Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
VI. EISENBAHNEN
1. Der Bau der Gotthardbahn
1.2. Arbeiterunruhen
Darin: Der eidgenössische Kommissär, welcher die Streikunruhen in Göschenen untersucht hat, führt diese vor allem auf die schlechten Wohnverhältnisse zurück. Annex vom 26.9.1875 (CH-BAR#E53#1000/893#444*).
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 3, doc. 82
volume linkBern 1986
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E1004.1#1000/9#6019* | |
Dossier title | Beschlussprotokoll(-e) 05.11.-07.11.1875 (1875–1875) |
dodis.ch/42061
Protokoll der Sitzung des Bundesrates vom 5. November 18751
6249. Ereignisse in Göschenen, Untersuchungsbericht
Der eidgenössische Kommissär für die Untersuchung betreffend die Ereignisse
in Göschenenvom 27. und 28. Juli d. J., Herr Oberst Hold, gelangt in seinem
Schlussbericht2, dessen Druk vorläufig in französischer Sprache am 29. abhin3
angeordnet worden ist, zur Aufstellung folgender durch die Ergebnisse der
gepflogenen Erhebungen als nothwendig sich erzeigenden Forderungen:
1. Zu möglichster Vermeidung von Reibungen zwischen den fremden Arbeitern und der einheimischen Bevölkerung und daraus entstehender, dauernder
gegenseitiger Verstimmung sollte strenge auf eine gleichmässige Anwendung der
Geseze geachtet werden. Einem während der Bauzeit der Gotthardbahn,
womöglichst ständigen, Kommissariat, zu dem die fremden Arbeiter volles
Zutrauen haben können, das also von communaler, wie auch seitens der Unternehmer ausgeübter Beeinflussung absolut unabhängig ist, sollte sowohl die Ausübung der Polizeigewalt als auch der Präliminarjustiz bezüglich Arrestanlagen,
Anständen zwischen Arbeitgeber und Arbeitern etc. übertragen und demselben
eine hinreichend organisirte Polizeimannschaft zur Verfügung gestellt werden.
2. In administrativer Beziehung ist vor Allem dafür zu sorgen, dass die Bequartirung der Arbeiter der Privatspekulation entzogen, oder leztere wenigstens einer
genauen polizeilichen und sanitarischen Kontrole unterstellt werde. Die Art und
Weise, wie in dieser Beziehung Vorsorge zu treffen, wäre durch Sachverständige
zu untersuchen und zu begutachten.
3. Bezüglich der Verpflegung sollte ebenfalls in Betracht gezogen werden, ob
nicht auf billigere Weise dem Arbeiter eine zureichende kräftige Kost geboten
werden könnte.
4. Jedenfalls aber ist das Magazinhalten der Unternehmer nicht am Plaze.
5. In technischer Beziehung ist dafür zu sorgen, dass ohne weitern Verzug
genügendere Zufuhr guter Luft in den Tunnel, soweit immer möglich, bewerkstelligt werde, und solle die Tit. eidg. Gotthard-Inspektion mit der Überwachung
dieser unerlässlichen Forderung speziell beauftragt werden.
In Betreff der polizeilichen Verhältnisse liegt des weitern ein Schreiben der
Regierung von Urivom 25. abhin4 vor, welches in Beantwortung hierseitiger
Anregung vom l.v. Mts.5 über die behufs Sicherung der öffentlichen Ordnung
getroffenen Anordnungen Auskunft ertheilt und gegenüber weiter gehender
Anforderungen und daraus erwachsenden Kosten Verwahrung einlegt.
Nach darüber gewalteter Berathung werden, mit Ergänzungen und Änderungen der vom Departement nebst den Akten unterbreiteten Anträge6 zur Erledigung der Vorlagen nachstehende Schlussnahmen gefasst.
1. Der Bericht des Kommissärs Hrn. Hold ist in einer Auflage von 600 deutschen, 400 französischen Exemplaren zu druken und in genügender Anzahl von
Abdrüken mitzutheilen:
a. den Gesandten Hrn. Melegari und Pioda zuhanden der italienischen Regierung.
b. den Gesandten Hrn. von Roeder und Hammer zuhanden der deutschen Regierung.
c. den Mitgliedern der Bundesversammlung.
d. den Regierungen von Uri und Tessin.
e. der Direktion der Gotthardbahn für sich und zuhanden des Unternehmers Favre.
f. der schweizerischen Presse.
