Classement thématique série 1848–1945:
II. RELATIONS BILATÉRALES
II.13. HONGRIE
II.13.1. HONGRIE - RELATIONS POLITIQUES
Abgedruckt in
Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 15, Dok. 311
volume linkBern 1992
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Archiv | Schweizerisches Bundesarchiv, Bern | |
▼ ▶ Signatur | CH-BAR#E2300#1000/716#176* | |
Alte Signatur | CH-BAR E 2300(-)1000/716 91 | |
Dossiertitel | Budapest, Politische Berichte und Briefe, Militärberichte, Band 4 (1944–1945) |
dodis.ch/47915
Ich möchte die Gelegenheit des letzten Kuriers benützen, um über die sich immer schwieriger gestaltende Tätigkeit der Abteilung für fremde Interessen zu berichten.
Bekanntlich ist dieser Abteilung seinerzeit auch die Durchführung der Auswanderung für Juden nach Palästina im Rahmen der Interessenvertretung übertragen worden, obwohl in offiziellen und unoffiziellen Kreisen der Schweiz noch immer die Meinung herrscht, dass das Internationale Rote Kreuz sich mit dieser Aktion befasse. Die britische Regierung hat uns ersucht, ca. 20000 Familien für die Auswanderung unter Schutz zu nehmen. Wir wurden ermächtigt, diesen Personen Kollektivpassbescheinigungen auszuhändigen. Die ungarische und deutsche Regierung hat sich nach langen Bemühungen bereit erklärt, 7800 Personen jüdischer Abstammung für die Auswanderung frei zu geben, für die restlichen hat sie uns jedoch das Recht abgesprochen, sie unter irgendwelchen Schutz zu nehmen. Die zur Auswanderung bestimmten Juden wurden in den letzten Wochen in ca. 25 Häusern konzentriert, die unter Schutz der Gesandtschaft stehen. Alle Juden zwischen 16-60 Jahren sind arbeitsdienstpflichtig im In- oder Auslande. Da es an Wagenmaterial fehlt, werden Letztere in langen Kolonnen nach der ca. 240 km entfernten Grenze in Marsch gesetzt, wobei ein grosser Prozentsatz am Wege erschöpft und sterbend liegen bleibt. Sie müssen meist bei Nässe und Kälte im Freien übernachten und sich auf dem mehrtägigen Marsch selbst verpflegen. Diese Zustände tragen Schuld daran, dass die jüdischen Einwohner mit allen Mitteln versuchen, in den Besitz einer schweizerischen Passbescheinigung zu gelangen, da diese vom Arbeitsdienst befreit. Dies führte notgedrungen zu Dokumentenfälschungen grossen Stils, der wir machtlos gegenüberstehen. Seit Wochen sind wir damit beschäftigt, in Konzentrationslagern, in Ziegeleien, Bahnhöfen, Fabrikgebäuden und Häusern, die mit Passbescheinigungen versehenen Juden nach falschen Papieren durchzukämmen. Unsere Tätigkeit, die nur unter starkem Polizeischutz durchgeführt werden kann, wird aber durch die Pfeilkreuzlerpartei immer wieder gestört, indem Mitglieder der Partei willkürlich in die «beschützten» Häuser eindringen, unsere Passbescheinigungen den Leuten abnehmen oder zerreissen, die Leute wegführen oder misshandeln. Die Angestellten dieser Abteilung sind denn auch beständig Provokationen seitens der Pfeilkreuzler ausgesetzt. In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen von einem ernsten Zwischenfall Kenntnis geben. Anlässlich einer Inspektion im St. Istvan Park wurde ich kürzlich inmitten von ca. 5000 Juden und 200 Polizisten von einem Pfeilkreuzler mit gezogenem Revolver bedroht. Es gelang mir, das Auto zu erreichen und dem Kabinettschef Bagossy, selbst ein hohes Parteimitglied, Mitteilung zu machen. Als Letzterer auf dem Platze erschien, konfrontierten ihn Pfeilkreuzler von vier Seiten mit Maschinenpistolen und entrissen ihm Revolver und Legitimationspapiere. Es dauerte längere Zeit, bis die Ruhe hergestellt werden konnte.
