Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
IV. NIEDERLASSUNGS- UND ASYLPOLITIK
2. Die schweizerische Asylrechtspraxis
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 3, doc. 297
volume linkBern 1986
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E1004.1#1000/9#7336* | |
Dossier title | Beschlussprotokoll(-e) 29.01.-02.02.1886 (1886–1886) |
dodis.ch/42276 Protokoll der Sitzung des Bundesrates vom 29. Januar 18861 465. Auslieferungsverträge mit Österreich und Deutschland
Am 10. November 1884 hat der Gesante von Österreich-Ungarn dem Bundespräsidenten mitgeteilt, dass seine Regierung den schweizerisch-österreichischen Auslieferungsvertrag zu künden gedenke2, da dessen Bestimmungen unvollständig oder veraltet erscheinen; dass er aber, vor dieser Kündung, die Anfrage an den Bundesrat zu stellen habe, ob dieser bei Unterhandlungen über einen neuen Auslieferungsvertrag mit der Aufnahme einer Bestimmung einverstanden sei, dahingehend: «dass der Königsmord und überhaupt Attentate gegen das Leben eines Statsoberhauptes nicht als politisches Verbrechen zu gelten haben, sondern zu den Verbrechen zu zählen seien, derentwegen eine Auslieferung stattfindet.»
Der Schritt des österreichischen Gesanten wurde gleich darauf durch denjenigen Deutschlands unterstüzt.
Der Bundesrat hat am 17. Februar 1885 beschlossen3, den Bundespräsidenten zu beauftragen, dem Herrn Minister Ottenfels eine Antwort dahin zu erteilen: Der Bundesrat sei mit der vorgeschlagenen Bestimmung nicht einverstanden. Er habe schon früher gleichlautende Anträge, die von verschiedenen Staten, so von Frankreich im Jahre 1869, von Spanien im Jahre 18834, ausgingen, abgelehnt und wolle in jedem Falle der Behörde, welche über das Auslieferungsbegehren entscheidet, das Recht Vorbehalten, zu prüfen, ob sie in den nähern Verumständungen des Verbrechens den Charakter eines politischen Aktes finde oder nicht.
Der österreichische Gesante, dem dieser Bescheid mitgeteilt wurde, tat sodann beim Bundespräsidenten einen neuen Schritt, indem er einen Auszug aus einer Note des Grafen Kalnocky überreichte. Diese, vom 25. April 18855 datirte Note, beauftragt den Gesanten Österreichs, beim Bundesrate das Versprechen der Zustimmung zu einer Bestimmung nachzusuchen, derzufolge die Schweiz sich verpflichten würde, diejenigen Individuen, nach Konstatirung des Tatbestandes, auszuliefern, welche des Mordes, insbesondere des Attentates gegen das Statsoberhaupt oder die Mitglieder seiner Familie überwiesen sind, auch dann, wenn das Verbrechen aus politischen Motiven begangen wurde oder mit einem politischen Delikte im Zusammenhang steht. Hiedurch, bemerkte die Note, bliebe für die Schweiz das von ihr sorgfältig gehütete Prüfungsrecht intakt, und es wäre doch ausgesprochen, dass nicht unter allen Umständen für die Verweigerung der Auslieferung der angeblich politische Charakter der Handlung angerufen werden könnte.
Falls die beantragte Redaktion nicht belieben sollte, ersucht Graf Kalnocky um einen ändern Vorschlag.
Die Angelegenheit wurde am 19. Mai 1885 dem eidgen. Justiz- und Polizeidepartement zum Bericht überwiesen. Dieses beantragt nun in seinem Vortrag vom 19. November, auf welchen hier verwiesen wird, den neuen Vorschlag Österreich-Ungarns abzulehnen und keinen eigenen Vorschlag zu machen.
Dieser Antrag bildete in lezter Sizung den Gegenstand der Diskussion. In Genehmigung des ersten Antrages des Justizdepartements wird der Standpunkt, den der Bundesrat bei einer allfälligen Revision des Auslieferungsvertrages einzunehmen gedenkt, durch nachfolgende, im Sinne der Diskussion der lezten Sizung abgefasste Erklärung präzisirt und der Herr Bundespräsident ermächtigt, diese leztere dem österreichisch-ungarischen Gesanten mündlich und vertraulich zu eröffnen:
«Die k.u.k. Regierung ist der Ansicht, es Hesse sich vielleicht eine Modalität finden, dem Auslieferungsvertrage, nebst den allgemeinen Grundsäzen der Nichtauslieferung bei politischen Verbrechen, eine Bestimmung des beiläufigen Inhaltes beizufügen, dass sich die vertragschliessenden Teile in Ansehung des Verbrechens des Mordes Vorbehalten, auch dann, wenn dasselbe aus politischen Motiven begangen wurde oder mit einem politischen Delikte im Zusamenhange steht, und insbesondere im Falle des Attentats auf das Oberhaupt eines fremden States oder die Mitglieder seiner Familie, sofern der Tatbestand eines Mordes, Meuchelmordes oder der Vergiftung vorläge, nach Untersuchung der Sache die Auslieferung zu gewähren.
Der Bundesrat spricht zunächst die Ansicht aus, dass weder ein juristischer, noch ein praktischer Grund dafür vorliegt, die aufgeworfene Frage auf das Verbrechen des Mordes zu beschränken, dass vielmehr eine grosse Zahl anderer gemeiner Verbrechen in gleicher Weise in Betracht fallen, bei denen politische Motive vorhanden sind oder vorgeschüzt werden.
