Classement thématique série 1848–1945:
I. RELATIONS BILATÉRALES
I.9. France
I.9.5. Question de Savoie
Abgedruckt in
Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 1, Dok. 393
volume linkBern 1990
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Archiv | Schweizerisches Bundesarchiv, Bern | |
▼ ▶ Signatur | CH-BAR#E2#1000/44#1647* | |
Alte Signatur | CH-BAR E 2(-)1000/44 274 | |
Dossiertitel | Artikel 4 (Freizone von Savoyen) des Handelsvertrages mit Sardinien, vom 8.6.1851 (1849–1880) | |
Aktenzeichen Archiv | B.137.2 |
dodis.ch/41392 Proposition du Chef du Département du Commerce et des Péages, J. M. Knüsel, au Conseil fédéral1
Gegenstand. Freie Zone in Nordsavoyen; kommerzielle Seite der Frage
Durch Schlussnahme vom 9. ds. hat das Handels- und Zolldepartement den Auftrag erhalten, die Frage über Errichtung einer zollfreien Zone in Nord-Savoyen in kommerzieller Beziehung in einem besondern Memorial zu begutachten, mit Rüksicht auf die der Schweiz daraus erwachsenden Vor- und Nachtheile.2 Nachdem das Departement hierüber auch die Zolldirektion von Genf angehört hat3, beehrt es sich, heute folgenden Bericht zu erstatten:
Die Schweiz besizt, um die Frage zu beurtheilen, welchen Einfluss die Errichtung einer grossen, ganz Nord-Savoyen umfassenden Zone in kommerzieller Beziehung für sie haben und in welcher Weise eine solche Massregel auf ihre Verkehrsverhältnisse einwirken würde, einen sichern Anhaltspunkt in den beiden Genf umgebenden freien französischen und sardinischen Zonen. Erstere, mit einer Bevölkerung von circa 22’600 Einwohnern, besteht in dem sogenannten Pays de Gex, erstrekt sich westlich bis an die Valserine und endet bei Bellegarde; leztere, mit circa 18’300 Einwohnern, umzieht die Ost- und Südgrenze des Kantons Genf von Hermance am Genfer-See bis unterhalb Chancy an der Rhone.
Es sind nun bereits 10 Jahre verflossen seit Verlegung der innerschweizerischen Zölle an die Grenze, und in diesem Zeiträume boten die genannten Zonen vielfache Gelegenheit, ihre Beziehungen zu der Schweiz in allen Richtungen genau kennen zu lernen. Die Resultate dieser Beobachtungen sind den fraglichen Einrichtungen in keiner Weise günstig; die nachfolgenden Erörterungen werden dies unumstösslich feststellen.
Derjenige Handel Genfs, welcher in der vorliegenden Frage in Betracht kömmt, lässt sich in zwei wesentlich voneinander verschiedene Zweige theilen; in seinen Grosshandel mit Kolonial- und Manufakturwaaren, der sich über das ganze, nach dem Beken des Genfer-Sees abdachende Land, von Bellegarde bis Brig, über einen grossen Theil der übrigen Schweiz und Savoyen erstrekt, und in seinen ebenfalls bedeutenden Kleinhandel, welcher nebst demjenigen von Carouge und Chêne, auf mehrere Stunden im Umkreis die Bevölkerung mit ihren Bedürfnissen versieht. Obschon die schweizerischen Grenzzölle äusserst niedrig sind und die freie Konkurrenz in allen Artikeln ermöglichen, so verursachte dennoch die Nähe einer ganz freien Zone, dass sich auf lezterem Landstriche an mehreren Stellen grosse Waaren-Niederlagen bildeten, mit dem doppelten Zweke, einerseits für den Schmuggel nach Frankreich und Savoyen, anderseits für den nach der Schweiz und speziell nach Genf zu dienen.
