Language: German
19.1.1926 (Tuesday)
Protokoll der Sitzung des Bundesrates vom 19.1.1926
Minutes of the Federal Council (PVCF)
Motta orientiert den Bundesrat über einen neuen französischen Vorschlag zur Beilegung des schweizerisch-russischen Konfliktes. Die französische Regierung ersucht dringend, eine Lösung zu finden. Ohne Beteiligung Russlands würde die Abrüstungskonferenz fast wertlos; dazu sei die Stellung von Genf als Völkerbundssitz gefährdet.

Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
III. BILATERALE BEZIEHUNGEN
22. Russland
22.1. Wiederaufnahme von Handelsbeziehungen

Darin: Pro Memoria mit den schweizerischen Änderungen zum französischen Textvorschlag vom 18.1.1926. Annex vom 19.1.1926
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Printed in

Walter Hofer, Beatrix Mesmer (ed.)

Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 9, doc. 148

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Bern 1980

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dodis.ch/45165
Protokoll der Sitzung des Bundesrates vom 19. Januar 19261

86b. Beziehungen zu Russland

Mündlich

Der Vorsteher des politischen Departements gibt zunächst einen Überblick über den Gang der bisherigen, durch Vermittlung des französischen Botschafters und der französischen Regierung geführten Unterhandlungen zur Beseitigung des von Russland über die Schweiz verhängten Boykotts und zur allmähligen Wiederanbahnung von Beziehungen zwischen der Schweiz und Russland. Er erinnert auch an die Wichtigkeit der Beilegung des Zwistes mit Russland für die schweizerische Volkswirtschaft und namentlich an die ausserordentlich weitreichende internationale Bedeutung dieser Verhandlungen, deren Ausgangspunkt in der Frage der Beteiligung von Abgeordneten der russischen Regierung an der vom Völkerbund nach Genf einberufenen Vorkonferenz zu einer allgemeinen Abrüstungskonferenz liegt. Die Angelegenheit ist dringlich, weil die Vorkonferenz schon am 15. Februar zusammentreten soll. Das vom Bundesrat am 16. Januar 1926 genehmigte Pro Memoria2 ist der russischen Regierung schon zur Kenntnis gebracht worden. Es willigte darein, dem Ausdruck der Verurteilung (réprobation) des Mordes an Worowski denjenigen des Bedauerns über diese Tat beizufügen, sofern die russische Regierung die seinerzeit gegen den Bundesrat gerichteten Beleidigungen zurücknähme durch einen Satz, der besagen würde, sie (die Sovietregierung) gebe zu, dass die seinerzeit ausgesprochenen Verdächtigungen (oder Anklagen) aus einer ungenauen Berichterstattung hervorgegangen seien und jede Daseinsberechtigung verloren haben. In bezug auf die materielle Hülfeleistung an die Tochter Worowskis schlug der Bundesrat vor, zu sagen «... und dass er (der Bundesrat) überdies bereit sei, im Zeichen menschlichen Mitgefühls die Gewährung einer materiellen Unterstützung an die Tochter Worowskis ins Auge zu fassen, sobald einmal eine allgemeine Erörterung der Fragen einsetzen könne, die zwischen den beiden Ländern noch zu regeln sind». Der Präsident hatte dann noch die Anregung gemacht, in das Schriftstück einen Absatz einzufügen, wonach der Bundesrat auf die Zurücknahme der Beleidigungen verzichten könnte, wenn die Hülfeleistung an die Tochter Worowskis nicht mehr erwähnt würde. Der Vorsteher des politischen Departements hat sich dann aber nachträglich mit dem Präsidenten darüber verständigt, dass diese Anregung nicht in das Pro Memoria aufgenommen, sondern dem französischen Botschafter nur mündlich mitgeteilt werden soll, weil sie sich der Kundgebung als Ganzem nicht wohl eingefügt hätte.

