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Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 5, Dok. 123
volume linkBern 1983
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Archiv | Schweizerisches Bundesarchiv, Bern | |
▼ ▶ Signatur | CH-BAR#E2001A#1000/45#552* | |
Alte Signatur | CH-BAR E 2001(A)1000/45 45 | |
Dossiertitel | Nr. 471. Allgemeines (1904–1907) | |
Aktenzeichen Archiv | B.231-2 |
dodis.ch/42978
Mit Schlussnahme vom 10. April 19062 haben Sie das Unterzeichnete Departement eingeladen, die Fragen militärischer Natur, die das Programm der geplanten zweiten Friedenskonferenz enthält, zu begutachten und Ihnen insbesondere darüber Bericht zu erstatten, ob die Schweiz der Übereinkunft betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges, vom 29. Juli 1899, beitreten solle oder nicht. Dabei haben Sie darauf verwiesen, dass der Bundesrat aus den in seiner Botschaft vom 22. Mai 19003 dargelegten Gründen diese Übereinkunft nicht unterzeichnet hat, dass aber in der Bundesversammlung sowie in der Presse hierüber Bedenken geäussert worden sind: die Schweiz könne sich nicht von der übrigen civilisierten Welt isolieren; man werde sie, wenn sie die Übereinkunft nicht annehme, als vogelfrei erklären u.s.w. Da die Schweiz auf der zweiten Friedenskonferenz im Haag wiederum vor diese Frage gestellt sein wird, so erachten Sie es für angezeigt, letztere vom militärischen Standpunkte aus einer erneuten Prüfung zu unterziehen.
Wir haben hierauf Ihrem Aufträge gemäss die Generalstabsabteilung mit der Abfassung eines diesbezüglichen Berichtes betraut. In seinem Gutachten4 macht der Chef dieser Abteilung, Herr Oberstdivisionär von Sprecher, in erster Linie darauf aufmerksam, dass schon sein Vorgänger im Amte, Herr Oberst Keller, vor einiger Zeit in einer für den Mobilmachungsfall vorbereiteten Denkschrift5 sich des bestimmtesten dafür ausgesprochen hat, dass die Schweiz der vorerwähnten Übereinkunft vom 29. Juli 1899 beitreten sollte, und dass derselbe für den Fall eines Konfliktes einen entsprechenden Antrag gestellt hat. Herr Oberst von Sprecher erklärt, der Denkschrift seines Vorgängers, welche in Abschrift beiliegt, in allen wesentlichen Stücken beipflichten zu können und möchte sogar den Gründen gegen den Nichtbeitritt sowie für den Beitritt zur Haager-Konvention ein noch grösseres Gewicht beilegen, als es in der erwähnten Schrift geschieht.
Bekanntlich war es allein die Behandlung der Volkserhebung in dem vom Feinde beherrschten Gebiete, welche unsere Delegation im Haage und den Bundesrat abhielt, dem Schlussabkommen beizutreten. Man gieng dabei von der Anschauung aus, der Beitritt käme dem Zugeständnis gleich, dass die Bevölkerung, welche sich im occupierten Gebiete gegen den Occupanten erhebt, kriegsrechtlich abgeurteilt werden dürfe, also jeden Anspruches auf die Behandlung als «kriegführend» (belligérante) verlustig gehe. Herr Oberst Keller ist offenbar noch dieser Ansicht gewesen; trotzdem erachtete er die durch die Konvention für den Volkskrieg geschaffene völkerrechtliche Lage als durchaus annehmbar. Im jüngsten Gutachten gelangt die Generalstabsabteilung auf Grund einer eingehenden Untersuchung der in den Protokollen niedergelegten Verhandlungen, welche in Brüssel und im Haag über diesen Punkt sowie über die Tragweite der Beschlüsse überhaupt gepflogen worden sind, zur Überzeugung, dass die Lage für die Kleinstaaten noch merklich günstiger ist, als bis jetzt angenommen wurde. Wir stünden demnach vor folgenden Tatsachen:
a) Wer den Anforderungen des Art. 1 des Haager-Reglements6 entspricht, wird als Kriegführender betrachtet, ohne Rücksicht auf feindliche Occupation oder Nichtoccupation des Landes.
