Classement thématique série 1848–1945:
IX. DÈFENSE NATIONALE ET NEUTRALITÉ
3. Neutralité
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 4, doc. 188
volume linkBern 1994
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2#1000/44#528* | |
Old classification | CH-BAR E 2(-)1000/44 96 | |
Dossier title | Entwürfe der schweiz. Gesandtschaften in Berlin, London und Paris einer Neutralitätsverordnung, einer Neutralitätserklärung des BR an die Mächte für den Kriegsfall, einer Notifikation über die eventuelle Besetzung Savoyens sowie ev. Allianz-Verträge (1895–1896) | |
File reference archive | B.21 |
dodis.ch/42598
Le Ministre de Suisse à Berlin, A. Roth, au Chef du Département des Affaires étrangères, A. Lachenal1
Anlässlich meines letzten Besuches in Bern, im Monat September I.J., haben Sie mich mündlich und vertraulich beauftragt, der Frage näher zu treten, welche Schritte seitens des Schweizerischen Bundesrathes bei Ausbruch eines künftigen Krieges zwischen den uns umgebenden europäischen Mächten bei den letztem zum Zwecke der Wahrung, bzw. Wiederherstellung unserer Neutralität zu thun wären. Im besondern haben Sie mir hiebei den Auftrag ertheilt, Ihnen, wenn möglich, meine diesbezüglichen Ansichten in der Form von Entwürfen zu Notificationen an die Mächte mitzutheilen, welche folgende Punkte zum Gegenstand haben sollen:
I. Neutralitätserklärung des Bundesrathes.
II. Notification betreffend die eventuelle Besetzung der neutralisierten
Provinzen Savoyens.
III. Eventuelle «Allianz»-Anträge.
Nachdem ich diese drei Fragen einer gründlichen Prüfung unterstellt und hiebei auch die Akten meiner Gesandtschaft vom Jahre 1870 einer sorgfältigen Durchsicht unterzogen, habe ich nunmehr die Ehre, durch nachstehende Ausführungen und Anregungen Ihrem gedachten Aufträge nachzukommen.
Ad I. Allgemeine und prinzipielle Neutralitäts-Notification an die Mächte
Aus den beiliegenden fünf Abschriften werden Sie ersehen, wie und in welcher Form der Bundesrath im Jahre 1870, bei Ausbruch des deutsch-französisehen Krieges, den Mächten, bzw. speziell der Regierung des Norddeutschen Bundes seinen festen Willen, anlässlich dieses Confliktes, die strengste Neutralität zu beobachten, notificiert hat und wie diese Notification seitens des deutschen Bundeskanzleramtes beantwortet worden ist.2
Bessere Belehrung Vorbehalten, glaube ich nun die Ansicht vertreten zu sollen, dass der gleiche modus procedendi, sowohl in materieller, als in formeller Beziehung auch für künftige Situationen analoger Art zu befolgen sein würde.
Also 1 - vorläufige telegraphische Notification, nach der Lage der Dinge ähnlich redigiert, wie das Schreiben des Bundesrathes vom 15. Juli 1870, und 2 - Circular-Note an die Mächte, genau nach der Redaktion derjenigen vom 18. Juli 1870, natürlich unter Anpassung derselben an den vorliegenden Conflikt. (Die Frage der eventuellen Besetzung der neutralisierten Provinzen Savoyens behandle ich nachfolgend sub II).
Es wäre ja möglich, dass der Bundesrath, so wie er zu dem Zeitpunkte zusammengesetzt sein wird, wo eine solche Notification erfolgen müsste, diese und jene redactionellen Varianten als angezeigt erachten würde; in der Hauptsache dürfte aber die Fassung der Circular-Note vom 18. Juli 1870 auch dann, soweit es sich um die allgemeine Frage der Aufrechterhaltung der Neutralität handelt, redactionell und materiell als Muster dienen können.
II. Eventuelle Besetzung der neutralisierten Provinzen Savoyens
Ob und wie diese Frage im gegebenen Momente mit der sub I behandelten allgemeinen Neutralitäts-Notification zu verschmelzen sein wird, wird vor allem von den dannzumaligen Anschauungen und Absichten des Bundesrathes abhängig zu machen sein. Sollte der unsererseits im Jahre 1870 vertretene Standpunkt betreffend die Opportunität einer vorsorglichen Wahrung unseres vertragsmässigen Rechtes, die fraglichen Provinzen eventuell zu besetzen, auch in der Folge aufrecht erhalten werden, so könnte puncto Notification auch dieses Special-Punktes füglich der modus procedendi von 1870 befolgt, bzw. der fragliche Passus der Circular-Note vom 18. Juli 1870, allfällige kleine Varianten Vorbehalten, materiell und redactionell wieder zur Anwendung gelangen und wüsste ich für diesen Fall kaum eine zutreffendere Redaction vorzuschlagen.
