Classement thématique série 1848–1945:
I. RELATIONS BILATÉRALES
I.9. France
I.9.5. Question de Savoie
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 1, doc. 413
volume linkBern 1990
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2#1000/44#1633* | |
Old classification | CH-BAR E 2(-)1000/44 266 | |
Dossier title | Frage der Besetzung der Provinzen Chablais und Faucigny durch eidg. Truppen beim Übergang Savoyens an Frankreich [Turinervertrag vom 24.3.1860] (1860–1865) | |
File reference archive | B.137.1 |
dodis.ch/41412
Hochgeachteter Herr und Freund,
Ich hatte seit Empfang Ihres verehrlichen Privatschreibens vom 15. November2 so viel Stoff zu amtlichen Rapporten, dass ich mir Vorbehalten musste, etwas später noch auf einen wichtigem Punkt des berührten Schreibens zurükzukommen, was hiermit geschieht. Sie bemerken nämlich: «Sie freuen sich auf den Zusammentritt der Bundesversammlung, um dannzumal mit verschiedenen Mitgliedern die Savoyer-Angelegenheit besprechen und erforschen zu können, ob eine Erledigung derselben im Sinne der Ansichten von Harris Aussichten auf Erfolg hätte oder nicht.»
So viel ich mich erinnere, bestanden die Vorschläge, die Harrisvertraulich zur Sprache brachte, in Folgendem:
1.) Chablais und Faucigny bleiben neutralisirt.
2.) An der Stelle des Genevois wird das Pays de Gex neutralisirt.
3.) Berichtigung der Grenzen durch Gebietsabtretung bis Meillerie und durch Abtretung auf den versants der Walliseralpen gegen Savoyen hin.
4.) Die Bedeutung der Neutralisirung soll darin bestehen, dass im Falle eines Krieges das neutralisirte Gebiet weder von französischen noch von schweizerischen Truppen besetzt werden darf.
5.) Keine Fortifikationen und keine Garnisonen im neutralisirten Gebiet; keine bewaffneten Schiffe auf dem Genfersee. Harris hob dabei hervor, dass auf diesem Weg der Haupteinwurf beseitigt werde, der darin bestehe, dass die Schweiz eine grosse Militärmacht anhalten sollte, ihre Truppen durch die eines ändern Staates auf ihrem eigenen Gebiete ersetzen zu lassen.
6.) Ein solches Arrangement soll gewissermassen als ein modus vivendi abgeschlossen werden, für so lange, als die Mächte, denen allein eine definitive Regulirung zustehe, letztere nicht getroffen haben. Dies, wenn ich nicht irre, der Hauptinhalt der Propositionen von Harris.
Fragen Sie mich, ob Aussicht vorhanden wäre, eine solche Übereinkunft zu Stande zu bringen, so kann ich diesfalls natürlich nichts Bestimmtes Voraussagen. So viel glaube ich als sicher annehmen zu können, dass in weiter reichende Gebietsabtretungen Frankreich nicht einwilligen wird. Ob es sich zum Austausch des Gebietes von Gex statt des Genevois für Neutralisation verstehen würde, muss ich für einmal sehr bezweifeln. Cowley – wie Sie aus meiner letzten Unterredung mit ihm wissen – glaubt: Nein. Ich möchte letzteres doch nicht als eine ganz ausgemachte Sache annehmen, und sofern der Bundesrath näher auf die Propositionen von Harris eingeht, so sollte man jedenfalls versuchen, das Pays de Gex an die Stelle des Genevois zu setzen. Es wäre vielleicht doch eine Verständigung möglich, wenn gleichzeitig die früher proponirte Theilung des Dappenthals in den Bereich der Unterhandlungen hineingezogen werden könnte. Aber auch dann noch ist diese Frage sehr zweifelhaft.
Es ist leicht vorauszusehen, welche Einwürfe gegen ein solches Arrangement erhoben werden können, und ich bedarf dieselben nicht erst auszuführen.
