Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
IX. DER POLITISCHE VERKEHR MIT DEM AUSLAND
4. Schaffung eines diplomatischen Postens in Argentinien
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 3, doc. 406
volume linkBern 1986
more… |▼▶Repository
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2#1000/44#2095* | |
Old classification | CH-BAR E 2(-)1000/44 386 | |
Dossier title | Verschiedenes (1857–1892) | |
File reference archive | D.423.01 |
dodis.ch/42385
Mit Zuschrift vom 16. Mai abhin2 hatte ich die Ehre, Sie darauf aufmerksam zu machen, wie sehr die Erfüllung der dem Unterzeichneten Büreau zukommenden Aufgabe der Ertheilung von Rath und Auskunft an Auswanderer, welche nach Argentinien gehen wollen, erschwert werde durch den Umstand, dass das Schweiz. Konsulat in Buenos Aires (Hr. L.U. Jaccard) Ihre Zuschrift vom 15. October 18883 mit den darin gestellten Fragen fortwährend unbeantwortet lasse. Ich füge bei, dass auch von den übrigen 4 in Argentinien bestehenden Schweiz. Konsulaten nur dasjenige von Rosario (Hr. Lehmann) Ihr Kreisschreiben vom 15. October beantwortet habe. Auch dieser Eine Bericht ist noch dürftig genug ausgefallen, und enthält so viel wie nichts über eine der wichtigsten Fragen, nämlich über die Beschaffenheit der in jener Gegend ziemlich zahlreichen neuen Kolonisationsunternehmungen, und die Bedingungen und Garantien, welche den neu zuwandernden Kolonisten seitens der Unternehmer geboten werden.
Nun ist bei Ihnen ein Brief des Hrn. Jaccard vom 25. April l.J.4 eingetroffen, wonach der Minister des Äussern der argentinischen Republik sich bei ihm über die Hindernisse beklagt hat, welche die Schweiz. Regierung der Auswanderung nach Argentinien in den Weg lege5, während doch die argentinische Regierung zur Aufrechterhaltung der freundschaftlichen und der Vermehrung der commerziellen Beziehungen das Mögliche gethan habe. Er, Hr. Jaccard, habe zwar entgegengehalten, die Schweiz suche nur ihre Auswanderer, gleichviel welchem Lande sie sich zuwenden, zu schützen; der Minister habe aber für den Fall der Fortdauer jener Hindernisse die Aufhebung des argent. Gesandtschaftspostens in Bern in Aussicht gestellt.
Man hätte nun erwarten sollen, dass der Konsul angesichts einer so ernsten Sachlage zu der Einsicht gekommen wäre, dass vielleicht gerade ihm der wichtigste Antheil der Schuld an der gegenwärtigen Situation zufallen müsse, da er es nicht nur unterlassen habe, Sie längst von den Massregeln der argent. Regierung zur Beförderung der Einwanderung und den daherigen, vor seinen Augen sich vollziehenden Vorgängen zu unterrrichten, sondern auch sich nach den Bedingungen und Verhältnissen der zahlreichen neu entstehenden Kolonisationsunternehmungen zu erkundigen und darüber an Sie Bericht zu erstatten. Auch wäre zu erwarten gewesen, dass er den Minister nicht im Zweifel gelassen hätte über die hauptsächlichsten Bedingungen, unter denen in der Schweiz einzig von einer Vertretung von Kolonisationsunternehmungen die Rede sein kann, denn es fehlte ihm nicht an Gelegenheit, von den hierseitigen gesetzlichen und reglementarischen Bestimmungen genau Kenntniss zu nehmen. Statt dessen schreibt er in seinem obenerwähnten Briefe, es sei für jeden handeltreibenden Konsul, welches Land er auch vertrete, schwer, wenn nicht geradezu unmöglich, in unpartheischer Weise gewisse Informationen über die in Frage liegende Angelegenheit zu ertheilen, und das Mittel, zu genauen Angaben zu gelangen, bestehe nach seiner Ansicht in der Entsendung einer competenten und unparteiischen Persönlichkeit nach Argentinien, welche während eines oder zweier Monate dieses Land zu studiren hätte.
Die Offenheit, mit welcher Hr. Jaccard bekennt, dass er als handeistreibender Konsul keinen unpartheiischen Bericht über fragliche Materie zu liefern vermöge, verdient alle Anerkennung. Es ist dabei nur zu bedauern, dass er, vielleicht zum Schaden seines Wohnlandes wie seiner Heimat, die er zu vertreten die Ehre hat, mit diesem Bekenntniss erst jetzt aufrückt, und dass er, nicht längst, einem richtigen Gefühle folgend, den dringenden Wunsch ausgesprochen hat, von seiner Stelle entlassen zu werden.