Der Bundesrat nimmt keinen Anstand, die Frage von diesem allgemeinen Standpunkte aus aufzufassen und zu erklären, dass auch er keineswegs die Ansicht teilt, dass ein gemeines Verbrechen schon darum als ein politisches betrachtet werden müsse, weil der Urheber desselben tatsächlich oder angeblich aus solchen Motiven gehandelt hat. Die Haltung, welche die schweizerische Regierung in der jüngsten Zeit in der Anarchisten-Angelegenheit beobachtet hat, legt hiefür genügendes Zeugnis ab, um in dieser Beziehung alle weitern Erklärungen überflüssig zu machen.
Von diesem Grundsaze ist aber die weitere Frage ganz unabhängig, ob auf dem Wege des Vertrages festzusezen sei, dass in Ansehung gewisser gemeiner Verbrechen die Auslieferung auch dann stattzufinden habe, wenn dieselben aus politischen Motiven begangen wurden oder mit einem politischen Delikte in Zusammenhang stehen. Diese Frage kann der Bundesrat nicht bejahen; er ist vielmehr der Ansicht, dass eine derartige vertragsmässige Einschränkung weder mit den Grundsäzen vereinbar sei, welche in Bezug auf die gegenseitige Auslieferung allgemein anerkannt sind, noch, dass sie einem praktischen Bedürfnis entspreche. Alle neuern Auslieferungsverträge gehen von dem Grundsaze aus, dass zur Begründung eines Auslieferungsbegehrens der Nachweis nicht genügt, dass in dem requirirenden State ein in dem Vertrage vorgesehenes Verbrechen begangen worden sei, sondern es wird die Pflicht zur Auslieferung erst dadurch begründet, wenn der in dem einzelnen konkreten Falle vorliegende und nachzuweisende Tatbestand auch nach der Gesezgebung des angesprochenen States den Chrakter eines Verbrechens hat und infolge dessen strafbar ist. Dem angesprochenen State fällt somit der Entscheid über die rechtliche Qualifikation der Delikte zu, den er allerdings nicht willkürlich, sondern nach seiner jeweiligen Gesezgebung zu treffen die Verpflichtung übernimmt. Diese Gesezgebung ist durch den Bestand der Auslieferungsverträge nicht beschränkt, sondern im Gegenteil anerkannt, und aus diesem Grunde enthalten die Verträge auch die blossen Aufzählungen der Delikte, keineswegs aber ihre Begriffsbestimmungen, weil diese eine schwere Beeinträchtigung des Gesezgebungsrechtes der Staten in sich schliessen würden. Dass diese Wahrung der Statshoheit den Interessen, welche durch die Auslieferungsverträge geschüzt werden sollen, keinen Eintrag tut, hat die Erfahrung zur Genüge bewiesen, was sich durch die einfache Erwägung erklärt, dass die Auslieferungspflicht auf den nämlichen Gesezen des angesprochenen States beruht, welcher dieser zu seinem eigenen Schuz nicht blos zu erlassen das Recht hat, sondern geradezu gezwungen ist. Die gleiche Notwendigkeit besteht für die Legislation auch auf demjenigen Rechtsgebiete, welches die Delikte zum Gegenstand hat, bei denen sich die politischen Vergehen mit den gemeinen verbinden und berühren. Auch auf diesem Gebiete hat jeder Stat ein zwingendes Interesse, das politische Delikt nicht zum Dekmantel des gemeinen Verbrechens werden zu lassen, und jeder dritte Stat findet daher auch in diesem Falle in der internen Gesezgebung des angesprochenen States genügenden Schuz; ein praktisches Interesse besteht demnach nicht, auf diesem speziellen Gebiete den angesprochenen Stat zu etwas Weiterem als zur Anwendung seiner Gesezgebung zu verpflichten und dadurch die allgemeinen Grundsäze der Auslieferungsverträge zu durchbrechen, das Hoheitsrecht der Staten zu beschränken und die Freiheit der Prüfung im einzelnen Fall aufzuheben, und dieses um so weniger, als die Eidgenossenschaft seit ihrem neu geordneten Bestände und lange vorher nie in den Fall gekommen ist, mit irgend einem State über die Natur eines politischen Delikts in irgend welchen Konflikt zu geraten. Zudem ist nicht zu übersehen, dass diese komplexen Delikte bei ihrer naturgemäss grossen Mannigfaltigkeit und bei der Unsicherheit ihrer Grenzen sich noch weit weniger zu einer vertraglichen Definition eigenen, als die meisten übrigen Verbrechen, von denen es allgemein feststeht, dass ihre Begriffsbestimmung nicht dem Vertrage, sondern der statlichen Gesezgebung zufalle.
Der Bundesrat glaubt durch diese Erklärungen die Grenzen deutlich gezogen und auch gerechtfertigt zu haben, in welchen er die Diskussion für den Fall von Unterhandlungen über einen neuen Auslieferungsvertrag mit der k.u.k. Regierung zu halten gezwungen wäre, und spricht zugleich die Hoffnung aus, die k.u.k. Regierung werde sich davon überzeugen, dass es möglich sein sollte, auf dem angedeuteten Wege die aufgeworfene Frage in beidseitig befriedigender Weise zu lösen.»