Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
V. FREMDENPOLIZEILICHE FRAGEN
1. Verschiedenes
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 5, doc. 210
volume linkBern 1983
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E1004.1#1000/9#9934* | |
Dossier title | Beschlussprotokoll(-e) 24.12.-26.12.1907 (1907–1907) |
dodis.ch/43065 Protokoll der Sitzung des Bundesrates vom 24. Dezember 19071
6672. Fall Dide in Genf
Am 22. Oktober 1907 brachte Herr Bundesrat Forrer den Fall des Franzosen Dide in Genf zur Sprache2, der, obwohl in Genf niedergelassen, in einem Rechtsstreit gegen das Journal de Genève die Klage in Frankreich angebracht hat. Herr Forrer machte die Anregung, Dide sei, als die öffentliche Sicherheit gefährdend, aus der Schweiz auszuweisen.
Die Angelegenheit wurde zur vorläufigen Untersuchung und Prüfung dem Justiz- & Polizeidepartement und von diesem der Bundesanwaltschaft überwiesen.
Letztere erstattet nun Bericht3 und schliesst wie folgt:
«Der Staatsrat des Kantons Genf, dem die Frage der Ausweisung des Herrn Dide und allfällig anderer in diese Streitigkeiten verwickelter Fremder vorgelegt wurde, ist einstimmig der Ansicht, es falle diese Angelegenheit nicht unter Art. 70 der Bundesverfassung, und es sei weder Herr Dide noch sonst jemand dieser Sache wegen aus der Schweiz auszuweisen.
Wir glauben ebenfalls, dass mit einer solchen Massregel nur Öl ins Feuer gegossen würde. Wenn auch das Verhalten der Herren Dide und David4 in mehrfacher Beziehung als ein taktloses und provokatorisches bezeichnet werden muss, so halten wir doch nicht dafür, dass es die Ausweisung der beiden Herren rechtfertigen würde.
Wenn gewisse französische Politiker in ihrem Verhalten auf Genfer Boden mitunter die im internationalen Verkehr übliche Reserve vermissen lassen, so ist dies doch vielleicht zum Teil den im Kanton Genf bestehenden Verhältnissen zuzuschreiben.
Dass der in Genf wohnhafte Herr Dide gegen den Redaktor des Journal de Genève wegen der in Genf publizierten Artikel5 nicht am Wohnort des Urhebers und da, wo die angeblichen Beleidigungen dem Verletzten zur Kenntnis kamen, Klage erhoben hat, sondern im Auslande, wohin die Publikation nur zufällig verbreitet wurde, ist mit Recht vielfach als ein abnormes Verfahren kritisiert worden. Dagegen liegt die Entscheidung über die Kompetenz der französischen Gerichte zur Sache gänzlich in deren eigener Gewalt ohne Einspruchsrecht der schweizerischen Behörden; die letzteren werden lediglich, sofern wegen dieser Klage eine Verurteilung des Schweizerbürgers im Auslande erfolgen sollte, im geeigneten Zeitpunkte ihm Rechtsschutz zu gewähren haben gegen Versuche der Urteilsvollstreckung, sofern sie mit dem nationalen und internationalen Rechte im Widerspruch stehen.
Auf den Antrag der Bundesanwaltschaft und des Justiz- und Polizeidepartements wird beschlossen, es sei der Angelegenheit von Bundes wegen vorläufig keine weitere Folge zu geben.
Dagegen wird das Justiz- & Polizeidepartement eingeladen, dem Bundesrat seinerzeit über den Ausgang des Prozesses Mitteilung zu machen und eventuell neuerdings Bericht und Antrag vorzulegen6.
- 1
- E 1004 1/230. Abwesend: Deucher.↩
- 2
- Mündlich (E 1004 1/230).↩
- 3
- E 21, Archiv-Nr. 15883. Bericht vom 17. Dezember 1907. Nicht abgedruckt.↩
- 4
- Der französische Politiker Auguste Dide äusserte sich in Genf anlässlich einer Nationalfeier zum 14. Juli 1907 abfällig über den Genfer Reformator Calvin und wurde deswegen im Journal de Genève heftig attackiert. Fernand David, Deputierter von St. Julien-en-Genevois (Savoyen) und Anwalt des klagenden Dide führte in der ersten Verhandlung vom 26. September 1907 aus: [...] que l’opinion publique commençait à s’inquiéter en France de ce que pouvaient devenir les Français dans la ville de Genève [...] La France mérite-t-elle la haine du «Journal de Genève»? Les Français ont-ils fait quoi que ce soit à Genève qui eût pu leur attirer cette haine? Le sol genevois est fait d’alluvions descendues de nos montagnes; il est fait des cendres de nos ancêtres chassés de leur pays par la révocation de l’Edit de Nantes. Ce sol genevois nous le voyons s’enrichir tous les jours de constructions élevées avec de l’argent français. La France ne mérite donc pas les injures dont l’abreuve le «Journal de Genève». David hatte sich bereits an der französischen Nationalfeier vom 14. Juli 1905 mit folgenden Äusserungen exponiert: Genève comprendra que nous voulons un chemin de fer circulant sur les rails français et que pour cela nous voulons les construire sans attendre que se manifeste la clémence de la Confédération. Genève comprendra de plus en plus que ses intérêts ne sont pas du côté de la Confédération, qu’ils sont de l’autre côté de la frontière, en France; Genève s’apercevra que ses intérêts économiques sont toujours plus servis par la France, alors que, du côté Suisse, elle ne retire rien; elle comprendra que sont tendues vers elle, de ce côté, des mains amies, que la Confédération ne lui tend pas. (Bericht der Bundesanwaltschaft vom 17. Dezember 1907, siehe Anm. 3).↩
- 5
- Eloquence radicale vom 16. Juli 1907, Applatissement radical vom 18. Juli 1907, Nationalisme ou Patriotisme vom 20. Juli 1907 und L’Emotion du Genevois vom 23. Juli 1907.↩
- 6
- Nicht ermittelt.↩
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Swiss policy towards foreigners