Berlin, 30. Juni/1. Juli 1920
Das diplomatische und bis zu einem gewissen Grade auch das politische Ereignis des Tages bildet die plötzliche Ankunft des neuen Nuntius, Monsignore Pacelli, der heute oder morgen sein Beglaubigungsschreiben dem Reichspräsidenten überreichen soll, und der schon auf Donnerstagabend eine Anzahl Diplomaten zu sich zum Diner geladen hat. Die Gesichtspunkte, nach welchen die Auswahl für diese Einladung erfolgte, bilden natürlich den Gegenstand des allgemeinen Interesses der diplomatischen Kreise. Ich weiss nicht, ob ich die Ladung, die mir zugegangen ist, auf Rechnung der neu zu errichtenden Nuntiatur in Bern oder auf meine früheren persönlichen Beziehungen zum Vatikan zu setzen habe. Wichtiger als diese Frage ist aber der andere Zweck der so unvermittelt eingesetzten Aktion des Nuntius; offenbar soll auf diesem kürzesten und einfachsten Wege die Frage wegen des Dekanates gelöst und durch die Anciennität bewirkt werden, dass der apostolische Nuntius ohne weiteres der Doyen des diplomatischen Korps sein wird. Diese Lösung liegt nicht nur im Interesse des Vatikans, der darauf hält, den Doyen zu stellen und der keinen Einbruch in das hergebrachte Protokoll riskieren will, sondern sie entspricht auch den Wünschen des deutschen Auswärtigen Amtes, welches auf diesem Wege die Abmachungen der Alliierten durchkreuzt, die bekanntlich dahin gingen, dass der französische Botschafter Doyen in Berlin werden solle. Wie man sich bei den Alliierten zu diesem kleinen Staatsstreich stellen, ob man gute Miene zum bösen Spiel machen oder wieder einen Teil von Deutschland besetzen wird, um den Willen des obersten Rates durchzusetzen, bleibt abzuwarten. Für die Unbeteiligten wirkt dieser Wettlauf nach dem Dekanate überaus erheiternd, und es ist den Deutschen zu gönnen, dass die Vatikanische Vigilanz ihnen einen vorläufigen Erfolg gebracht hat in einer Frage, in welcher zwar keine Weltinteressen auf dem Spiele stunden, deren andere Lösung aber doch der deutschen Regierung mancherlei Widerwärtigkeiten hätte bringen können. Herr Laurent, der neue französische Botschafter, hätte morgen in Berlin ankommen sollen – ob er nun seine Abreise nicht verschieben wird, nachdem sein Konkurrent als Erster durchs Ziel gegangen ist, bleibt abzuwarten. Anlässlich eines Empfanges beim französischen Geschäftsträger, an dem ich gestern abend teilgenommen habe, meinte Herr de Marcilly «de cette façon la question du décanat sera tranchée d’une manière très simple.» Diese Bemerkung würde darauf schliessen lassen, dass die französische Diplomatie bereit wäre, die Priorität des Nuntius als fait accompli anzuerkennen und die Konsequenzen daraus zu ziehen.
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