Nebst diesen Depots entstunden aber auf der freien Zone auch zahlreiche Detail-Geschäfte, die denjenigen Genfs bedeutenden Abbruch zufügten. Der Gross- und Kleinhandel litt unter diesen Verhältnissen und zwar in einer Weise, die, nachdem sich Klagen auf Klagen gehäuft, den Bundesrath endlich zu Massregeln nöthigte, welche zu der Gründung eines Freihafens in Genf führten. Dem Übel war dadurch allerdings einigermassen gesteuert, allein der Schmuggel dauerte fort und es blieben immer noch die mit den Port-franc-Einrichtungen unvermeidlichen lästigen Formalitäten, Einrichtungen, aus denen zudem für den eidgenössischen Fiskus eine jährliche sehr beträchtliche Einbusse erwuchs.
Ebenso grosse Nachtheile, als für den Gross- und Kleinhandel Genfs, zogen die freien Zonen für die schweizerische Zollverwaltung nach sich. Die ohnedies dem Schmuggel geneigte dortige Bevölkerung benüzte ihre bevorzugte Stellung, um diese verwerfliche Beschäftigung in ausgedehntem Masse zu betreiben. Das nöthigte zu unverhältnismässig grossen Ausgaben für die Grenzbewachung, veranlasste häufige, oft ernste Händel, führte zu vielen Beschlagnahmen und Prozessen und wirkte im Allgemeinen entschieden störend auf das gute Einvernehmen der Grenzbevölkerung.
Allein auch für die Bewohner der freien Zonen selbst sind aus dieser Zwitterstellung keine grossen Vortheile erwachsen, weit eher könnte man das Gegenteil behaupten. Namentlich in sittlicher Beziehung hat die Bevölkerung durch diese Verhältnisse entschieden gelitten, indem als Thatsache hingestellt werden kann, dass dadurch der Schmuggel dort einheimischer, allgemeiner wurde und nicht verfehlte, seinen bekannten demoralisirenden Einfluss in fühlbarer Weise zu üben. Ein einziges Beispiel möge als Nachweis hiefür dienen. Der schweizerische Zolltarif vom Jahr 18494 sezte den Zoll für Kälber auf 71/2 c. per Stük (1/2 bz. alte Währung) und für Rindvieh auf 43 c. per Stük (3 bz. a. W.) fest. Als Merkmal der Unterscheidung war verordnet, dass Kälber, denen die Hörner gestossen, als Rindvieh zu verzollen seien. Was geschah: den armen Thieren wurden die Hörner mit Hämmern eingeschlagen und öfter brachte man sie noch mit blutenden Köpfen an die schweizerischen Zollstätten. Dieses Faktum bedarf keines weitern Kommentars. Selbstverständlich wurde hierauf die fragliche Verordnung sogleich abgeändert.
Obschon der Handelsvertrag von 1851 zwischen der Schweiz und Sardinien5 dem Markt- und Grenzverkehr namhafte Erleichterungen brachte, durch Befreiung einer Menge Lebensmittel und Bodenprodukte von allen Zöllen und, schweizerischer Seits, diesem Verkehr noch überdies aller thunliche Vorschub geleistet wurde, so dauerten doch die Reibereien an der Grenze mehrere Jahre an und arteten oft in arge Exzesse aus, die der Zollverwaltung fortwährende Verlegenheiten und Unannehmlichkeiten bereiteten. Wiederholt mussten sogar die Regierungen beider Staaten sich mit diesen Anständen beschäftigen.