Wenn ich hinzufüge, dass mir die derzeitige Auffassung des hohen Bundesrathes betreffend die Frage der eventuellen Geltendmachung des vertragsmässigen Rechtes der Besetzung der fraglichen Provinzen absolut unbekannt ist, sowie ferner, dass ich keine Kenntnis davon habe, wie man heutzutage speziell in unsern massgebenden militärischen Kreisen (Generalstab und Landesvertheidigungs-Kommission) über die Opportunität einer solchen Besetzung denkt, welche zweifellos zum mindesten eine ganze Division in Anspruch nehmen und mithin für die übrigen zur Vertheidung unserer Neutralität zu treffenden militärischen Massnahmen von vornherein lahm legen würde, und wenn ich Sie, anderseits, darauf aufmerksam mache, dass in dem Archive meiner Gesandtschaft gar keine Akten vorhanden sind, in welchen ich Anhaltspunkte für die materielle Beurtheilung dieser Frage finden könnte, so darf ich mich wohl Ihres Einverständnisses damit versichert halten, dass ich die Opportunitätsfrage der gedachten Eventualität hier nicht weiter behandle. Ein solches materielles Eingehen auf diese Frage von mir zu verlangen, lag übrigens auch offenbar gar nicht in Ihrer Absicht.
Da nun aber einmal die Savoyer-Frage hier zur Sprache gekommen ist, will ich doch nicht unterlassen, in aller Kürze noch folgendes zu erwähnen:
Als ich vor einer Reihe von Jahren zufällig in die Lage kam, mit dem ersten Vortragenden Rath der politischen Abtheilung des Auswärtigen Amtes3 mich über diese und jene Fragen betreffend die allgemeine Politik zu unterhalten, kam gelegentlich auch die Savoyer-Frage zur Sprache und liess hiebei dieser Beamte, welcher – beiläufig bemerkt – seit langer Zeit der Vertrauensmann des Fürsten Bismarck in Fragen der auswärtigen Politik war, die Äusserung fallen, wenn wir im gegebenen Falle die neutralisierten Provinzen mit dem animus possidendi besetzen wollten, hätte Deutschland absolut nichts dagegen einzuwenden; eine nur vorübergehende Besetzung dagegen wäre der Kaiserlichen Regierung unerwünscht.4
Seither hat sich mir keine Gelegenheit mehr geboten, über diese Frage mit hiesigen massgebenden Persönlichkeiten zu sprechen.
Dagegen glaube ich zu wissen, dass der frühere deutsche Gesandte in Bern, Herr von Bülow, gelegentlich einmal (allerdings nur privatim und mit dem Bemerken, er gebe nur seiner persönlichen Empfindung Ausdruck) einem früheren Mitgliede des Bundesrath es gegenüber sich in einer Art und Weise ausgesprochen hat, welche es als keineswegs ausgeschlossen erscheinen liess, dass bei den Bündnis-Verhandlungen zwischen Deutschland und Italien über die Savoyer-Frage gewisse Verabredungen getroffen worden sind und dass man auf Grund dieser Verabredungen uns gegebenenfalls zu veranlassen suchen würde, auf die Besetzung der neutralisierten Provinzen überhaupt zu verzichten.
Relata refero. Diesen vertraulichen Meinungsäusserungen fraglicher zwei Persönlichkeiten lege ich selbstverständlich nicht die Bedeutung bei, dass dieselben von dem hohen Bundesrathe im gegebenen Momente als für seine Entschliessungen unbedingt und ohne weiteres massgebend aufzufassen wären. Unter allen Umständen werden aber derartige Vernehmlassungen bei der Beurtheilung und der Behandlung der Savoyer-Frage unsererseits immerhin vorsorglich mit in Rechnung zu ziehen sein.
