behandlung von praktischen Gesichtspunkten aus wird sich nach Inkrafttreten der neuen
M. O., welche andere Grundlagen dafür schafft, von selbst aufdrängen. Der gegenwärtige Zeitpunkt eignet sich für bestimmte Vorschläge entschieden nicht4.
- 1
- E 27 Archiv-Nr. 19850, Bd 1. Haager Übereinkommen von 1899.↩
- 2
- Vgl. Nr. 145.↩
- 3
- Die neue Militärorganisation wurde von der Bundesversammlung am 12. April 1907 beschlossen und vom Bundesrat am 2. Dezember 1907 in Kraft gesetzt (AS 1907, NF 23, S. 781 ff.).↩
- 4
- Das Militärdepartement schloss sich den Auffassungen der Generalstabsabteilung an. Vgl. Nr. 150.↩
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Hague Peace Conferences (1899 and 1907)