Auf der ändern Seite aber darf man sich auch die Gefahren und Nachtheile, welche mit der Fortdauer des jezigen Standes der Dinge verbunden sind, nicht verhehlen. Ich hebe nur Folgende hervor:
1.) So lange die Savoyerfrage unausgetragen ist, so steht die Schweiz im Falle eines Krieges in Gefahr, mit Frankreich in einen Conflikt zu kommen und in den Krieg hineingezogen zu werden. Man darf sich nur daran erinnern, dass die Frage, ob für eine Besetzung von Nordsavoyen die Zustimmung des Souverains des letztem Gebiets erforderlich sei, gegenüber Sardinien ungelöst geblieben ist, was Frankreich sehr wohl weiss, und dass die Schweiz selbst es ist, welche in die Cessionsakte vom 12. August 1815 den Passus aufgenommen hat «d’y placer des troupes de la manière et aux conditions, qui pourraient être déterminées par des conventions particulières»3; conventions, welche von 1815–1860 nie zu Stande gekommen sind.
2.) So lange eine Verständigung über die Savoyerfrage nicht erzielt werden kann, wird das gespannte Verhältnis zwischen der Schweiz und Frankreich fortdauern, mit seiner fatalen Rückwirkung auf alle ändern Beziehungen und Interessen der Schweiz.
Ob bei der Fortdauer der jetzigen Spannung von einem Abschluss eines Handelsvertrages mit Frankreich die Rede sein kann, steht noch sehr dahin. Und doch würde es bei uns vermuthlich an lauten Klagen wieder nicht fehlen, wenn unsere Industrie und unser Handel in nachtheilige Stellung dadurch versetzt würden, dass solche Verträge mit Deutschland und Belgien zu Stande kämen, mit der Schweiz aber nicht.
3.) Bei der jetzigen entente zwischen England und Frankreich dürften vielleicht die bons offices der erstem Macht bei letzterer mehr Einfluss haben, als wenn durch irgend neue Complicationen diese beiden Grossmächte wieder auf einen gespannten Fuss kommen sollten.
4.) Dass eine wirksame Unterstützung unseres Rechtes von den ändern Mächten nicht zu erwarten steht, hat die bisherige Erfahrung nur zu sehr bewiesen.
5.) Bei der zunehmenden Macht von Sardinien und der Haltung, die letztere schon jetzt einnehmen zu wollen scheint, werden die Gefahren eines fortdauernden gespannten Verhältnisses und eines möglichen Confliktes mit Frankreichin Zukunft für uns noch grösser als bisher.
Das sind einige Gesichtspunkte, die ich nur andeuten wollte, und die Ihnen sicher nicht entgangen sein werden, wenn es sich darum handelt, ob man die Savoyer-Frage einfach dem Schicksal der Zukunft überlassen, oder aber auf Propositionen eingehen wolle, wie sie Harris zur Sprache gebracht hat. Wie man aber auch über diese Frage urtheilen mag, so scheint mir die Verantwortlichkeit, welche damit verbunden ist, wenn man ohne Weiteres die ganze Angelegenheit hängen lässt, so gross zu sein, dass mir vorkömmt, der Bundesrath könne nicht wohl anders, als die Frage: ob man in irgend welcher Form der Anregung von Harris Folge geben wolle oder nicht, zum Gegenstand seiner ernsten Erwägung und Berathung zu machen. Dass er es unmittelbar vor dem Schlüsse seiner Amtsdauer und dem Zusammentrit der Bundesversammlung nicht gerne thun mochte, begreife ich ganz, um so mehr, als es eine rein confidentielle Anregung von Harris war, oder doch wenigstens von letzterm als solche qualificirt worden ist. Aber gerade deshalb scheint mir auch ganz am Platze zu sein, was Sie mir als Ihre Absicht bezeichnen, nämlich zu erfahren zu suchen, wie jene Anregung von den einflussreichsten Mitgliedern der Bundesversammlung aufgefasst und beurtheilt wird. Es ist weit