Das Pays de Gex seiner Seits ermangelte ebenfalls nicht, in internationaler Beziehung die Nachtheile einer freien Zone an der Grenze fühlbar genug hervortreten zu lassen. Zu den bereits bei der sardinischen Zone signalisirten Übelständen, die sich auch in dieser oder jener Form längs dem Pays de Gex reproducirten, kamen hier noch andere, für die Schweiz nicht minder unangenehme hinzu. Gewohnt, vor Einführung der schweizerischen Zölle frei mit Genf zu verkehren, erhob die dortige Bevölkerung viele Klagen gegen diese Zölle, ungeachtet des niedrigen Betrages derselben. Frankreich, sich auf die Zusazartikel der Verträge von 1815 stüzend, denen die freie Zone des Pays de Gex ihre Entstehung verdankte6, bevorwortete diese Klagen bei der Schweiz und Leztere, ohne sich durch irgend einen Rechtstitel für verpflichtet zu halten, liess sich, um gute Nachbarschaft zu pflegen und in Berüksichtigung der ausnahmsweisen Lage jener Gegend, durch ein im Jahr 1853 abgeschlossenes Übereinkommen7 zu weit gehenden Konzessionen herbei, die nicht nur den Grenz- und Marktverkehr des Pays de Gex mit Lebensmitteln und Landesprodukten so zu sagen vollständig von allen Zöllen befreite, sondern auch einer Menge seines Rohmaterials, seiner Halb- und Ganzfabrikate namhafte Erleichterungen gewährte. Man glaubte dadurch allen Anforderungen der Billigkeit in ausgedehnter Weise entsprochen zu haben und hielt diese Angelegenheit für erledigt. Dem war aber nicht so, denn Frankreich stellte bald nachher weitergehende, neue Begehren und im December 18598 solche von einer Tragweite, die den Finanzen des Bundes grosse Einbussen verursachen müssten, und von denen nachgewiesen werden kann, dass sie in manchen Punkten die Produktionsfähigkeit des Pays de Gex sogar namhaft überschreiten. Frankreich behauptet nämlich, da die Verlegung seiner Douanen-Linie westwärts hinter den Jura auf das Ansuchen des schweizerischen Abgeordneten am Wienerkongresse und auf dessen Angabe, die Schweiz erhebe ebenfalls keine Zölle, bewilligt worden sei, so bedinge dieses Verhältnis Reciprocität Seitens der Schweiz. Ohne hier näher in diese Angelegenheit einzutreten, mag man dieser kurzen Scizze nur entnehmen, wie weit die Anforderungen an die Schweiz gehen für angebliche Vortheile, die in Wirklichkeit für sie nicht bestehen, und wie wenig man dabei in Berüksichtigung gezogen hat, dass ein wesentlicher Theil der schweizerischen Grenzzölle eigentlich nichts anders ist, als der Gegenwerth einer Unzahl von losgekauften, inneren, auf dem Verkehr lastenden Gebühren, deren Betrag jährlich an die Kantone zurükbezahlt werden muss, abgesehen von den grossen Opfern, die die Schweiz dem Transit gebracht hat, den sie, bis auf eine kleine Kontrolgebühr, von seiner frühem drükenden Besteurung gänzlich befreite.
Dieses ist die getreue Schilderung der Stellung der Schweiz in den Jahren 1850 bis und mit 1859 zu den freien Zonen um Genf. Jederman kann hieraus selbst schliessen, ob dieses Verhältnis in kommerzieller und finanzieller Beziehung für sie mit Vortheilen oder Nachtheilen verbunden ist.
Übergehend zu der Frage, welchen Einfluss die Errichtung einer über Nord-Savoyen sich ausdehnenden freien Zone (vorausgesezt, jenes Land befindet sich im Besiz von Frankreich) vom kommerziellen und staatsökonomischen Standpunkte aus betrachtet, auf die Schweiz im Allgemeinen und auf Genf im Besondern üben würde, so liegt, nach dem Vorgesagten, die Antwort nahe genug.
Die grossen Hülfsquellen des mächtigen westlichen Nachbarstaates würden voraussichtlich bewirken, dass das linke Genfersee-Ufer in wenigen Jahren über Verkehrsmittel gebieten könnte, die denjenigen, welche die Schweiz besizt, weit überlegen wären. Gleichen Schritt mit dieser Machtentwicklung dürfte die Gründung von Handelsgeschäften einhalten, begünstigt noch durch eine von allen Zöllen befreite Stellung. Die unmittelbare Folge davon wäre eine erdrükende Konkurrenz gegenüber den Schiffahrts-, Eisenbahn- und Handelsunternehmungen des schweizerischen Seeufers und namentlich gegenüber denjenigen Genfs. Der Hülferuf von daher würde schwerlich lange auf sich warten lassen; allein die Schweiz mit ihren bescheidenen Kräften wäre kaum im Stande, einen solchen Kampf aufzunehmen, der unfehlbar damit enden müsste, den Handel Genfs und den Verkehr des ganzen schweizerischen Seeufers wesentlich zu lähmen.