Dieser Vorschlag ist der russischen Regierung durch Vermittlung Frankreichs unterbreitet worden, und gestern schon legte der Botschafter einen neuen Vorschlag3 in der Sache vor. Er bemerkte dabei, die französische Regierung ersuche dringend darum, einer Lösung zuzustimmen, die beide Teile befriedige, und wies auf die Wichtigkeit einer Einigung für alle an der Abrüstungsfrage Beteiligten hin. Ohne Beteiligung der Russen würde die Abrüstungskonferenz fast wertlos. Wenn aber sich die Frage so zuspitzen sollte: entweder Konferenz mit Beteiligung Russlands ausserhalb Genfs, oder Abrüstungskonferenz ohne Beteiligung Russlands, dann würde es schwer sein, die Konferenz nicht an einem ändern Ort als Genf abzuhalten. Würde aber der Völkerbund durch die Haltung der Schweiz genötigt, die Konferenz ausserhalb Genfs abzuhalten, dann rücke doch die Gefahr nahe, dass die ganze Frage des Sitzes des Völkerbundes aufgerollt würde, wenn z.B. späterhin Russland seinen Beitritt zum Völkerbund von der Sitzfrage abhängig machen sollte. Als der Vorsteher des politischen Departements hierauf zu verstehen gab, der Bundesrat und die öffentliche Meinung der Schweiz könne in dieser Angelegenheit einen eigentlichen Druck von Aussen nicht annehmen, milderte sich der Ton der Vorstellungen. Doch drängte der Botschafter auf eine baldige Antwort auf seinen neuen Vorschlag, da die Sovietregierung am 20. dieses Monats in einer Sitzung die Angelegenheit behandeln möchte, wobei dann von Seiten Frankreichs ebenfalls auf eine endgültige Regelung gedrungen würde.

Der neue Vorschlag unterscheidet sich in folgenden Punkten vom frühem4:

1. In der von Frankreich im Einverständnis mit dem Bundesrat der russischen Regierung zu übergebenden Erklärung würde gesagt, dass die französische Regierung «a obtenu de la part du Gouvernement de la Confédération suisse des déclarations...», während es früher hiess «a recueilli...». Der Botschafter hält «obtenu» für besser, weil es deutlicher die Vermittlung eines Dritten hervortreten lässt, als das farblosere «recueilli» mit dem Beigeschmack des Zufälligen;

2. der Ausdruck des Bedauerns (regrets) fiele weg, nur das Missbilligen (réprouver) bliebe stehen;

3. als Verschlimmerung ist die dritte Abweichung zu betrachten; die besteht darin, dass der Bundesrat sich bereit erklärt «dans une pensée spontanée d’apaisement, à offrir à la fille de M. Worowski une aide matérielle dont les modalités pourront être discutées lorsque des négociations directes s’engageront entre les deux Gouvernements de l’U.R.S.S. et la Confédération suisse».

Zwar schliesst wohl die Stelle «dans une pensée spontanée d’apaisement» jede Anerkennung einer Schuld als Grundlage für die Entschädigung aus. Dagegen spitzt sich jetzt, wie vorausgesehen wurde, dieser Teil der Erklärung auf das Anerbieten (offrir) einer Entschädigung zu. Der Nachsatz hat auch nach der Auffassung des Botschafters den Sinn, dass unter den «négociations» nicht besondere Verhandlungen über die Entschädigung an die Tochter Worowskis, sondern die allgemeinen Verhandlungen über alle zwischen der Schweiz und Russland schwebenden Fragen zu verstehen sind. Diesem Gedanken ist im zweitletzten Absatz des Pro Memoria-Entwurfes Ausdruck gegeben, den der Vorsteher des politischen Departements dem Bundesrate zur Genehmigung vorlegt.

Vom Zurücknehmen der Beleidigungen ist in dem neuen Vorschlag allerdings nicht mehr die Rede; allein der Bundesrat hat seinerzeit auf das erste Telegramm Tschitscherins deutlich genug geantwortet, und es scheint fast des Bundesrates unwürdig, diese schmutzige Angelegenheit noch einmal aufzurühren. Auch liegt in der Aufhebung des Boykotts durch Russland gleichzeitig die stillschweigende Zurücknahme der Beleidigungen.

