Die Auflösung der UdSSR und die Anerkennung der Nachfolgestaaten

Vor genau 30 Jahren, am 23. Dezember 1991 anerkannte die Schweiz als eines der ersten Länder überhaupt die Nachfolgestaaten der Sowjetunion. «Es ist dies nebst der frühen Anerkennung der Volksrepublik China am 17. Januar 1950 eine der wenigen Abweichungen von der üblichen Anerkennungspolitik der Schweiz», führt Sacha Zala, Direktor der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis), aus. Entlang dem fast schon heiligen Leitsatz «nicht bei den Ersten und nicht unter den Letzten» hielt sich das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) in Anerkennungsfragen in der Regel zurück. «Umso erstaunlicher», so Thomas Bürgisser, Redaktionsleiter des bald erscheinenden Bandes der Diplomatischen Dokumente der Schweiz zum Jahr 1991, «dass die Schweiz an jenem 23. Dezember kurzentschlossen handelte und unter den allerersten Staaten war, die die Unabhängigkeit der ehemaligen Sowjetrepubliken anerkannten». Die UdSSR bestand bis ins Jahr 1991 aus 15 Unionsrepubliken, die de jure weitgehende Souveränitätsrechte besassen, faktisch jedoch der Zentrale in Moskau untergeordnet waren.

Auftakt im Baltikum

Der Zerfall des Sowjet-Imperiums vollzog sich 1991 in atemberaubender Geschwindigkeit. Den Beginn hatten die baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen gemacht, gegen deren Unabhängigkeitsbestrebungen die Zentralmacht bis zum gescheiterten Augustputsch in Moskau (dodis.ch/C1951) gewaltsam opponierte. Am 28. August konnte Bundespräsident Flavio Cotti die Präsidenten von Estland, Lettland und Litauen über den Beschluss des Bundesrats informieren, «dass die Schweiz volle diplomatische Beziehungen zu den drei unabhängigen baltischen Republiken» aufnehmen wird. (dodis.ch/C2196) Vom 3. bis 6. September 1991 unternahm eine Delegation unter der Leitung von Botschafter Jenö Staehelin, Chef der Politischen Abteilung I im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA), eine Reise nach Tallin, Riga und Vilnius, um die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen durch Briefwechsel zu formalisieren (dodis.ch/57645).

Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten

Der Erosionsprozess des Sowjetimperiums setzte sich ungebremst fort. Am 8. Dezember 1991 gründeten die Präsidenten von Russland, Belarus und der Ukraine im Minsker Abkommen die «Gemeinschaft Unabhängiger Staaten» (GUS). Bei dieser Gelegenheit stellten sie kurzerhand fest, dass die Sowjetunion «als Völkerrechtssubjekt und als geopolitische Realität ihre Existenz hiermit beendet» (dodis.ch/60365). Kurz darauf beriet das EDA über die offizielle Haltung der Schweiz. An der Sitzung «setzte sich die Ansicht durch, dass mit der Anerkennung nicht mehr zugewartet werden sollte, wenn erkennbar ist, dass der Punkt der Unumkehrbarkeit erreicht ist. In diesem Fall wären aber nicht nur die slawischen Republiken, sondern auch die andern, die sich um Anerkennung bemühen, anzuerkennen, jedenfalls soweit eine Anerkennung nicht kontrovers ist.» (dodis.ch/58737)

Telefonkonferenz vor Weihnachten

Am 21. Dezember schlossen sich fast alle übrigen Republiken der UdSSR in der Erklärung von Alma-Ata (Almaty) der GUS an. Der point of no return schien erreicht. Am Montag dem 23. Dezember beriet um 13:30 Uhr der Bundesrat in einer Telefonkonferenz einen von der Bundeskanzlei am Mittag per Fax übermittelten Antrag des EDA über die völkerrechtliche Anerkennung und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Russischen Föderation sowie den Republiken Ukraine, Belarus, Kasachstan, Moldova, Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan und Kirgisistan (dodis.ch/57514). «Es ist wichtig, dass die Schweiz die Kontakte mit den neuen Republiken möglichst rasch aufnimmt», bekräftigte Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz den Antrag von EDA-Vorsteher René Felber (dodis.ch/57766). Nach 15 Minuten Beratung fällte der Bundesrat mit dem Entscheid Nr. 2518 den letzten Beschluss des Jahres.

Dankbarkeit für die frühe Anerkennung

Noch an demselben Abend notifizierte das EDA per Telex über die schweizerische Botschaft in Moskau den Präsidenten Ter-Petrosjan, Mutalibow, Schuschkewitsch, Nasarbajew, Akajew, Snegur, Jelzin, Nabijew,  Nijasow, Krawtschuk und Karimow die Anerkennung (dodis.ch/C1950). Mit der Notifizierung der Anerkennung Georgiens, das der GUS nicht beigetreten war und wo die innenpolitische Lage verworren schien, wartete der Bundesrat «aus praktischen Gründen» noch zu. Die frühe Anerkennung sollte sich auszahlen: «Lors de mes voyages dans les républiques successeurs de l’URSS», schrieb der Schweizer Botschafter in Moskau, Jean-Pierre Ritter, «je suis frappé à chaque fois de la satisfaction et même de la gratitude qui nous sont témoignées pour avoir été les premiers en Europe occidentale à notifier notre reconnaissance des nouvelles indépendances et les premiers aussi à nous montrer sur place pour formaliser l’établissement des relations» (dodis.ch/59825).