Aber noch in anderer Richtung hat die Schweiz aus der Umwandlung von Nord-Savoyen in eine freie Zone grossen Schaden zu gewärtigen. Bekanntlich ist das rechte Genfersee-Ufer beinahe überall offen, leicht zugänglich und stark bevölkert. Das linke See-Ufer, einmal von Zöllen befreit, würde im Grossen dasjenige wiederholen, was in kleinerem Massstabe in den freien Zonen um Genf vor sich geht, nemlich schmuggeln. Abgesehen von den ausserordentlichen Kosten, welche die dadurch nothwendig werdende starke Verschärfung der Uferbewachung nach sich ziehen müsste, wäre es zum Schuze der fiskalischen Interessen unausweichlich, eine strenge, den Verkehr wesentlich hemmende Kontrole einzuführen, der nie ganz ein für das Publikum vexatorischer Karakter genommen werden könnte. Die Schweiz würde es höchst bedauern, sich je zu solchen Massregeln gezwungen zu sehen.
Der Einfluss auf die beidseitige Bevölkerung aller dieser mit Sicherheit im Voraus zu beurtheilenden Eventualitäten liegt auf der Hand. Im Gefolge der rivalisirenden Interessen wären Eifersucht, Neid und Verluste aller Art zu gewärtigen und das unausbleibliche jenseitige Ankämpfen gegen die schweizerischen Zolleinrichtungen würde die sich bildende Kluft noch erweitern. Das bisherige gute freundnachbarliche Einvernehmen wäre dadurch sehr gefährdet und leicht möchten demselben nach und nach ganz entgegengesezte Gefühle folgen.
Schliesst man sodann noch in einem ändern Punkte von den das Pays de Gex betreffenden Vorgängen auf die zukünftige Stellung Nord-Savoyens als freie Zone, und sezt voraus, was die Schweiz befürchten muss, Frankreich dürfte zu Gunsten dieser neuen Zone die gleichen Begünstigungen beanspruchen wollen wie für das Pays de Gex, so würde ein Eingehen in solche Zumuthungen das gegenwärtige Zoll- und Finanz-System der Schweiz geradezu vollständig in Frage stellen. Man hätte es nämlich nicht mehr nur mit auf eine Bevölkerung von 22’600 Seelen beschränkten Begünstigungen zu thun, sondern dieselben müssten auf eine wohl 7fach grössere Zahl ausgedehnt werden, und in die schweizerische Zolllinie wäre eine Bresche von einer Grösse geöffnet, die auszufüllen alle Kontrolmassregeln sich als ungenügend heraussteilen müssten.
Man sieht, die Schweiz könnte in der Errichtung einer Nordsavoyen umfassenden zollfreien Zone für sich nicht nur keine Vortheile erbliken, sondern sie muss sich gegen eine solche Massregel, als ihren kommerziellen und fiskalischen Interessen gänzlich widerstreitend, entschieden verwahren.
Das Handels- und Zolldepartement glaubt hiermit dem ihm gewordenen Auftrag nachgekommen zu sein, [...].9
- 1
- E 2/1647.↩
- 2
- Non retrouvé.↩
- 3
- Lettre du 19 avril 1860, non reproduite.↩
- 4
- Du 30 juin 1849. RO I, p.197.↩
- 5
- Du 8 juin 1851. RO II, p. 403.↩
- 6
- Protocole du 29 mars 1815. Martens, NR II, p. 177.↩
- 7
- Cf. Nos 187 et 189.↩
- 9
- Le 13 juin I860, le Conseil fédéral décide que «die Schweiz in der Errichtung einer Nordsavoyen umfassenden zollfreien Zone für sich nicht nur keine Vortheile erblicken könne, sondern sich vielmehr gegen eine solche Massregel, als ihren kommerziellen und fiskalischen Interessen gänzlich widerstreitend, entschieden verwahren müsse, ist beschlossen worden: abschriftliche Mittheilung an den eidgenössischen Minister in Paris. (E 1004 1/41, no 2771).↩