Wie aus dem Drängen Frankreichs zu entnehmen ist, sind die Verhandlungen nun so weit gediehen, dass der neue Vorschlag angenommen oder verworfen werden muss, im Fall der Verwerfung mit allen schon erwähnten Folgen auf internationalem und auf dem Gebiet des Völkerbundes. Wenn auch nicht leichten Herzens, so beantragt der Vorsteher des politischen Departements doch, dem neuen Vorschlag zuzustimmen und ihn zu ermächtigen, den Botschafter hievon zu verständigen.

In der Beratung wird zunächst hervor gehoben, dass der Druck von Aussen sich nun eingestellt habe, da der Botschafter unverblümt auf die Folgen des Scheiterns einer Einigung mit Russland hingewiesen hat. Die Frage der Sitzes des Völkerbundes heischt jetzt recht anspruchsvoll Berücksichtigung bei den Entschliessungen über die schweizerische Aussenpolitik, und da jene Frage beim Beitritt der Schweiz zum Völkerbund innerpolitisch eine wesentliche Rolle gespielt hat, so fehlt auch die Rückwirkung auf die Innenpolitik nicht. Kommt eine Einigung jetzt mit Russland nicht zustande, so werde daraus bei den Mächten, die an der Abrüstungskonferenz teilnehmen und die Russen dabei haben wollen, eine Verstimmung entstehen und der Druck von Aussen werde sich noch verstärken; überdies aber werde Russland in Zukunft jede Gelegenheit ergreifen, um die Frage des Völkerbundssitzes neuerdings als Druckmittel gegenüber der Schweiz wirken zu lassen. Daher scheine es angezeigt, die Gelegenheit zu einer vorläufigen Verständigung mit Russland nicht unbenützt zu lassen.

Von anderer Seite wird dagegen erklärt, der jetzige Vorschlag sei mit der Idee der Gerechtigkeit schlechterdings nicht, mit der Würde des Bundesrates kaum vereinbar. Die letzte Beziehung der Schweiz zu Russland habe in der Abwehr der unerhörten Beleidigungen der Noten Tschitscherins nach dem Attentat auf Worowski bestanden. Von einer Zurücknahme dieser Beleidigungen durch Russland sei im neuen Vorschlag nicht mehr die Rede. Dagegen biete der Bundesrat der russischen Regierung eine Entschädigung zu Gunsten der Tochter Worowskis an, trotzdem für ihn hiezu keinerlei Rechtspflicht bestehe, und er bringe diese Entschädigung nicht einmal in Zusammenhang mit den berechtigten Forderungen, die die Schweiz wegen der Plünderung der schweizerischen Gesandtschaft und der Erschiessung eines Schweizers in der Gesandtschaft in Petersburg durch die Truppen der Sovietregierung zu stellen habe, und mit dem Ersatz des Schadens, der Tausenden von Schweizerbürgern in Russland durch die Taten und Anordnungen der Sovietregierung zugefügt worden ist. Auf diese Weise würde eine Vorzugsbehandlung eingeräumt zu Gunsten einer unbegründeten Forderung derjenigen Regierung, die nicht daran denke, den berechtigten Forderungen der Schweiz und der Russlandschweizer Rechnung zu tragen. Eine solche Haltung des Bundesrates würde nicht verstanden werden. Die Anerkennung de jure werde doch aus den ebengenannten Gründen vom Bundesrat verweigert, aber dieselben Gründe sprechen auch gegen das Anerbieten einer materiellen Hülfe zu Gunsten der Tochter Worowskis. Von einer solchen könnte nur dann die Rede sein, wenn sie mit der Entschädigung für die Untaten der Sovietregierung gegenüber der Schweiz und den Russlandschweizern in Zusammenhang gebracht würde. Die Russen seien geriebene Erpresser. Sie werden seinerzeit ihren Beitritt zum Völkerbund von der Anerkennung de jure durch die Schweiz abhängig machen. Wenn der Bundesrat jetzt eine materielle Hülfeleistung für die Tochter Worowskis anbiete, so sei das der erste Schritt auf einem Weg, wo seiner noch weitere Demütigungen warten. Denn andere Staaten werden auch nicht zögern, unannehmbare Forderungen zu stellen, wenn sich der Bundesrat gegenüber den Forderungen der russischen Regierung allzu nachgiebig zeigt. Wer eine würdelose Politik treibt, wird auch wirtschaftlich mit Füssen getreten und vernachlässigt.

