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Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 2, doc. 289
volume linkBern 1985
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2#1000/44#1641* | |
Old classification | CH-BAR E 2(-)1000/44 269 | |
Dossier title | Frage der Besetzung von Chablais und Faucigny und Übergabe dieser Provinzen an die Schweiz während des deutsch-französischen Krieges von 1870-1871 (1870–1873) | |
File reference archive | B.137.1 |
dodis.ch/41822 Le Chef du Bureau de l’Etat-major, le Colonel H. Siegfried, au Département militaire1
BERICHT
an das eidgenössische Militärdepartement über Grenzverhältnisse
zwischen Frankreich und der Schweiz.
September 1870
1. Die Savoy’sehe Grenze.
Die Neutralität verpflichtet die Schweiz zu verhindern, dass bei einem Krieg der benachbarten Völker unser Land von einem der kriegführenden Theile als Angriffsterrain gegen den Ändern benützt werde. Wir haben unter Anderm die linke Flanke Süddeutschlands gegen französische Unternehmungen, die durch die Schweiz nach Deutschland gerichtet werden können, sicher zu stellen. Durch die französische Annexion von Savoyen ist aber der südwestliche Theil der Schweiz von Frankreich umklammert, Genf abgeschnitten, eine Armeeaufstellung in dem umfassten Winkel des Waadtlandes von vorneherein umgangen und damit die Vertheidigungsfähigkeit der Schweiz vermindert worden. Unter diesen Verhältnissen sind wir genöthigt, gegen eine Demonstration der Franzosen, die nach dem südwestlichen Theil der Schweiz gerichtet wird, einen grössern Theil unserer Truppen zu verwenden, in Folge dessen die französische Hauptoperation gegen die nordwestliche Schweiz geringen Widerstand findet und leichter in die Flanke Deutschlands eindringt. Wir sind somit weniger im Stand als früher, die NeutralitätsVerpflichtung durchzuführen.
Wenn Deutschland durch die Erwerbung des Elsasses die Festung Beifort, Strassburg und die Barriere der Vogesen gewinnt, so steht die Stärke dieser deutschen Fronte in keinem Verhältniss mehr zu der Schwäche der linken Flanke Süddeutschlands.
Es ist dann für die Franzosen der Weg nach Deutschland durch die Schweiz viel mehr angezeigt; die Gefahr einer Verletzung unserer Neutralität ist grösser und die Nothwendigkeit, dass durch die Beseitigung des französischen Übergriffs südlich vom Genfersee die Vertheidigungsfähigkeit der Schweiz gestärkt werde, tritt um so stärker hervor, sobald die süddeutsche Fronte vom Rhein an die Vogesen verlegt wird.
Unsere Neutralität verpflichtet uns ferner, die rechte Flanke Oberitaliens durch die Behauptung der Pönninischen Pässe, des grossen St. Bernhard, des Simplon, sowie auch der Gotthardstrasse, gegen französische Unternehmungen, die durch die Schweiz nach Italien gerichtet werden könnten, zu decken. Der Besitz von Nordsavoyen gibt aber Frankreich die Simplonstrasse in ihrem untern Theil, ferner den Eingang ins Wallis bei St. Gingolph, eine Anzahl Pässe ins Unter-Wallis und einen Weg ins Herz des Rhonethals bei Martinach am Fuss des grossen St. Bernhard.
Das militärische Interesse, welches Deutschland und Italien an unserer Neutralität haben, und die Verpflichtungen, die wir mit der Neutralität übernehmen, verlangen daher, dass Frankreich nicht im Besitz des südlichen Leman-Ufers sei.
Ein noch viel gewichtigeres Motiv als die Verpflichtungen der Neutralität, nemlich die Pflicht der Selbsterhaltung gebietet uns, alle Mittel zu erschöpfen, um Frankreich nicht im Besitz des südlichen Ufers zu belassen.
