Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
IV. NIEDERLASSUNGS- UND ASYLPOLITIK
2. Die schweizerische Asylrechtspraxis
Pubblicato in
Documenti Diplomatici Svizzeri, vol. 3, doc. 186
volume linkBern 1986
Dettagli… |▼▶Collocazione
Archivio | Archivio federale svizzero, Berna | |
Segnatura | CH-BAR#E2300#1000/716#1234* | |
Titolo dossier | Wien, Politische Berichte und Briefe, Militär- und Konsularberichte, Band 23 (1880–1885) |
dodis.ch/42165
Von verlässlichster Seite wird mit mitgetheilt, dass die von Berlin ausgehenden Vorschläge in Bezug auf Einschränkung des Asylrechtes und verschärfter Maasregeln gegen politische Flüchtlinge auf dem hiesigen auswärtigen Amte nur sehr geringes und reservirtes Entgegenkommen finden dürften und höchst wahrscheinlich eine ablehnende Erwiederung zu gewärtigen haben.
Damit soll aber durchaus nicht gesagt sein, dass nicht in den höchsten und maasgebendsten Kreisen eine sehr grosse Geneigtheit vorhanden sei, freudig den deutschen Propositionen beizustimmen und in deren Ausführung Hand in Hand mit Berlin und Petersburg zu gehen. Wenn auch der Minister des Aeusseren Baron Haymerle schwach genug wäre dem Einflüsse von «Oben» nachzugeben und den nordischen Forderungen Concessionen machen wollte, so würde er auf eine fast unüberwindliche Schwierigkeit stossen; die ungarische Regierung würde naemlich nie und unter keiner Bedingung Maasnahmen beistimmen, welche das Asylrecht wesentlich beschränken würden. Dieser Factor paralysirt jedes thätige Mitwirken seitens Oesterreich-Ungarn’s um die Bismarkischen Intentionen zu verwirklichen. Ohne Beistimmung der ungarischen Regierung aber kann das auswärtige Amt keinen Schritt in Bezug auf eine internationale Vereinbarung gegen das Asylrecht ausführen. In Ungarn lebt, besonders bei den ersten Familien des Landes die Wohlthat, die sie Ende der Vierziger Jahre und in den Fünfziger Jahren durch das Asylrecht im Auslande genossen haben, noch zu lebhaft im Gedächtnisse fort, als dass sie sich nicht auf das Aeusserste dagegen auflehnen würden ein Recht beschränken zu lassen, dem so viele ihrer Mitglieder das Leben zu danken haben, das ihnen Sicherheit und Ruhe vor den erbittertsten und leidenschaftlichsten Verfolgungen in ihrem Vaterlande gewährt hatte. Überdiess sind die gesetzlichen Bestimmungen, welche das Asylrecht in Ungarn regeln, so ähnlich den Schweizerischen, dass ein jeder Angriff auf letztere auch Ungarn treffen würde und einen solchen lassen sich die Ungarn ebenso wenig gefallen wie wir. Ich habe noch fortwährend in den höheren gesellschaftlichen Kreisen gegen Unkenntniss und Unverstand in Bezug auf die Flüchtlingsfrage in der Schweiz anzukämpfen. Die oesterreichisch-ungarische Presse hat sich im Allgemeinen, die der Verfassungs-Parthei ausnahmslos, dem Windthorst’schen Antrag2 und der Bismarkischen Agitation gegenüber mehr oder weniger scharf ausgesprochen; sie haben hier nicht das beifällige Echo gefunden wie in einem so grossen Theil der deutschen Presse.
P.S. So eben war der franz. Botschafter Graf Duchätel bei mir und theilte mir mit, dass er schon seit acht Tagen Kenntniss von dem Wortlaute der russischen Circularnote3 bezüglich des Asylrechtes, die vom Fürsten Bismark amendirt wurde, habe, und die an alle europaeischen Regierungen gerichtet werden sollte. Ausserdem solle das Wiener Cabinet speciel aufgefordert werden ernste Schritte beim schweizerischen Bundesrathe zu unternehmen (warum gerade das hiesige Cabinet dazu ausersehen wurde, konnte mir Graf Duchätel nicht sagen). Der Botschafter gab seiner Verwunderung Ausdruck, dass bis heute diese Noten dem Baron Haymerle noch nicht mitgetheilt wurden (dass sie bis gestern noch nicht eingetroffen waren, wusste ich bestimmt) auch wusste er nicht genau ob sie von dem H. v. Oubril oder vom Prinzen Reuss dem Minister des Aeusseren übergeben werden sollen, vermuthete aber von ersterem. Was ich oben über die Schwierigkeiten auf die Haymerle bei der ungarischen Regierung stossen würde, erwähnte, wusste der fr. Botschafter ebenfalls, und ist auch der Ansicht dass desshalb beim hiesigen auswaertigen Amte keine grosse Geneigtheit vorhanden sei den russisch deutschen Propositionen entgegenzukommen.
Graf Duchätel bestaetigte mir auch, was ich schon von anderer verlässlicher Seite erfahren hatte, dass naemlich das militär. Gefolge welches den Erzherzog Karl-Ludwig zu den Leichenfeierlichkeiten nach Petersburg begleitet hatte, geradezu entsetzt über die dortigen Zustaende war; es solle eine Kopflosigkeit, Zerfahrenheit und Desorganisation herrschen, die jeden Begriff übersteige. Von einer wirklichen Trauer um den Kaiser Alexander II soll weder beim Militär, noch in den hoeheren Aristocraten- und Beamtenkreisen keine Spur vorhanden sein, aber ebensowenig auch von einer Liebe oder Anhaenglichkeit an den Kaiser Alexander III. Die Armee solle sich in dem klaeglichsten Zustande befinden; Unterschlagungen von Verpflegsgeldern und enormer Summen zur Ergaenzung an Kriegsmaterial nach den Verlusten im türkischen Kriege sollen sie in einen Zustand der Decomposition gebracht haben, welche sie zu jeder Action nach Aussen total unfähig mache. Deshalb trachte man auch in Petersburg mit allen möglichen Mitteln das Dreikaiserbündniss zu reactiviren.
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