Langue: ns
1918-1957
Bündnerischer Anwaltsverband, Chur
Info Commission Indépendante d'Experts Suisse-Seconde Guerre Mondiale (CIE) (UEK)
Info UEK/CIE/ICE ( deutsch français italiano english):
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Bündnerischer Anwaltsverband, Chur; ohne Signatur. Diverse für die UEK interessante Aktenbestände


Der Bündnerische Anwaltsverband, Chur hat der UEK im September 1998 sämtliche noch aufbewahrten Verbandsakten der Jahre 1933-1950 zugeschickt. Der Bestand umfasst
1. die Akten des 1946 in Chur gegen den Landesverräter, Rechtsanwalt Dr. Josef Franz Barwirsch durchgeführten Bundesstrafprozesses
2. die Protokolle des Vorstandes des Anwaltsverbandes 1931, 1938-1953
3. die Protokolle des Anwaltstages 1935-1953, inkl. Beilagen und Korrespondenzen
4. Verfügungen der Bündnerischen Anwaltskammer 1918-1957
5. Akten, die im Zusammenhang mit den unter Graubündner Anwälten geführte Ehrverletzungsprozesse der Jahre 1946-1948 produziert wurden, und solche, die ebenfalls die Anwaltstätigkeit von Barwirsch zum Gegenstand haben. Für die UEK sind nur diejenigen Akten aus den fünf Beständen von Interesse, die Barwirsch betreffen.

1. Bündnerischer Anwaltsverband, Chur; ohne Signatur. Akten des 1946 in Chur gegen den Landesverräter, Rechtsanwalt Dr. Josef Franz Barwirsch durchgeführten Bundesstrafprozesses.

Das Dossier beinhaltet als einziges Aktenstück die Anklageschrift der schweizerischen Bundesanwaltschaft vom 29.8.1946.
Josef Franz Barwirsch wurde 1900 in Österreich geboren und kam 1924 als Lungenpatient nach Davos. Nachdem Barwirsch das Gesuch gestellt hat, in der Praxis des Advokaten Dr. Moses Silberroth, Davos arbeiten und die Interessen der Holdinggesellschaft Gebr. Böhler AG, Zürich vertreten zu können, ist der Bündnerischen Anwaltsverband nach verbandsinternen Auseinandersetzungen 1927 schliesslich einverstanden, dass Barwirsch die Niederlassung mit Berufsausübung als Rechtsanwalt im Kanton Graubünden erteilt wird und nimmt ihn in den Verband auf. Noch vor dem Eintritt Barwirschs in die Anwaltspraxis von Silberoth kommt es zum Bruch zwischen den beiden, so dass Barwirsch eine eigene Kanzlei eröffnet.  Er erhält das Bündner Anwaltspatent und wird 1931 von der Gemeinde Schmitten eingebürgert. Da Barwirsch als Anwalt teilweise mit deliktischen Methoden und rücksichtslos praktiziert, legen ab 1930 verschiedenen Personen (Rechtsanwalt Dr. Stephan C. Krasa, Wien 1930ff, Dr. Gwerder 1934, Fischer und Caflisch 1936/1937, Lardi 1938, Frey 1940ff, Pazeller 1942) gegen ihn Beschwerden ein. Der Rechtsanwalt und langjährige Präsident des Bündnerischen Anwaltsverbandes Peter Badrutt, Chur setzt sich immer wieder für Barwirsch ein und wird deshalb von Rechtsanwalt Moses Silberroth während und nach dem Krieg angegriffen. Alle Einsprachen gegen Barwirsch enden mit Einstellung oder Freispruch.
In lokalen politischen Auseinandersetzungen hält sich der im Chalet "Rhenania", Davos wohnhafte Barwirsch zwar zurück; er gehört jedoch bereits früh dem Kreis um Wilhelm Gustloff, den 1936 ermordeten Leiter der Auslandgruppe Schweiz der NSDAP an. Barwirsch unterstützt finanziell SA-Leute und arbeitet detaillierte Pläne und Denkschriften für den politischen Anschluss der Schweiz an das Reich aus. Er wird am 20.11.1945 verhaftet und am 20.12.1946 vom Bundesstrafgericht Chur zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt. 1954 flüchtet er nach Österreich, von wo aus Barwirsch die Schweizerische Eidgenossenschaft auf Schadenersatz verklagt. Im Juni 1975 weist das Bundesgericht die Klage von Barwirsch ab.
Gemäss der Anklageschrift der schweizerischen Bundesanwaltschaft vom 29.8.1946 kam Barwirsch Anfang 1939 über Dr. Fritscher, Direktor des Kreditanstalt-Bankvereins Wien und über den in Wien als Anwalt tätigen Nationalsozialisten Dr. Ernst Hoffmann mit Dr. Arthur Seyss-Inquart (damals Reichsstatthalter in Wien und 1946 als Hauptkriegsverbrecher zum Tode verurteilt) in Kontakt und arbeitete seit Frühjahr 1940 für Dr. Ernst Kaltenbrunner (damals oberster SS- und Polizeiführer von Wien und später Leiter des Reichssicherheits-Hauptamtes, als Hauptkriegsverbrecher 1946 zum Tode verurteilt). Ernst Hofmann (Mitglied der NSDAP, rückte während des Krieges bis zum SS-Obersturmbannführer vor) traf Barwirsch häufig und übermittelte dessen Berichte an Seyss-Inquart. Weitere Kontaktpersonen waren SS-Brigadeführer Walter Schellenberg und der Stuttgarter Spionagechef Dr. Klaus Hügel.