Diesen Einwänden gegenüber wird geltend gemacht, dass sie zwar vollauf Berücksichtigung verdienten, wenn es sich lediglich darum handelte, das Verhältnis zwischen der Schweiz und Russland zu regeln. Mit dieser Regelung ist aber hier die Lösung von Fragen verknüpft, die für die ganze Welt von Bedeutung sind, und es genügt, daran zu erinnern, dass von der Haltung des Bundesrates allenfalls das Verbleiben des Sitzes des Völkerbundes in Genf abhängt, um zu zeigen, welch grosse innerpolitische Bedeutung der Angelegenheit überdies zukomme. Die völlige Ausschaltung der Erwähnung einer materiellen Hilfe für die Tochter Worowskis sei aber auch schon deshalb ausgeschlossen, weil der Bundesrat in seinem Pro Memoria vom 16. Januar darein eingewilligt habe, hierüber eine Stelle in die Erklärung aufzunehmen, und es nicht angehe, jetzt hinter das zurückzugehen, was damals angeboten und inzwischen als ungenügend abgelehnt wurde. Auch sei der Bundesrat damals schon darüber einig gewesen, dass auf eine ausdrückliche Zurücknahme der Beleidigungen der Sovietregierung verzichtet werden könne, da diese Zurücknahme in der Aufhebung des Boykotts stillschweigend enthalten sei.

Im Einzelnen werden folgende Änderungen am Wortlaut der Erklärung vorgeschlagen:

Zu 1 oben: Das Wort «obtenu» soll ersetzt werden durch das farblosere «reçu», da dem Bundesrate gar nichts daran liegen könne, auch hier noch die Vermittlerrolle Frankreichs besonders zu betonen.

Zu 3 oben: Da der Bundesrat darauf halten muss, die Frage der materiellen Hülfeleistung für die Tochter Worowskis in Zusammenhang zu bringen mit den Entschädigungsforderungen, die der Schweiz gegenüber Russland und seiner Regierung zustehen, und dieser Zusammenhang bei der jetzigen Fassung der betreffenden Stelle nicht zum Ausdruck kommt, so sollte diese Stelle entsprechend umgestaltet werden. Überdies wäre darin das ein allzu weites Entgegenkommen bezeugende Wort «offrir» zu ersetzen und das der Wahrheit nicht entsprechende Wort «spontanée» zu streichen. Es wird für diese Stelle folgende Fassung vorgeschlagen:

«... et qu’en outre, il est disposé, dans une pensée d’apaisement, à accorder à la fille de M. Worowski une aide matérielle à discuter lorsque des négociations directes s’engageront entre les deux Gouvernements de l’U.R.S.S. et de la Confédération suisse sur l’ensemble des questions qui sont à régler entre les deux pays».

Der Vorsteher des Finanzdepartements erklärt zu Protokoll, er könne auch der so abgeänderten Fassung der Erklärung aus den in der Beratung angeführten Gründen nicht zustimmen.

Die gemäss den eben erwähnten Abänderungsvorschlägen bereinigte Fassung der Erklärung wird hierauf mit fünf Stimmen gegen eine Stimme genehmigt und der Vorsteher des politischen Departements ermächtigt, diese Fassung dem französischen Botschafter als neuen Vorschlag des Bundesrates mitzuteilen und beizufügen, der Bundesrat gehe damit an die äusserste Grenze dessen, was ihm geboten erscheine5.

1
E 1004 1/298. Abwesend: Schulthess.
2
Vgl. Nr. 147.
3
Vgl. Annex.
4
Vgl. Nr. 147.
5
Das diesbezügliche Pro Memoria ist als Annex abgedruckt.