Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
II. BILATERALE BEZIEHUNGEN
19. Vereinigte Staaten von Amerika
19.1. Handelsbeziehungen
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 5, doc. 80
volume linkBern 1983
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E13#1000/38#514* | |
Old classification | CH-BAR E 13(-)1000/38 95 | |
Dossier title | Vorschlag der amerikanischen Gesandtschaft auf Grundlage des Abschnittes 3 des amerikanischen Zolltarifgesetzes von 1897 eine Handelsübereinkunft abzuschliessen; Proklamation des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika über die Anwendung der in der Sektion 3 des amerikanischen Zolltarifgesetzes festgesetzten Zollbegünstigungen auf die Schweiz vom 01.01.1906; Bundesratsbeschluss vom 30.06.1905 betr. Zulassung der Erzegnisse aus den Vereinigten Staaten von Amerika zu den gleichen Zöllen wie diejenigen eines anderen meistbegünstigten Landes (1905–1906) |
dodis.ch/42935
Antrag des Vorstehers des Handels-, Industrie- und Landwirtschaftsdepartementes, A. Deucher, an den Bundesrat1
[...]2Nach den vorstehenden Ausführungen müssten wir nun offenbar dazu gelangen, den Vorschlag des amerikanischen Gesandten ohne weiteres abzulehnen, wenn nicht ein anderer Umstand, nämlich die Rücksichten auf unsere grossen Exportindustrien, insbesondere die Stickerei, für die die Ver. Staaten ein Absatzgebiet allerersten Ranges sind, für unser zollpolitisches Verhalten diesem Lande gegenüber von grosser, ja von ausschlaggebender Bedeutung wäre. In den Kreisen der genannten Industrien ist man seit 1900, d. h. seit der Anwendung unseres Generaltarifes auf amerikanische Erzeugnisse, in ständiger Besorgnis, es könnte den Ver. Staaten eines Tages plötzlich einfallen, Repressalien gegenüber der Schweiz zu ergreifen, und diese Besorgnis ist erklärlich und auch nicht ganz unbegründet. Der amerikanische Senat, der in Finanz- und Zollangelegenheiten die tonangebende Behörde ist, ist unberechenbar, und es sind kaum mehr als 2 Jahre, dass die sehr einflussreichen Senatoren Lodge und Aldrich, der erstgenannte ein intimer Freund des Präsidenten Roosevelt, eine Resolution aufgestellt haben, dahin gehend, es sei ein Doppeltarif (Maximal- und Minimaltarif) aufzustellen und der Maximaltarif allen Ländern gegenüber in Anwendung zu bringen, die Erzeugnisse der Ver. Staaten ungünstiger behandeln, als solche anderer Länder.
Die am Schlüsse der Note des Hrn. Hill vom 9. dies3 enthaltene Bemerkung, dass man in Washington von ihm vor seinem Rücktritt einen Schlussbericht über seine Bemühungen für den Abschluss eines Handelsabkommens und «die in Ermangelung eines solchen in Betracht zu ziehenden Massnahmen» erwarte, enthält eine nicht misszuverstehende Androhung von Repressalien seitens der Regierung der Ver. Staaten.
Wir sind nun, nach Erwägung der ganzen Sachlage, zu folgenden Schlüssen gelangt:
Der Vorschlag des amerikanischen Gesandten, der - ohne den Abschnitt 3 des Dingley-Tarifes diesmal ausdrücklich zu nennen - doch nichts anderes als den Abschluss eines Handelsabkommens auf dieser Grundlage bedeutet, ist für uns unannehmbar. Das Abkommen müsste der Bundesversammlung zur Ratifikation unterbreitet werden; es würde sowohl dort, als auch im Volke und in der Presse zu berechtigter Kritik herausfordern, und diese würde wiederum weitgehenden Erörterungen rufen, die aus naheliegenden Gründen besser unterbleiben. Man würde sich mit Recht fragen, wie ein solches Abkommen habe getroffen werden können, wie die Schweiz den Ver. Staaten, deren exorbitante Zölle von den Industrien aller Länder längst nur noch mit Unmut ertragen werden, die volle Meistbegünstigung habe gewähren können, bloss um einige nichtssagende Konzessionen für Weinstein, Branntwein, etc. einzuhandeln.