2. Bündnerischer Anwaltsverband, Chur; ohne Signatur. Protokolle des Vorstandes des Anwaltsverbandes 1931, 1938-1953

Die mageren Protokolle behandeln am Rande die Beschwerden gegen die Anwaltstätigkeit Barwirschs (1931) und die Ehrverletzungsprozesse nach dem Krieg (1946). Interessanterweise ist der Landesverratsprozess gegen Barwirsch gemäss den vorliegenden Protokollen im Vorstand kein Thema.



3. die Protokolle des Anwaltstages 1935-1953,
Bündnerischer Anwaltsverband, Chur; ohne Signatur. Protokolle des Anwaltstages 1935-1953

Die Protokolle enthalten auch Beilagen und Korrespondenz.


4. Verfügungen der Bündnerischen Anwaltskammer 1918-1957:

4.1 Bündnerischer Anwaltsverband, Chur; ohne Signatur. Verfügungen der Bündnerischen Anwaltskammer 1918-1957

Von Interesse könnte der Hinweis sein, dass Moses Silberroth, in Vertretung eines Notars E. Küenzi, verm. Bern vor 1935 gegen die Firma Xylothin AG, Thusis einen Forderungsprozess geführt hat, der aber vermutlich wegen Zahlungsunfähigkeit von Küenzi abgebrochen werden musste.

4.2 Bündnerischer Anwaltsverband, Chur; ohne Signatur. Akten Beschwerde des Emigranten Alexander Frey, Hotel Bellavista Davos-Platz, gegen Dr. Josef Franz Barwirsch wegen angeblicher Unterschlagung von 200 $ 1940-1942

Alexander Frey, der durch Moses Silberroth vertreten wird, klagt Barwirsch an, 200 $ unterschlagen zu haben. Barwirsch wird von den Rechtsanwälten Dr. Peter Badrutt, Chur und Dr. Eugen Curti, Zürich verteidigt und freigesprochen. Die Akten enthalten keine für die UEK wichtigen Informationen.


5. Bündnerischer Anwaltsverband, Chur; ohne Signatur. 1. Akten gegenseitige Ehrverletzungsklagen von Dr. Moses Silberroth, Davos und Dr. A. Engi, Redaktor des "Freien Rätiers" Chur 1946. 2. Strafklage von Dr. Moses Silberroth, Davos gegen Dr. Peter Badrutt betreffend Ehrverletzung, Chur 1946

Aus den Akten geht hervor, dass der Rechtsanwalt und langjährige Präsident des Bündnerischen Anwaltsverbandes Peter Badrutt im Strafprozess David Frankfurter vor dem Kantonsgericht Graubünden vermutlich die Witwe des 1936 ermordeten Leiters der Auslandgruppe Schweiz der NSDAP, Wilhelm Gustloff, vertritt und in derselben Sache den Rechtsanwalt Dr. Ursprung aus Zurzach und einen gewissen Prof. Grimm berät. Badrutt verteidigt sich im März 1946 in verschiedenen Graubündner Zeitungen gegen öffentliche Angriffe von Silberroth und wirft diesem vor, unbegründete Strafanzeigen gegen Kunden* von Dr. Barwirsch angestiftet zu haben, auf "hinterlistige" Weise gegen Barwirsch vorgegangen zu sein und nicht nur über diesen und andere Personen ein Kriminalarchiv angelegt zu haben, sondern auch als Bankrat der Graubündner Kantonalbank ein "wirtschaftliches Archiv" über deren Kunden zu führen. Silberroth klagt darauf Badrutt wegen Ehrverletzung vor der Anwaltskammer ein.
Gemäss einem von Frau Martha Barwirsch am 30.11.1946 abgesandten Brief bestanden zwischen den beiden Rechtsanwälten Barwirsch und J. Oklé, Chur gute Beziehungen.
* Caspar, Brückner und Barwirsch werden vom Konkursbeamten in Davos wegen Konkursbetrugs angeklagt. Nach einer Intervention von Badrutt wird die Klage fallen gelassen.  
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