Ich darf es, hochgeehrter Herr Bundesrath, nicht unterlassen Ihnen hier mitzutheilen, dass wenn Hr. Jaccard, früher oder bei gegenwärtigem Anlass einem solchen Wunsche Ausdruck gegeben hätte, diess in Buenos Aires höchst wahrscheinlich mit Befriedigung aufgenommen worden wäre; denn die Klagen darüber, dass sich Hr. Jaccard der dortigen Schweizer nur so weit annehme, als er absolut müsse und Sporteln erheben könne, scheinen schon ziemlich allgemein und alt zu sein. Auch ist mir von einem mit den Verhältnissen genau vertrauten schweizerischen Staatsmann mitgetheilt worden, Hr. Jaccard habe, – wenigstens während längerer Zeit, – die Besorgung der Konsulatsgeschäfte einfach einem seiner schweizerischen Angestellten übertragen, und ihm als Entschädigung hiefür einen Drittheil der jährlich auf etwa Fcs. 7000 sich belaufenden Sporteln überlassen. Er selbst betreibt ein Geschäft mit Qualität-Spirituosen, die er theilweise auch im Détail-Ausschank verkauft; dass diese letztere Berufsstellung kaum geeignet ist, zur Würde eines Schweiz. Konsuls etwas beizutragen, liegt auf der Hand.
Die Unterzeichnete Amtsstelle ist u. A. auch berufen, Auswanderer auf Verlangen mit Empfehlungen zu versehen. Unter vorhandenen Umständen aber kann ich es kaum wagen, solche Auswanderer, welche drüben einer sicheren Berathung gerade am meisten bedürftig wären, an den Konsul in Buenos Aires zu empfehlen, so naheliegend diess unter anderen Verhältnissen auch wäre. Was dieser in Fällen, in denen er um Rath angegangen wird, zu thun pflegt, theilt er in einem Brief vom 10. April6 mit; er weist die Auswanderer an das Büreau einer französisch-belgischen Patronatsgesellschaft, welche auch von Schweizern unterstützt werden soll.
Vom Standpunkt des Schweiz. Auswanderungsbüreau aus erscheint ein derartiger Zustand, wie er zur Zeit in Buenos Aires und in Argentinien überhaupt besteht, als unhaltbar, wenn nicht die Interessen unserer, alljährlich um weit über tausend sich vermehrenden Landesgenossen schwer darunter leiden sollen. Wir bedürfen dort einer Vertretung, welche unabhängig von den Interessen des Handels, der Spekulation, der Kolonisationsunternehmungen und dgl. sich der Schweizer annimmt und die heimatlichen Behörden durch fleissige und zuverlässige Berichterstattung auf dem Laufenden hält. Noch mehr: das jüngste Schreiben des Herrn Jaccard liefert den Beweis, wenn ein solcher überhaupt noch nöthig ist, dass einem schweizerischen Vertreter Eigenschaften zugemuthet werden müssen, welche man in der Regel nur bei geschulten Diplomaten findet, und welche ihm den Verkehr mit der Regierung erleichtern und einen höheren Einfluss sichern. Man begreift die Nothwendigkeit einer derartigen Vertretung um so besser, wenn man bedenkt, dass jetzt schon ungefähr 30,000 Schweizer in verschiedenartigsten Stellungen in Argentinien leben, dass nach amtlichen argentinischen Tabellen im Jahre 1886: 1284, im Jahre 1887: 1420, und im Jahre 1888: 1479 Schweizer dort eingewandert sind; dass ferner infolge der immer deutlicher zu Tage tretenden Prohibitivtendenzen gegenüber der Einwanderung in die Vereinigten Staaten von Nordamerika inskünftig immer mehr Auswanderer sich den südamerikanischen Staaten, vorab Argentinien zuwenden werden.