2. Den Regierungen von Italien und Deutschland ist gleichzeitig zu eröffnen,
dass der Bundesrath die nöthigen Massnahmen treffen werde, um den bei diesem
Anlasse zu Tage getretenen Übelständen nach Möglichkeit Abhilfe zu verschaffen.
3. Der Regierung von Uri ist der Inhalt des bundesräthlichen Schreibens vom
1. Oktober zu bestätigen, namentlich in Bezug auf die Bestellung eines Spezialkommissärs und mit dem Beifügen, dass die Antwort vom 25. abhin von deren allgemeinen Zusicherungen der Bundesrath übrigens mit Befriedigung Vormerkung genommen habe, in dieser Hinsicht nicht genügende Aufschlüsse und
Zuversicht für die Handhabung von Ruhe und Ordnung gewähre; der Bundesrath
müsse darauf dringen, dass schleunige und vollständige Anordnungen zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit getroffen werden und erkenne als das richtigste
Mittel zur Erreichung dieses Zwekes den vom eidgenöss. Kommissär unter Ziff. 1
gestellten Antrag; betreffend die Kosten möge die Regierung bedenken, dass es in
Rechten und Pflichten des Staates liege, für Aufrechterhaltung der Sicherheit und
Ordnung im Lande Fürsorge zu tragen und alle diejenigen Vorkehrungen und
Anordnungen zu treffen, welche zur Ausführung dieser Aufgabe des Staates je
nach Umständen nöthig werden sollten, dass also von einer Verwahrung gegen
die Kosten solcher von den Umständen geforderten Massnahmen auf Seite des
Kantons Uri nicht die Rede sein könne.
4. Die Regierungen von Uri und Tessin sind auf die unbedingte Nothwendigkeit aufmerksam zu machen, dass in Göschenen und Airolo ausserordentliche
Massregeln getroffen werden, damit Unterkunft und Unterhalt der Arbeiter einer
ernstlichen und ständigen Überwachung in gesundheitlicher und polizeilicher
Hinsicht unterstellt seien; sie sind einzuladen, über die von ihnen beabsichtigten
Anordnungen dem Bundesrath beförderlichst einlässlichen Bericht zu erstatten,
unter Androhung eidgen. Einschreitens auf ihre Kosten, Kraft Art. 31 und 69 der
Bundesverfassung.7
5. Mittheilung der Schlussnahmen unter Ziff. 3 und 4 an die Direktion der Gotthardbahn, damit sie dafür sorge, dass Wohnung und Unterhalt sämmtlicher Arbeiter bei den Gotthardbahnbauten den Anforderungen der öffentlichen Gesundheitspflege entsprechen; die Direktion ist zugleich einzuladen, einerseits dem Bundesrath einen besondern Bericht darüber zu erstatten, ob ein unbedingtes Untersagen des Verkaufs von Lebensmitteln durch die Unternehmung im Nuzen der von ihr verwendeten Arbeiter gelegen und für die gute Ordnung in den Wohnstätten derselben förderlich wäre, andererseits die erforderlichen Vorschriften zu erlassen, damit dem Antrag des Hrn. Hold unter Ziffer 5 (Lufterneuerung) ohne Verzug Genüge geschehe.
6. Das Eisenbahn- und Handelsdepartement ist in Übereinstimmung mit einem seinerseits unterm 1. diess. gemachten Vorschläge anzuweisen, darüber zu wachen, dass für die Lufterneuerung im grossen Tunnel ohne Verzug die nöthigen Vorkehrungen ausgeführt werden.
7. Der eidg. Kommissär Hr. Hold ist unter Verdankung der Art und Weise, wie er die erhaltene Sendung erfüllt hat, des ihm gewordenen Auftrags zu entheben.
8. Die Kanzlei wird für nächste Sizung die Schreiben für die Regierungen von Uri und die Gotthardbahndirektion vorbereiten und zur Genehmigung unterbreiten.