Die schweizerisch-französische Grenze zwischen Genf und Basel war schon allein durch ihre geographische Lage schwach. Indem sie auf dem linken Flügel weit vorspringt, sind alle unsere Aufstellungen längs der Grenze in der rechten Flanke bedroht und unsere gegen die Ostschweiz gerichteten Verbindungen schon von Anfang an gefährdet. Überdies gehören auf dem seiner Lage nach schwächern linken Flügel nicht allein die Pässe des Jura zu Frankreich, sondern auch noch das Pays de Gex, der äusserste Theil der grossen Schweiz. Ebene. Diese Pässe und dieses Pays de Gex liegen in der Flanke unserer auf einem schmalen Streifen am See zusammengeschnürten Verbindung mit Genf. Wenn wir diese ungünstigen Bedingungen der Grenze acceptiren, weil sie in historischen und rechtlichen Verhältnissen begründet sind, so müssen wir hingegen die neuern französischen Bestrebungen zurückweisen, welche darin bestehen, die missliche Lage Genfs und der südwestlichen Landestheile Schritt für Schritt systematisch zu verschlimmern.
Kaum waren 1815 die annektirten Gebiete von Pruntrut, Genf und Wallis zurückerstattet, so verweigerte Frankreich 1816, die Grenzen im Dappenthal nach den Bestimmungen des Pariser-Vertrages herzustellen. Die Grenzfestungen Fort de l’Ecluse, Fort de Joux wurden durch Erbauung von neuen Forts vergrössert. Wenn letztere Massregel noch als reines defensives Vorkehren betrachtet werden kann, so besitzt hingegen der Bau des grossartig angelegten Fort des Rousses im Schussbereich unserer Grenze und in der Flanke unserer Verbindung mit Genf einen entschieden offensiven Charakter. Nach der Schleifung von Hüningen hatte die Festung Les Rousses die nemliche Funktion in Bezug auf Genf zu übernehmen, die Hüningen früher in Bezug auf Basel hatte, nemlich durch Bedrohung der Stadt einen Einfluss auf die Entschliessungen der schweizerischen Behörden auszuüben, alles unter dem Titel: «pour garantir la neutralité de la Suisse.» Die weitern Fortschritte Frankreichs in diesen Gegenden, nemlich die Annexion von Savoyen bis zur Brücke von St. Gingolph 1860, die Erwerbung der Dappenthalstrasse 1862, können uns keinen Zweifel mehr darüber lassen, dass Frankreich rücksichtslos auch uns gegenüber die Erweiterung seiner Grenzen und als Ziel den Besitz von Genf, der Romanischen Schweiz und des Wallis verfolgt, um dann ferner mit der Simplonstrasse Garantien zu besitzen, welche ihm die nie aufgegebene Politik oder Einmischung und Beherrschung in Italien gestatten. In seinen Annexionstendenzen bleibt sich Frankreich unter allen Staatsformen gleich. Es war die erste Republik, welche Pruntrut, Genf und Wallis annektirte.
Gegenüber diesen Ausschreitungen Frankreichs haben wir die Pflicht, diejenigen Mittel zu ergreifen, welche die Selbsterhaltung gebietet. Es wird für uns eine permanente Existenzfrage bleiben, diesem Vergrösserungswahn der französischen Nation, soweit es unsere Grenzen betrifft, mit allen möglichen Mitteln entgegen zu treten.
Auf den Besitzvon Nord-Savoyen haben wir zwar keine Rechtsansprüche. Da aber eine Neutralität dieses Landes widersinnig ist, wenn dasselbe zu Frankreich gehört, so ist eben die Abtretung zu erzielen, indem wir unsere Rechte auf die Neutralität geltend machen.
Es fragt sich nun, welche Grenzlinien beim geeigneten Anlasse anzustreben seien.