Der gleiche Vorschlag der amerikanischen Regierung ist übrigens, wie aus dem beiliegenden Exposé (Seiten 15 und 17)4 hervorgeht, vom Bundesrate schon zweimal abgewiesen worden.
Bei der Unmöglichkeit, einer Verständigung auf der Basis von Abschnitt 3 des Dingley-Tarifes bleibt nach unserm Dafürhalten vorderhand nichts anderes übrig, als von der Regierung in Washington als Gegenleistung neuerdings die formale Reziprozität, d. h. die unbeschränkte Meistbegünstigung für schweizerische Waren bei der Einfuhr in die Ver. Staaten zu verlangen. In materieller Hinsicht käme dies für uns auf das gleiche hinaus, wie ein Abkommen nach Abschnitt 3, weil die Ver. Staaten bis jetzt nur für die in diesem Abschnitt genannten Artikel Zollkonzessionen gemacht haben. Durch ein Abkommen auf dieser Grundlage würde aber wenigstens der Schein der Gegenseitigkeit gewahrt; dasselbe könnte in Form eines einfachen Notenaustausches getroffen werden und es würde, nach der bisher vom Bundesrate befolgten Praxis, einer Vorlage an die Bundesversammlung nicht bedürfen.
Der Bundesrat hatte sich schon im Jahre 1900 bereit erklärt, den Ver. Staaten wegen ihrer grossen Bedeutung für den Schweiz. Export den Vertragstarif gegen die blosse Aufhebung der differentiellen Behandlung der in Sektion 3 fallenden Erzeugnisse wieder einzuräumen. Er verlangte nur, dass die Sektion 3 in dem zu treffenden Abkommen nicht erwähnt werde, damit es nicht den Anschein habe, als ob der Schweiz. Vertragstarif gegen eine materiell so unbedeutende Konzession zugestanden werde. Das Abkommen sollte vielmehr der Ausdruck der Wiederherstellung des Status quo ante, d.h. der gegenseitigen unbeschränkten Meistbegünstigung sein und daher in eine ganz allgemeine Formel gefasst werden. Wir citieren folgende Telegramme an unsere Gesandtschaft in Washington:
26. Juni 1900: «Conseil fédéral aurait été prêt à approuver une entente garantissant d’une manière générale aux deux Parties, jusqu’à une entente ultérieure, les droits les plus réduits...»
29. Juni 1900: «Votre rapport du 19 nous engage à revenir sur la question à savoir si réellement il serait impossible au Gouvernement américain de convenir échange de Note établissant en termes généraux, jusqu’à entente ultérieure, status quo existant avant 23 mars passé (Ablauf der gekündeten Meistbegünstigungsklauseln des Vertrages von 1850), savoir application réciproque des droits les plus réduits, sans mention aucune de Section 3. Accepterions cette forme générale... Cela aurait moins apparence de échange inégal que si Section 3 était expressément opposée à notre tarif conventionnel en entier».
Die Antwort von Washington pflegte jeweilen zu lauten, dass eine Erwähnung der Sektion 3 in irgend einer Form nicht zu umgehen sei, weil diese Gesetzesbestimmung die Ermächtigung des Präsidenten der Union zum Abschluss von Handelsabkommen, also die einzige Grundlage enthalte, auf die sich das Staatsoberhaupt stützen könne. Um diese Schwierigkeit kam man nicht herum, wie aus folgendem, vom 24. Juni 1900 datierten Telegramm unseres damaligen Gesandten, Hrn. Pioda, hervorgeht: «Ancien traité échu ne peut être rétabli que par nouveau à soumettre au Sénat, ce qui est hors de question. Partant, proclamation, tout en rétablissant de fait status quo, ne pourrait pas le déclarer explicitement...»
Ferner schrieb Hr. Minister Pioda am 1. Juli 1900:
«Quant à omettre la mention de la Section 3 dans la proclamation présidentielle, il ne pourrait en être question, attendu que c’est justement en vertu des dispositions contenues dans la dite Section que le Président peut faire des concessions...»