besser, in der exspectativen Stellung zu bleiben und die weitere Entwicklung der Dinge abzuwarten, als Propositionen zum Gegenstand der Unterhandlungen zu machen, die dann, wenn sie wirklich zu einem Vertrag führen sollten, von der Bundesversammlung verworfen würden. Letzteres würde unsere Stellung zu Frankreich nur verschlimmern, nicht aber verbessern, ganz abgesehen davon, dass es für den Bundesrath und seine Organe ebenfalls nicht von ferne wünschbar sein könnte, sich selbst und die Bundesversammlung in eine solche Situation gesetzt zu sehen. Über die Form allfälliger Negociationen hätte man sich vorher natürlich in officiöser Weise zu verständigen. Vorläufig will mir scheinen, dass vielleicht der geeignetste Weg der wäre: wenn England bei beiden Mächten den VermittlungsVorschlag von Harris zuerst zum Gegenstand einer vertraulichen Anfrage machen würde. Doch hierüber könnte man immer noch Vorbehalten sich auszusprechen, wenn man einmal überhaupt der Anregung von Harris weitere Folge geben will.
Dass von Frankreichim jetzigen Stadium der Frage eine Abtretung von Chabiais und Faucigny oder auch nur von Chablais oder des ganzen linken Seeufers nicht zu erhalten ist, liegt so klar zu Tage, dass ich nicht für nöthig halte, dies nur weiter auszuführen. Will man eine solche Gebietsabtretung als Basis weiterer Unterhandlungen festhalten, dann ist es weit besser, die ganze Frage einstweilen ruhen zu lassen, als Forderungen zu erneuern, die im jetzigen Momente von keiner Seite Unterstützung finden, die zu nichts führen würden als dazu, die vorhandene Spannung zu unterhalten und vielleicht noch zu steigern.
Sehr in Frage kommt noch, welche Stellung England in Bezug auf die confidentielle Anregung von Harris officiell und definitiv einnehmen würde. In der Audienz bei Cowley kam mir nicht vor, als ob er dieselbe besonders zu patroniren Lust habe. Es ist übrigens sehr wohl möglich, dass es das englische-Ministerium nicht ungerne sieht, wenn eine Frage ungelöst hängen bleibt, v, pn der es weiss, dass es durch seine Haltung in derselben mehr oder weniger Einfluss bei Frankreichbei ändern Fragen geltend machen kann, die mit seinen eignen Intressen in näherm Zusammenhang stehen. Mehr als diplomatische Unterstützung haben wir jedenfalls nie von England zu erwarten, darüber musste man schon längst im Klaren sein.
So lange der Bundesrath nicht in Folge neuer Berathungen Direktionen ertheilt hat, auf welche Grundlage hin bei jetziger Situation er zu einer Verständigung in der Savoyerfrage Hand zu bieten geneigt sei, und zwar solche, die etwelche Möglichkeit auf Erfolg in Aussicht stellen, so lange scheint mir auch eine kaiserliche Audienz keinen praktischen Werth zu haben, denn die erste Frage des Kaisers würde wohl die sein: «Nun, auf weiche Grundlage hin will der Bundesrath bei jetziger Sachlage zu einer Lösung dieser Angelegenheit Hand bieten?» Ich verkenne die Schwierigkeiten eines Entscheids in dieser Frage im Hinblick auf den ganzen Verlauf derselben keineswegs und wiederhole: lieber in der exspectativen Stellung verbleiben, als zu Negociationen Hand bieten und dann verwerfen, was einzig erhältlich sein dürfte. Aber gerade das macht eine erste Besprechung unter denjenigen, denen die Intressen des Landes anvertraut sind, umso nothwendiger und ich zweifle daher nicht, die Mitglieder des Bundesrathes werden zu diesem Zweck den bevorstehenden Zusammentrit der Bundesversammlung zu benutzen wissen.
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