Die 1815 getroffene Massregel der Neutralisation der savoyischen Gebiete, die nördlich des Parallels von Ugine liegen, hatte den doppelten Zweck:
a. Im Interesse der Schweiz eine Verbindung von Genf nach dem Wallis herzustellen, in Anbetracht der ungenügenden Verbindung Genfs mit der Schweiz auf dem rechten Ufer und um überhaupt der Schweiz eine bessere Militärgrenze im Südwesten zu verschaffen.
b. Im Interesse Sardiniens einen Landestheil zu schützen, den dasselbe in Folge der geographischen Lage gegen Frankreich nicht behaupten konnte, indem einerseits nach einer Einnahme der Festung Montmélian durch die Franzosen der nördlich von Ugine liegende Theil von Savoyen nur durch das Wallis mit Piemont in Verbindung blieb und andrerseits beim Eindringen der Franzosen in den nördlichen von Ugine liegenden Theil die Festung Montmélian durch die Strasse über den Col de Faverge umgangen, die Tarentaise und die Maurienne geöffnet waren.
Es herrschte bis jetzt darüber nur eine einstimmige Meinung, dass das militärische Interesse der Schweiz die Ausdehnung des neutralen Gebietes bis zum Parallel von Ugine nicht verlange. Die Grenze des für die Vertheidigung der südwestlichen Schweiz nöthigen Gebietes von Savoyen wurde hingegen auf verschiedene Weise bezeichnet.
Pictet de Rochemont bezeichnete folgende Linien: von der Rhone unterhalb Seyssel die Flusslinie des Fier, in der Fortsetzung eine Linie, welche östlich Ugine das Thal des Arly durchschneidet und das Défilé von Pierre d’Héry in die Neutralität einschliesst und dann, dem von West nach Ost streichenden Gebirgszug folgend, den Col de Bonhomme erreicht.
Die von General Finsler vorgeschlagene Grenze folgt von der Rhone an dem Flusse les Usses und setzt sich dann der westlichen Wasserscheide des Arvebekkens entlang bis zum Montblanc fort.
Es wurden auch noch weiter rückwärts liegende Linien bezeichnet, um für das Markten etwas bei der Hand zu haben: unter Anderm die Linie des Usses, Viaison, der Menoge bis zur Grenze des Chablais und dann dieser folgend bis zum Wallis. Ferner: die Linie Mont Vuache, Mont Sion, Salève und in der Folge die westliche Wasserscheide der Arve.
Eine andere von General Dufour 1860 für die Transactionen vorgeschlagene Linie geht von der Rhone über den Mont Vuache, Mont Sion, Salève bis Mornex, folgt von hier der Arve bis zum Einfluss des Giffre, dann diesem Nebenfluss bis Sixt und erhebt sich von hier über den Buet bis zur Tour Salière auf der Walliser Grenze.
Die von Pictet und W. Humbold vorgeschlagene Grenze des Fier ist in militärischer Beziehung besser als die übrigen, weil sie in Rücksicht der Pässe und Strassen die conzentrirteste ist; sie umfasst nahezu das Gebiet des gegenwärtigen Departements der Haute Savoie, lässt jedoch den centralen Punkt von Annecy ausserhalb und würde Landestheile trennen, die zusammen gehören.
Man kommt daher zu der Ansicht, dass es aus militärischen und politischen Gründen das Richtigste sei, das Departement de la Haute Savoie in seinen gegenwärtigen Grenzen als das Gebiet zu bezeichnen, dessen Besitz die Schweiz anzustreben hat.
Die französisch-schweizerische Grenze von der Rhone zum Rhein.
Die Grenze von Genf bis Basel hat als Militärgrenze betrachtet zwei sehr verschiedene Theile. Der südliche Theil von der Rhone bis Les Brenets besitzt ungünstige und der nördliche Theil bis Basel im Ganzen vortheilhafte Eigenschaften. Auf dem südöstlichen Theil gehört die Jurakette ganz zu Frankreich, alle Pässe von der Perte du Rhône bis Verrières sind durch französische Befestigungen geschlossen und das Waadtland liegt ganz offen an der Grenze, ohne dass bis zu den Alpen und bis zur Aare ein natürliches Hinderniss zu finden wäre. Die für uns nachtheilige Lage des Pays de Gex, verschlimmert durch les Rousses und durch die Abtretung des Dappenthals, wurde schon erwähnt.