Es darf hieraus geschlossen werden, dass sich der Präsident der Ver. Staaten voraussichtlich nicht einmal für kompetent halten würde, auch nur in einem blossen Notenaustausch die Erklärung abzugeben, dass uns die Meistbegünstigung in unbeschränkter Form zugesichert werde.
Wir müssen daher bezweifeln, dass unser Gegenvorschlag, der auf eine Wiederherstellung des Status quo ante hinzielt, in Washington angenommen werde. Die Verpflichtung, uns allfällige, später dritten Ländern gewährte Tarifkonzessionen ohne entsprechende Gegenleistungen einzuräumen, wird von den Ver. Staaten schwerlich übernommen werden. Die Regierung dieses Landes hat in ihrer Handelspolitik von jeher den Grundsatz des «do ut des» befolgt; derselbe kam schon in ihrem ersten Handelsvertrag, demjenigen mit Frankreich vom Jahre 1778, zum Ausdruck, und seither hat sie an demselben unentwegt festgehalten. Wenn sie auch in einzelnen wenigen Fällen, wie im Vertrag mit der Schweiz von 1850 und in demjenigen mit Serbien von 1881, diesen Boden vorübergehend verlassen hat, so beweist hinwiederum ihr Vorgehen gegenüber uns im Jahre 1899, durch die Kündung der Artikel 8-12 des Staatsvertrages von 1850, dass sie einstweilen noch nicht gesonnen ist, jenem Grundsätze untreu zu werden und sich zur europäischen Auffassung der Meistbegünstigung zu bekehren. Das Staatsdepartement in Washington bemerkte in seiner Note an unsern Gesandten vom 21. November 1898 (vgl. Seite 7 des Exposé) ausdrücklich, der Vertrag mit der Schweiz stehe im Widerspruch mit dem von den Ver. Staaten «seit einem Jahrhundert» befolgten Prinzip, wonach Zollkonzessionen, die einem Staate vertraglich zugestanden worden seien, ändern Ländern nur gegen gleichwertige Konzessionen eingeräumt werden, und deshalb könne der Vertrag nicht länger fortbestehen, da die Union nicht gewillt sei, von dem genannten Prinzip abzugehen.
Die Befolgung dieses Prinzipes in Verbindung mit dem Schutzzollsystem hat dem amerikanischen Aussenhandel eine ungeheure Entwicklung gebracht: seit 1874 ist die Handelsbilanz sozusagen ununterbrochen eine aktive, und seit 1893 führten die Ver. Staaten insgesamt für über 21 Milliarden Franken mehr Waren aus, als sie vom Auslande einführten.
Obschon also unsere Gegenforderung der unbeschränkten Meistbegünstigung in Washington wahrscheinlich abgewiesen wird, müssen wir es dessen ungeachtet notwendigerweise auf einen nochmaligen Versuch in dieser Richtung ankommen lassen. Wir verlangen von den Ver. Staaten nur das, was sie von uns fordern, und überdies bietet uns die Tatsache, dass der Meistbegünstigungsvertrag der Union mit Serbien von 1881 noch in Kraft besteht, ein Argument für unsern Gegenvorschlag. Wir beantragen:
1. Es sei eine Note nach mitfolgendem Entwurf5 an die Gesandtschaft der Ver. Staaten in Bern zu richten.
2. Das Handelsdepartement sei zu beauftragen, die schweizerische Gesandtschaft in Washington durch Übermittlung der bezüglichen Aktenstücke auf das Laufende zu setzen6.
- 1
- E 13 (B)/274. Handelsübereinkunft mit den Vereinigten Staaten von Amerika.↩
- 2
- Ausführlicher historischer Rückblick über die schweizerisch-amerikanischen Handelsbeziehungen und die verschiedenen amerikanischen Vorstösse der letzten Jahre, eine Handelsübereinkunft mit der Schweiz abzuschliessen.↩
- 3
- E 13 (B)/274.↩
- 4
- Nicht ab gedruckt. E 13 (B)/274.↩
- 5
- Nicht abgedruckt (E 13 (B)/274).↩
- 6
- Der Bundesrat erhob den Antrag am 26. Juni 1905 zum Beschluss (E 1004 1/220).↩