Language: German
2005
Aram Mattioli: Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935-1941. Orell-Füssli-Verlag, Zürich 2005. 239 Seiten.


Bibliographical reference (Bib)
Cf. NZZ du 23.10.2005:
Italiens Horror-Krieg
Die Unmenschlichkeit von Mussolinis Herrschaftssystem zeigt sich in den massiven Giftgaseinsätzen gegen Äthiopien
Italiens Horror-Krieg

Aram Mattioli: Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935-1941. Orell-Füssli-Verlag, Zürich 2005. 239 Seiten

Von Tobias Kaestli

Mussolini wollte nicht nur das Mittelmeer beherrschen, sondern darüber hinaus an die Ozeane vorstossen und ein Weltreich begründen. Italien, das in weiten Teilen immer noch ein zurückgebliebenes Agrarland war, sollte unter faschistischer Führung in die Liga der Weltmächte aufsteigen. Der Duce glaubte sich berechtigt, dieses Ziel unter Missachtung aller Regeln der internationalen Rechtsordnung und mit skrupellos eingesetzten Gewaltmitteln verfolgen zu dürfen. Er beendete seinen Streit mit der Kirche, arrangierte sich mit dem Papst und brachte so eine ganze Reihe von hohen kirchlichen Würdenträgern auf seine Seite. Diese taten nicht wenig, um die Kriegseinsätze der italienischen Armee in den Augen der Öffentlichkeit als zivilisatorische Mission und Kreuzzug für den rechten Glauben erscheinen zu lassen.

Am 28.10.1935 predigte Kardinal Idelfonso Schuster im Dom zu Mailand für die Unterstützung der faschistischen Ziele: «Wirken wir daher mit Gott in dieser nationalen und katholischen Mission des Guten mit; vor allem in diesem Augenblick, in dem das Banner Italiens auf den Schlachtfeldern Äthiopiens im Triumph das Kreuz Christi trägt, die Ketten der Sklaven zertrümmert und die Strasse den Missionaren des Evangeliums ebnet.» Äthiopien - damals oft noch mit dem älteren Namen als Abessinien bezeichnet - war nach Eritrea und Libyen das nächste Ziel des faschistischen Expansionsdrangs. Der Staat des Negus wurde von Mussolinis Propagandamaschinerie als barbarisches Land dargestellt, in dem eine minderwertige Menschenrasse fern jeglichen zivilisatorischen Errungenschaften in Sklaverei dahinvegetierte. Dieses Land zu unterwerfen, sei eine erhabene Mission, hiess es schon lange vor dem Kriegsbeginn vom 3.10.1935.

Dass Äthiopien die Wiege einer alten christlichen Kultur war, dass dieser Staat unter Kaiser Menelik II. und dann unter Haile Selassie I. den Weg der Modernisierung einschlug und sich als einziges afrikanisches Land die Unabhängigkeit bewahrte, dass es Mitglied des Völkerbunds war und sich zu Recht darauf berief, dass der Völkerbundspakt jede kriegerische Aggression zwischen Mitgliedländern ächtete, schien in Italien niemanden zu kümmern. Mussolini war, wie Mattioli in seinem Buch eindringlich zeigt, ein begabter Schönredner. Es gelang ihm, die Lüge als Wahrheit und das Verbrechen als Wohltätigkeit erscheinen zu lassen. Eine scharfe Zensur verhinderte, dass nicht genehme Nachrichten die italienische Öffentlichkeit erreichten. So ist es zu erklären, dass sich bis vor wenigen Jahren die Meinung hielt, Mussolinis Herrschaftssystem sei zwar undemokratisch, aber keineswegs unmenschlich und schon gar nicht rassistisch gewesen. Wer in Italien das Faktum anprangerte, dass die italienischen Generäle mit Billigung oder auf Befehl Mussolinis und entgegen klaren internationalen Rechtsnormen Giftgas gegen die Bevölkerung Afrikas einsetzten, galt bis vor kurzem als bösartiger Verleumder.

Ministerpräsident Berlusconi verstieg sich unlängst zur Behauptung, Mussolini habe seine Gegner nie umgebracht. Mit solchen Beschönigungen räumt Mattioli gründlich auf. Deutlich lässt er den Zynismus und die Doppelzüngigkeit des Diktators hervortreten, und in prägnanter Art erzählt er von der grauenhaften Gewalt, welche die italienischen Truppen auf Befehl von Rom der afrikanischen Bevölkerung antaten. Detailliert schildert er vor allem den Gaskrieg, die Art des Einsatzes und die Wirkung der heimtückischen Senfgasbomben. Er zitiert den IKRK-Delegierten Marcel Junod als Augenzeugen und kommt zum Schluss, was Haile Selassie am 30.6.1936 vor der Völkerbundsversammlung in Genf vorbrachte, habe den Tatsachen entsprochen: «Der tödliche Regen, den die Flugzeuge ausbrachten, liess all die, die mit ihm in Berührung kamen, vor Schmerzen schreien. Alle, die vergiftetes Wasser tranken oder verseuchte Nahrung assen, starben ebenso, fürchterliche Qualen leidend. Die Opfer des italienischen Senfgases gingen in die Zehntausende.»

Warum schrie die Weltöffentlichkeit nicht auf? Warum begnügte sich der Völkerbund damit, halbherzige Sanktionen zu verhängen? Hätten England und Frankreich die Nachschubwege durch den Suezkanal gesperrt oder ein Erdölembargo verfügt, hätte Mussolini schnell von seinen verbrecherischen Plänen ablassen müssen. Aber die Grossmächte waren selber Kolonialmächte, und sie wollten Italien nicht zum Feind haben, sondern auf ihre Seite ziehen, um Hitlerdeutschland einzudämmen. Die Rechnung ging nicht auf: Hitler fühlte sich durch die schwache Reaktion des Völkerbunds ermutigt, seinerseits das Völkerrecht zu brechen, Aggressionskriege zu beginnen und die Zivilbevölkerung der besetzten Länder und beinahe die ganze Judenheit hinzumetzeln. Und Mussolini fühlte sich legitimiert, seine Grossmachtsträume im Bündnis mit dem Dritten Reich weiterzuverfolgen.

Hätten die Völkerbundstaaten sich an die von ihnen geschaffenen Grundsätze gehalten und die völkerrechtlichen Regeln durchgesetzt, so hätte Mussolini Abessinien nicht erobern, dort kein Terrorregime und keine Konzentrationslager errichten und keine rassistische Apartheidspolitik durchsetzen können. Er hätte es nicht mehr wagen können, zwischen Italienisch-Ostafrika und Libyen eine Landverbindung zu erobern und gleichzeitig in den Balkan vorzustossen. Der Weg zum Zweiten Weltkrieg wäre möglicherweise rechtzeitig blockiert worden. Diese Einsicht jedenfalls legt Aram Mattioli dem interessierten Leser nahe. Die Studie des Luzerner Geschichtsprofessors mit italienischen Wurzeln eröffnet der deutschsprachigen Leserschaft neue Aspekte der Geschichte des Zweiten Weltkriegs und allgemein der Geschichte der Gewaltanwendung im 20. Jahrhundert.
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