Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
II. BILATERALE BEZIEHUNGEN
16. Russland
16.3. Revolution von 1905
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 5, doc. 99
volume linkBern 1983
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2001A#1000/45#1703* | |
Old classification | CH-BAR E 2001(A)1000/45 244 | |
Dossier title | Revolution in Russland (und Polen) von 1905 und Schutz der Schweizer. Darin v.a.: Berichte, Schutz der Schweizer durch Deutschland; Schadenersatzforderungen; Evakuationsfragen (1905–1906) | |
File reference archive | D.121-07 |
dodis.ch/42954 Der schweizerische Konsul in Kiew, C. Würgler, an den Bundes Präsidenten und Vorsteher des Politischen Departementes, M. Ruchet1
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Die gegenwärtige Bewegung, die sich über ganz Russland ausgebreitet hat und sich in den Städten durch grössere und kleinere, von Zeit zu Zeit ein tretende Unruhen, grössere Streiks etc. characterisirt, auf dem Lande aber in Raub, Vernichtung & Einäscherungen des Eigentums der Gutsbesitzer etc. ausartet, hat die auswärtigen Regierungen in grosse Besorgnis um ihre Staatsangehörigen versetzt. Die meisten Mächte haben auch nicht versäumt, bei dem russischen Ministerium des Äussern, behufs Aufklärung über die Lage und die zum Schutze ihrer Staatsangehörigen zu ergreifenden Massregeln, vorstellig zu werden. Dieser gemeinsam auf die Regierung ausgeübte Druck hatte zur Folge, dass letzthin an alle Gouverneure die stricte Order erging, den Ausländern, bei eintretenden Unruhen, den nötigen Schutz angedeihen zu lassen, woraufhin die Gouverneure, ihrerseits, die Consulate schriftlich ersuchten, ihnen die genauen Adressen ihrer Landsleute namhaft zu machen. Ich für meinen Teil habe in den hiesigen, sowie in einer Charkower Zeitung, Annoncen einrücken lassen, mit der Aufforderung an alle Schweizerbürger um Aufgabe ihrer genauen Adressen. Die Adressen-Liste der in Kiew lebenden Schweizerbürger und -bürgerinnen (118 an der Zahl) habe ich dem hiesigen Gouverneur bereits eingereicht; auf die Charkower Annonce dagegen sind mir, durch beinahe völlige Isolierung dieser Stadt, infolge anhaltender Streike und Unruhen, noch keine Nachrichten zugekommen.
Des weitern erklärte ich allen Landsleuten, dass obwohl - laut Convention - die Russische Regierung verpflichtet ist, für die persönliche Sicherheit, sowie diejenige des Eigentums der sich in Russland aufhaltenden Schweizerbürger und -bürgerinnen, volle Garantie zu leisten, es dennoch unbestimmt ist, wie weit solche in den gegenwärtigen revolutionären Zeiten, z. B. für körperliche Verletzungen, geht und empfehle desshalb allen Landsleuten, bei Unruhen sich nicht auf die Strasse zu begeben und von Ansammlungen fern zu halten. Für den Fall aber, dass körperliche Verletzungen unserer Landsleute dennoch Vorkommen sollten, verlange ich von denselben 1. ärztliche Atteste über die Art der Verletzung, 2. klare Beschreibung des Sachverhalts und womöglich 3. Zeugen-Bescheinigung des Vorgefallenen; bei materiellen Schäden 1. die Aufführung aller beschädigten Waren, Effecten etc. und Bescheinigung der Thatsache durch möglichst competente Zeugen. Derartige Schadensersatzforderungen an die russische Regierung werde ich dann, solange die Schweizerische Gesandtschaft in St. Petersburg nicht errichtet ist, Ihnen zur weitern Beförderung einreichen.
Was grössere Unruhen in meinem Consularbezirk anbetrifft, so sind bis jetzt die ernstesten in Charkow vorgekommen; in welchem Masstabe jedoch dieselben dort die Schweizerbürger gefährdeten, konnte ich, infolge Isolierung der Stadt von allen Verkehrsmitteln, bis jetzt nicht in Erfahrung bringen und ist es auf alle Fälle ein Fehler der dortigen Schweizerkolonie gewesen, dass sie mich nicht auf die bevorstehenden Gefahren rechtzeitig aufmerksam gemacht hat. Ich hätte sofort die nöthigen Massnahmen beim dortigen Gouverneur getroffen, wie dies in Kiew geschehen ist, wo bei allen ernsteren Gerüchten über bevorstehende Unruhen sofort beim Gouverneur Aufschluss erfragt wird. -
Eine grössere Schädigung erlitt bisher der Schweizerbürger August von Schulthess, Pächter der Chruszczower Ökonomie, Poststation Krasnopolje, Charkower Gouvernement, bei dem mehrfache Bauernüberfälle vorkamen wobei ca. 4000 Pud Heu, 4000 Pud Haferstroh, Getreide, diverse andere Produkte, Materialien und Inventar gewaltsam von den Bauern mitgenommen wurde. Herr von Schulthess, sowie auch ich sind diesbezüglich beim Charkower Gouverneur vorstellig geworden, jedoch, leider, ohne Erfolg, indem er über zu wenig Truppen verfügt, um auf alle bedrohten Güter den nötigen militärischen Schutz zu entsenden. Herr von Schulthess wird daher eine Schadenersatzforderung einreichen, die wir Ihnen nach Erhalt weitergeben werden.2
Die Frage, ob der Moment gekommen sei, russischen Boden zu verlassen, ist schwer zu beantworten, dürfte jedoch, meines Erachtens, der Entscheidung noch nicht genügend nahe gekommen sein. Wie die jüngsten grossen Unruhen wieder zeigten, ist die Regierung, Dank der Standhaftigkeit des Militärs, doch noch stark genug, dieselben zu unterdrücken, obschon es sich frägt, für wie lange; denn trotz Repressalien, Militärdiktatur etc. wird sich das reaktionäre System nicht mehr lange halten und dem Lande auch keine geregelten Zustände mehr verschaffen können. - Allerdings wird die Regierung gezwungenermassen im letzten Momente wieder Concessionen zugestehen, das Volk hat aber das Zutrauen schon lange verloren und wird sich nicht mehr mit leeren Versprechungen, sondern nur noch mit Taten begnügen. Im Allgemeinen darf über die Situation gesagt werden, dass so ohnmächtig die Regierung auf der einen Seite ist, so unentschlossen, uneinig und unorganisirt handeln auf der ändern Seite die vielfachen Reformparteien, sodass es nicht vorauszusehen ist, ob es überhaupt und wann zum Ausbruch einer allgemeinen Revolution kommt. -
Dass es - aus diesem Grunde - den meisten Ausländern schwer fällt, Russland jetzt schon zu verlassen, ist begreiflich, denn die wenigsten sind in der Lage ihre Geschäftsangelegenheiten momentan liquidiren zu können. Zudem darf man mit Bestimmtheit erwarten, dass nach Legung der Unruhen und mit dem Eintreten geregelter Zustände, ein grosser Aufschwung in Handel und Industrie eintreten wird. Jedenfalls gemessen die hier ansässigen Ausländer mehr Schutz und sind den Gefahren weniger ausgesetzt als die Landesangehörigen selbst.
Indem ich Ihnen dies über die gegenwärtige Lage der Dinge berichte, erlaube mir gleichzeitig bei Ihnen anzufragen, wann die Schweizerische Gesandtschaft in St. Petersburg, deren Gründung bereits beschlossen ist, ihr Amt antreten wird, da sie gerade in den gegenwärtigen Zeiten wertvolle Dienste zu leisten im Stande wäre.
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