b) Im nichtoccupierten Lande wird das sich erhebende Volk als kriegführend behandelt, wenn es nur im Allgemeinen die Gesetze und Gebräuche des Krieges achtet.
c) Wie die Erhebung in einem vom Feinde beherrschten Landesteile zu behandeln sei, darüber bestehen einstweilen keine bindenden Vorschriften, weder im Sinne der einen noch der ändern Auffassung. Zur Begründung dieser Annahme lassen sich sowohl die einleitenden Erklärungen in der Konvention selbst als auch der von der Konferenz auf den Vorschlag des Präsidenten von Martens am 20. Juni 1899 behufs Auslegung der Artikel 9 und 10 des Entwurfes (Art. 1 und 2 des Reglements) angenommene «acte officiel» anführen (Haager Protokoll, II. Teil, Seiten 151-159). Durch den Beitritt zur Konvention würden wir somit nach der Auffassung des Chefs der Generalstabsabteilung keineswegs anerkennen, dass die Volkserhebung im besetzten Gebiete ausserhalb des Völkerrechts gestellt sei, sondern es würde in diesem Punkte nichts präjudiziert. Die genannte Abteilung führt sodann weiter aus, dass es im Interesse jeder erfolgreichen Kriegführung, also auch des eigentlichen Volkskrieges liege, den Bedingungen des Art. 1 des durch die Konvention aufgestellten Reglements, insbesondere auch was das Requisit eines verantwortlichen Kommandos anbelangt, nachzuleben. Eine Erhebung in dem vom Feinde besetzten Gebiete, welche eines Führers entbehrt, sei aussichtslos und werde sich in ihren grausamsten Konsequenzen gegen die Teilnehmer des Unternehmens selbst kehren7. Was jedoch der Generalstabsabteilung noch als ein durchaus entscheidender Grund für den Beitritt zur Konvention erscheint, das sind die Folgen welche der Nichtbeitritt für die Schweiz nach sich zieht. Diese letztem bestehen in der Tat darin, dass wir keinen Anspruch auf die zahlreichen humanen Bestimmungen der Haager Konvention beziehungsweise ihres Reglements erworben haben, ohne dafür irgend einen Vorteil einzutauschen. Nicht nur wird in diesem Falle die Volkserhebung im occupierten Landesteil derselben Behandlung, sei sie mehr oder weniger streng, unterworfen werden wie im Falle der Annahme der Konvention, sondern wir können uns überhaupt nicht auf die Vorschriften der letzteren berufen. Überdies dürfte unsere Allianzfähigkeit ernstlich in Frage gestellt sein8. Die Generalstabsabteilung gelangt daher zum Vorschläge, es möchte der Beitritt der Schweiz zur Übereinkunft vom 29. Juli 1899 betreffend das Landkriegsrecht erklärt werden, und zwar möchte mit dieser Erklärung nicht bis zum Eintritt einer Kriegsgefahr zugewartet weden. Dieser Vorschlag ist von der schweizerischen Landesverteidigungskommission in ihrer Sitzung vom 9. dies einstimmig angenommen worden, immerhin in der Meinung, dass der Bundesrat bei Erklärung des Beitritts noch speziell auf die im Eingang zur Konvention betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges vom 29. Juli 1899 enthaltene Erklärung (pag. 120 der Botschaft des Bundesrates vom 22. Mai 1900) Bezug nehmen solle9.
Ist die Frage des Beitritts im Sinne dieses Vorschlages erledigt, so dürfte die Schweiz auch eher Aussicht darauf haben, dass ihre Stimme bei den bevorstehenden neuen Beratungen gehört werde, und es ist wohl möglich, dass die zweite Friedenskonferenz Anlass bieten wird, Anträge im Interesse unserer Landesverteidigung zu stellen. Die Generalstabsabteilung wird, sobald wir das für die neue Konferenz aufgestellte artikulierte Projekt erhalten haben werden, ihre bezüglichen Anträge stellen10.