III. Eventuelle Allianz- Verträge
Ich bediene mich des Ausdrucks «Allianz», weil Sie selbst, Herr Vice-Präsident, denselben angewandt haben. Doch glaube ich bestimmt annehmen zu dürfen, Sie haben hiebei nicht an eigentliche «Allianzen» gedacht, sondern vielmehr ausschliesslich die Eventualität ins Auge gefasst, dass wir, nachdem unsere Neutralität durch eine der kriegführenden Mächte verletzt worden sei, in den Fall kommen könnten eine oder mehrere der ändern Garantie-Mächte zum «Aufsehen» bzw. zur bewaffneten Mithilfe anzurufen, um die Truppenkörper derjenigen Macht, welche unsere Neutralität mit Waffengewalt verletzt hat, über die Grenzen zurückzudrängen. Auch der Fall könnte Ihnen vorgeschwebt haben, dass vor oder bei Ausbruch eines Krieges etwa diese oder jene kriegführende Macht sich weigern sollte, uns die Anerkennung unserer Neutralität für diesen Krieg unbedingt zu garantieren und dass wir uns dann unter Umständen zum voraus veranlasst sehen könnten, die Mithülfe der ändern Mächte ins Auge zu fassen und auch vorsorglich nachzusuchen. Ein anderes Heraustreten aus unserer Neutralität kann ich mir dagegen mit Rücksicht auf die völkerrechtliche Stellung und die geschichtliche Entwicklung der Schweiz nicht denken und betrachte ich daher jedes Nachsuchen und Eingehen von «Allianzen» für den Fall als unbedingt ausgeschlossen, wo eine Verletzung unserer Neutralität nach unserm Dafürhalten zwar eventuell zu befürchten sein könnte, in der That aber weder bereits erfolgt, noch direkt oder indirekt angedroht ist.
Bei dieser meiner Auffassung der vorliegenden Frage will es mir denn auch scheinen, es könne für uns also von «Allianz» in der usuellen Bedeutung dieses Ausdrucks kaum die Rede sein, und zwar um so weniger, als ich unter ändern auch Zweifel darin setzen muss, ob der hohe Bundesrath im gegebenen Falle geneigt sein dürfte, die Consequenzen einer eigentlichen Allianz z.B. auch in der Richtung zu ziehen, dass wir unsern Allierten die schweizerische Armee, in Verbindung mit den Streitkräften der erstem, auch zu aggressiven Operationen ausserhalb unseres Gebietes zur Verfügung stellen würden.
Vorderhand ist dies mithin für mich zum mindesten noch eine offene Frage und je mehr ich mir die Sache überlege, desto bestimmter drängt sich mir die Empfindung auf, dass vorerst, auf Grund eingehendster Berathungen allgemein politischer und auch speziell militärischer Natur, diverse prinzipielle Fragen gelöst werden müssten, bevor Sie, Flerr Vice-Präsident, und auch der Unterzeichnete sich in der Lage befinden könnten, für eine Mittheilung an die Mächte in der angedeuteten Richtung eine auch nur annähernd zutreffende Redaction vorzubereiten.
Ich gehe noch weiter und stelle die Frage, ob es sowohl vom materiellen, als auch vom bloss formellen Standpunkt aus für uns überhaupt opportun und möglich wäre, über eine Notification an die Mächte, mit dem Zwecke, deren Mithülfe für die Vertheidung, bzw. Wiederherstellung unserer Neutralität zu erlangen, uns schlüssig zu machen, bevor ein concreter Fall vorliegt oder in Sicht ist. In Ermangelung jeder zuverlässigen Wegleitung gelange ich auch bei dieser Fragestellung einstweilen zu einem negativen Ergebnis und sehe ich mich daher, von welcher Seite ich auch die Frage auffassen mag, zu meinem aufrichtigen Bedauern ausserstande, betreffend Punkt III Ihrem Wunsche betreffend Vorlage irgend einer bestimmten Redaction dermalen nachzukommen.
Sollten Sie wider Erwarten in der Lage sein, mir positive Anhaltspunkte an die Hand zu geben, so würde ich es mir zur angenehmen Pflicht machen, diese Frage erneuert einer gründlichen Prüfung zu unterziehen und Ihnen beförderlichst Bericht zu erstatten.
- 1
- Lettre: E 2/528.↩
- 2
- Cf. là-dessus DDS vol., 2, chapitre VI.3, 1870.↩
- 3
- Note marginale Herr von Holstein.↩
- 4
- Cf. DDS vol. 3, nos 336 (dodis.ch/42315), 370 (dodis.ch/42349) note 3, 390 (dodis.ch/42369) et 393 (dodis.ch/42372).↩
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