Aufnahme diplomatischer Beziehungen  

Die Kontinuität der Beziehungen zur Russischen Föderation als Rechtsnachfolgerin der UdSSR wurde bereits im Januar 1992 in einem schlichten Notenwechsel zwischen Moskau und Bern festgehalten (dodis.ch/61322 und dodis.ch/61319). Daraufhin reiste zuerst Botschafter Ritter als Sonderbeauftragter nach Erewan und Baku, um mit Armenien und Aserbaidschan diplomatische Beziehungen aufzunehmen (dodis.ch/61278 und dodis.ch/61241). Anfang Februar entsandte die Zentrale in Bern in Spezialmission Botschafter Johann Bucher, Direktor der Direktion für Verwaltungsangelegenheiten und Aussendienst, nach Kiew und Minsk zur Formalisierung der Beziehungen mit der Ukraine und mit Weissrussland (dodis.ch/60848). Im Juni reiste wiederum Botschafter Ritter nach Alma-Ata zur Etablierung der Beziehungen zu Kasachstan (dodis.ch/60853). Am 23. März 1992 hatte Bern auch die Anerkennung Georgiens, das wie die drei baltischen Republiken der GUS nicht beitrat, notifiziert (dodis.ch/61323). Ebenfalls im Juni besuchte deshalb Botschafter Ritter auch Tiflis, wo er die Beziehungen etablierte und dem neuen Präsidenten Eduard Schewardnadse sein Beglaubigungsschreiben überreichte (dodis.ch/61191). Im Juli waren schliesslich Aschgabat (Turkmenistan) und Taschkent (Usbekistan) an der Reihe (dodis.ch/61106).

Präsidiale Kontakte  

Die Teilnahme hochrangiger Delegationen aus den GUS-Staaten am World Economic Forum (WEF) in Davos bot Aussenminister Felber, 1992 Bundespräsident, Anfang Februar die Gelegenheit zu Treffen mit den Präsidenten Ter-Petrosian (Armenien), Mutalibow (Aserbaidschan), Schuschkewitsch (Belarus), Nasarbajew (Kasachstan), Snegur (Moldawien) und Karimow (Usbekistan) sowie zu einem vertieften Austausch mit dem ukrainischen Präsidenten Leonid Krawtschuk (Ukraine). Anlässlich eines kurzfristig anberaumten Besuchs von Präsident Askar Akajew bei Bundespräsident Felber in Bern wurde ebenfalls im Februar die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der Schweiz und Kirgisistan beschlossen (dodis.ch/60852). Auch mit dem moldawischen Präsidenten Mircea Snegur tauschte Felber am 2. September 1992 in Bern Schreiben über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen aus (dodis.ch/61317).

Verschiedene Missionen und Misstöne

Die Kontaktnahme mit den sowjetischen Nachfolgestaaten verlief über verschiedene Kanäle. Im April und Juli besuchten etwa hochrangige Delegationen der Eidgenössischen Finanzverwaltung die GUS-Staaten. Im Hinblick auf die Verabschiedung der Zusatzbotschaft des Bundesrats über die Weiterführung der verstärkten Zusammenarbeit mit ost- und mitteleuropäischen Staaten (dodis.ch/59002), die eine Ausdehnung der Entwicklungskredite auf die GUS vorsah, beorderte das EDA im August und September zwei Missionen in alle zentralasiatischen und transkaukasischen Republiken. Erstere wurde abermals von Botschafter Staehelin, zweitere von dessen Stellvertreter Daniel Woker geleitet. Den Delegationen gehörten auch Vertreter des Bundesamts für Aussenwirtschaft an (dodis.ch/61252 und dodis.ch/61250). Die Koordination zwischen den verschiedenen Missionen war nicht immer einfach und führte auch zu Misstönen und Kompetenzgerangel (dodis.ch/58143, dodis.ch/60836 und dodis.ch/60846).

«Helvetistan» und Heidi Tagliavini

«Das rege Interesse der Schweizer Behörden öffnet die Perspektive hin zu zwei Entwicklungen», so Dodis-Historiker Thomas Bürgisser: Einerseits wollte die Schweiz sich nach dem Beitritt zu den Bretton-Woods-Institutionen einen Sitz im Exekutivrat von Weltbank und Währungsfonds sichern und musste zu diesem Zweck eine eigene Stimmrechtsgruppe gründen. Turkmenistan, Kirgisistan, Usbekistan und Aserbaidschan konnten zusammen mit Polen für dieses Projekt gewonnen werden, später schlossen sich auch Kasachstan und Tadschikistan der sogenannten «Helvetistan-Gruppe» an. «Durch ihr Engagement in Zentralasien konnte sich die Schweiz Einfluss in diesen internationalen Finanzorganisationen sichern», so Bürgisser. Bemerkenswert ist auch, dass Botschafter Ritter auf seinen Reisen jeweils von seiner Mitarbeiterin begleitet wurde, die fliessend Russisch sprach. Heidi Tagliavini hiess die junge Diplomatin, die später immer wieder heikle Missionen in Konfliktregionen unternahm, etwa 1995 mit der Assistenzgruppe der OSZE in Tschetschenien, als Sonderbeauftragte der EU zur Erforschung der Ursachen des Kriegs zwischen Russland und Georgien 2008 oder als Ukraine-Beauftragte der OSZE 2014.