In Umfassung des Angebrachten beehren wir uns, Ihnen zu beantragen, es möchte der Bundesrat, unter Bezugnahme auf die im Eingang zur Konvention betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges enthaltene Erklärung, der Bundesversammlung den Antrag unterbreiten, schon jetzt und nicht erst bei herannahender Kriegsgefahr der Konvention betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges, vom 29. Juli 1899, beizutreten.
Wenn der Bundesrat diesem Antrage beistimmt, so wäre die Angelegenheit behufs Ausarbeitung einer Botschaft an die Bundesversammlung mit den sämtlichen Akten dem politischen Departemente zu überweisen.
- 1
- E 2001 (A), Archiv-Nr. 471. Zweite Friedenskonferenz.↩
- 2
- Nr. 118.↩
- 3
- BBI 1900, III, S. Iff.↩
- 4
- Gutachten zu Händen des Militärdepartementes vom 30.4.1906 (E 2001 (A), Archiv-Nr. 465).↩
- 5
- Nicht ermittelt.↩
- 6
- Französischer Originaltext und deutsche Übersetzung der Konvention des beigefügten Réglementes in: AS, 1907, NF 23, S. 261 ff.↩
- 7
- Der Entwurf (Mai 1906) zu diesem Antrag führt weiter aus: [...] Die geographische Konfiguration unseres Landes zwingt uns, einige exzentrische Gebietsteile gleich von Beginn der Feindseligkeiten an preiszugeben, weil sie nicht verteidigt werden können und weil eine allzu grosse Zersplitterung unserer Kräfte verhängnisvoll wäre. In einer solchen vorübergehenden Preisgabe von Gebiet liegt keinerlei Verzicht, und wenn wir nur auf den Punkten der Entscheidung stark genug sind, so wird unser Territorium beim nachherigen Friedensschlüsse keinen Schaden nehmen. Allein soll nun wirklich unter den Auspizien des Bundesrates in den von uns zeitweilig aufgegebenen und vom Gegner occupierten Grenzgebieten sofort ein wilder Guerillakrieg entbrennen? Soll wirklich die Bevölkerung dieser Gebiete unter Berufung auf eine angeblich altschweizerische Tradition zu einem regellosen Kampfe bis aufs Messer gegen die occupierende Armee aufgestachelt werden? Ist wirklich ein solcher fanatischer Parteigängerkrieg aus dem Hinterhalte und mit verdeckten Waffen eine patriotische Pflicht dieser Grenzbevölkerung, während eventuell unsere Feldarmee noch intakt, ohne nur geschlagen zu haben, an einer rückwärtigen (strategischen) Barriere steht?[...] (E 27, Archiv-Nr. 19850/1).↩
- 8
- Im Antragsentwurf vom Mai 1906 heisst es: Bei der gegenwärtigen Weltlage muss die Schweiz sich die Möglichkeit, eine Allianz zu schliessen, unter allen Umständen offen halten (E 27, Archiv-Nr. 19850/1).↩
- 9
- Oberstkorpskommandant E. Fahrländer vertrat in dieser Sitzung die Auffassung: Unser Volk ist nicht so erhebungslustig, als man gewöhnlich annimmt; übrigens fehlen uns sowohl die Leute dazu, wenn Auszug, Landwehr und Landsturm im Felde stehen, als auch die Mittel, denn es wird in dem vom Feinde besetzten Lande kaum genügende Munition vorhanden sein. Es wäre ein Glück für uns, wenn wir unser Volk vor einer Erhebung bewahren könnten. Wir haben alle Ursache die Konvention anzunehmen (E 27, Archiv-Nr. 19850, 1). Zur Berücksichtigung der erwähnten Erklärung vgl. Nr. 150, Anm. 4.↩
- 10
- Diesbezügliche Anträge sind in der Folge nicht feststellbar.↩
Tags
Haager Friedenskonferenzen (1899 und 1907)