Ich muss freilich beifügen, dass auch in den übrigen südamerikanischen Staaten Verhältnisse sich vorfinden, welche eine ähnliche Vertretung wünschenswerth machen. Die Verhältnisse der schweizerischen Kolonisten in Chilesind bekannt; die Zahl der Schweizer in diesem Lande mag zur Zeit gegen 3,000 betragen, und neue Kolonisationsbestrebungen machen sich in letzter Zeit dort geltend, die auch in der Schweiz ihre Propaganda zu entfalten bemüht sein werden. Brasilien hat die Unterstützung einer Masseneinwanderung von 800,000 Köpfen grundsätzlich beschlossen, und schon seit längerer Zeit sind Agenten hiefür in verschiedenen Ländern thätig. Eine portugiesische Gesellschaft, welche die «Lieferung» von 250,000 Europäern nach Brasilien kontraktlich übernommen hat, verlangte und erhielt von Unterzeichnetem Büreau Auskunft über die Bedingungen, welche ihrerseits und seitens der brasilianischen Regierung für die Gründung einer schweizerischen Kolonie dargeboten werden müssten, um Aussicht auf Genehmigung seitens des Bundesrathes haben zu können; und wenn die verlangten, allerdings sehr weitgehenden Garantien wirklich geboten werden, so wird sich ein Bruchtheil unserer Auswanderung den bereits schon vorhandenen deutschen Kolonien im südlichen Brasilien beigesellen, und die sehr beträchtliche, vielleicht auf 10,000 zu schätzende Zahl der in Brasilien ansässigen Schweizer rasch vermehren. Uruguay, das bereits eine blühende Schweizerkolonie hat, und auf dem Wege ist, die Anlage weiterer gedeihlicher Niederlassungen für schweizerische Einwanderer zu ermöglichen, zählt zur Zeit vielleicht 5000 Schweizer in seinen verschiedenen Provinzen.
Selbstverständlich kann nicht davon die Rede sein, dass die Schweiz in allen diesen Staaten diplomatische Vertreter unterhalte. Allein es unterliegt für mich keinem Zweifel, dass nicht mehrere unserer dortigen Konsulate durch ähnliche Rücksichten, wie sie bei demjenigen von Buenos Aires bestehen, von einer eingreifenden Aktion zum Schutze unserer Auswanderung sich ablenken lassen. Da erblicke ich als das einzige Mittel zu einer wirksamen Abhülfe der gegenwärtigen Übelstände darin, dass in Buenos Aires ein diplomatischer Posten errichtet, mit einer geeigneten Persönlichkeit besetzt, und diese bei den Regierungen in Santiago, Rio de Janeiro, Montevideo, vielleicht auch bei denjenigen der übrigen südamerikanischen Staaten accreditirt werde.
Ob ein solches Ziel jetzt schon erreichbar ist, wage ich nicht zu entscheiden. Dagegen halte ich den Vorschlag des Hrn. Konsul Jaccard, einstweilen einen unabhängigen, sachverständigen Mann nach Argentinien zu entsenden, in dem Sinne für zweckmässig, nothwendig und ausführbar, dass dieser Mann gleichzeitig auch ein praktisch gebildeter Diplomat sein, und in ausserordentlicher Mission auch bei den wichtigsten der übrigen vorerwähnten Regierungen accreditirt werde, bis eine definitive Lösung der Frage auf Grund der zu machenden Erfahrungen möglich ist. Alle dortigen Schweiz. Konsulate wären der Oberaufsicht dieses Mandatärs zu unterstel
So stellt sich die Sache dar, wenn man sie vom Standpunkte des Auswanderungswesens aus betrachtet; nicht minder wichtige Interessen werden auf dem commerziellen Gebiete zu wahren und zu schützen sein. Ich kann mich selbstverständlich hierüber nicht näher auslassen, muss aber doch auf die Thatsache aufmerksam machen, dass dem gesammten südamerikanischen Handel durch einen Vertrag, den die Regierung der Vereinigten Staaten anstrebt, und wozu theilweise schon Programme aufgestellt und bestimmte Persönlichkeiten als Unterhändler in Aussicht genommen sind, eine vollständige Umgestaltung zu Ungunsten der europäischen Länder droht. Im Ferneren gilt es für Alle, welche sich ernstlich um die Verhältnisse in den südamerikanischen Staaten interessiren, als unausweichlich, dass spätestens mit dem Ableben des jetzigen Kaisers von Brasilien in diesem Lande grosse politische Ereignisse zu erwarten sind, von denen auch dessen Nachbarländer nicht unberührt bleiben dürften. Da mag es als klug erscheinen, rechtzeitig diejenigen Massregeln zu treffen, welche den sehr bedeutenden Interessen unserer zahlreichen Angehörigen daselbst am dienlichsten sind.7
- 1
- Bericht: E 2/2095.↩
- 2
- Nicht ermittelt.↩
- 3
- Nicht ermittelt.↩
- 4
- Nicht abgedruckt.↩
- 5
- Vgl. Nr. 387.↩
- 6
- E 2200 Buenos Aires 1/6, S. 434f.↩
- 7
- Handschriftliche Notiz am Kopf des Schreibens: Vorl [äufig]a [d]a [cta]. Erection d’un poste diplomatique à Buenos Ayres. Vgl. auch den Bericht des A us Wanderungsamtes: Die historische Entwicklung der schweizerischen Kolonisation in Argentinien (E 7175 (A) 1/35).↩
Tags