Es ist klar, dass die militärische Grenze der südwestlichen Schweiz von der Rhone an dem Flusse der Valserine folgen müsste und dass die Juraübergänge der ersten Kette mit ihren Befestigungen, der Col des Rousses, der Pass von Pontarlier innerhalb dieser Grenze liegen sollten, welche in der Folge sich dem Lauf des Doubs anschliessen würde.
Auf die zwischen dieser militärischen und der jetzigen politischen Grenze liegenden Gebiete besitzen wir keinerlei Rechtstitel. Das Pays de Gex ist die älteste Besitzung Frankreichs an unserer Grenze und unsere Titel auf das Dappenthal sind schon in Paris abgegeben worden. Auf dieser Grenze haben wir daher nichts zu verlangen und wir sind angewiesen, nachtheilige Verhältnisse durch anderweitige Mittel auszugleichen.
Die Verbesserung unserer Armee-Organisation, die Vermehrung unserer Bewaffnung und die Benützung der innern strategischen Linien auf Grundlage eines Befestigungssystems dürften wichtigere Gegenstände unserer Bestrebungen sein als die Erlangung von defensiven Grenzlinien, deren Vertheidigung häufig doch nur zur Zersplitterung der Armee führt.
Auf dem nördlichen Theil der französisch-schweizerischen Grenze ist in militärischer Beziehung der Übelstand fühlbar, dass wir nicht einmal den Raum dazu haben, die Stadt Basel vor derselben zu vertheidigen.
Auch fehlt uns die gerade Verbindung zwischen Pruntrut und Basel vordem Jura, so dass die zwei Hauptpunkte der Vertheidigung der nordwestlichen Schweiz nur auf dem langen rückwärtigen Bogen durch das Birsthal und über den Repatsch verbunden sind.
Wenn das Eisass zu Deutschland kommt, so fallen diese Übelstände gegenüber Frankreich weg, sind dann aber ebenso fühlbar gegenüber Deutschland. Bei einer Grenzveränderung im Eisass sollte daher das Ziel verfolgt werden, dass die Strasse von Basel über Pfirt nach Miécourt im Pruntrutischen in unsere Grenzen fällt, indem diese von Bonfol bis unterhalb Hüningen an den Rhein gezogen werden. Natürliche Linien sind hier keine vorhanden.
Eine solche Grenzerweiterung sollte im Fall der Vereinigung des Ober-Elsass mit Deutschland nicht so schwierig zu erhalten sein, weil Deutschland kein Interesse an diesem kleinen Gebiete haben kann und indem es Frankreich genehm sein müsste, seine Verbindung mit Basel nicht durch deutsches Gebiet unterbrochen zu sehen.
Die Verhältnisse der französischen Grenzfestungen.
Die Passsperren im Jura, wie Fort de l’Ecluse, Fort de Joux, sind defensive Massregeln Frankreichs, welche ihre Berechtigung besitzen. Die grossen Festungen hingegen, die vor unserer Grenze verschanzte Lager- und Vorrathsplätze bilden, wie Beifort, Besançon, Les Rousses, Lyon und die durch ein militärisch berechnetes Eisenbahnsystem untereinander und mit dem Innern Frankreichs verbunden sind, haben einen hervorragend offensiven und bedrohenden Charakter gegen unser Land. Sie bilden eine organisirte Basis für die Agression.
Indem die Schweiz eventuell die Flanke Deutschlands zu decken hat, so haben wir in Bezug auf diese Festungen solidarische Interessen mit Deutschland. Wir haben an dem gegenwärtigen Krieg nicht Theil genommen und sind daher auch zu keinen Forderungen berechtigt. Hingegen ist es klar, dass Alles, was Deutschland zur Schwächung dieses Systems unternehmen wird, in unserem Interesse liegt.
- 1
- Rapport: E 2/1641.↩
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Neutrality of Savoy (1870–1871)
Borders and territory French fortifications in the frontier zone to Switzerland (1875–1937)