Ein anderer Zwischenfall ereignete sich kürzlich an einem verkehrsreichen Punkte der Stadt, als mein Dienstwagen in eine Verkehrsstockung geriet. Sofort war ich von einer krakehlenden, pfeiffenden Menschenmenge umgeben, die sich in unflätigen Ausdrücken über die Schweiz und die Gesandtschaft erging. Es fielen dabei Beschimpfungen wie «das judenbeschützende Schweizergesindel möge Budapest sofort verlassen, ansonst etc.»
Ein anderes Mal wurde ich nachts zehn Uhr von einem unbekannten Hausbesitzer dahingehend informiert, dass 300 Juden mit z.T. schweizerischen Passbescheinigungen von Pfeilkreuzlern in zwei Zimmer eingeschlossen und dem Erstickungstod entgegengingen. Ich begab mich zum Kabinettschef Bagossy, der sofort mit Maschinenpistolen bewaffnet und drei Leibwachen mich in das betreffende Haus begleitete. Wir fanden denn auch die 300 Personen in zwei Zimmern zusammengedrängt, ohne Luft und Nahrung. Einige ältere Personen waren bereits bewusstlos. Ich konnte deren Unterbringung in einer grösseren Wohnung veranlassen. Als wir am nächsten Morgen, wie mit Herrn Kabinettschef Bagossy verabredet, mit Beamten der Gesandtschaft erschienen, um die Prüfung der Papiere und die notdürftige Verpflegung vorzunehmen, war die ganze Gruppe bereits von Pfeilkreuzlern weggeführt worden.
Ferner wurde kürzlich unser zweites Ausweichquartier an der Peripherie der Stadt von Pfeilkreuzlern, meistens halbwüchsigen Burschen, nach Waffen durchsucht, natürlich ohne Grund und Ursache. Trotzdem hat sich das Aussenministerium veranlasst gesehen, mit Verbalnote mitzuteilen, die Gesandtschaft möge dazu Sorge tragen, dass aus ihrem Aus weichquartier inskünftig nicht mehr auf Mitglieder der Partei geschossen werde.
Bei dieser Gelegenheit sei auch erwähnt, dass am Tage der Machtübernahme der jetzigen Regierung zwei Dienstwagen der Abteilung auf offener Strasse von Pfeilkreuzlern entwendet wurden. Der eine Wagen wurde einige Tage später in demoliertem Zustande aufgefunden, während der andere noch immer nicht gefunden werden konnte.
Besonders schwierig ist die Aufrechterhaltung der Asylrechtbestimmungen. Seit der Einführung der Judengesetze besonders aber seit dem 15. März d.J. erhält die Interessenabteilung täglich zahlreiche Gesuche um Gewährung von Asylrecht. Schwerwiegender sind aber die Fälle, wo die Besucher sich in den Räumlichkeiten der Kanzlei zu verbergen versuchen. Es muss erwähnt werden, dass der Parteienverkehr zu bestimmten Zeiten ausserordentlich stark ist. In unseren Bureaux am Szabâdsag tér beläuft er sich auf durchschnittlich 200-300 pro Tag. Die Ordnung vor den zwei Gebäuden kann nur durch starken polizeilichen Schutz, bisweilen mit berittener Polizei, aufrecht erhalten werden. Leider kommt es trotz aller Warnung immer wieder vor, dass Leute aus Furcht vor Abschleppung sich weigern, die Bureaux der Schutzmachtabteilung zu verlassen. So ereignete es sich in den Tagen um den 15. März und 15. Oktober, dass sich über 100 Leute, meistens Juden jugoslawischer und ungarischer Nationalität in den Möbellagern, Waschräumen und Stiegenhäusern der Interessenabteilung verbargen. Da sie unserer Aufforderung, das Gebäude zu verlassen, nicht nachkamen, sah ich mich leider gezwungen, die Leute mit polizeilicher Hilfe entfernen zu lassen. Diese Vorfälle wiederholen sich immer wieder mit der zunehmenden Unsicherheit für die jüdischen Bevölkerungsteile.
Da sich Juden nur während zwei Stunden frei auf der Strasse bewegen können, war es notwendig geworden, für unsere jüdischen Angestellten Quartiere im Gebäude der Abteilung für fremde Interessen zu besorgen. Die ungarische Regierung hat sich mit dieser Notlösung bei dieser und der schwedischen Gesandtschaft einverstanden erklärt. Mit dem Näherrücken der Front und der zunehmenden öffentlichen Unsicherheit wird die Tätigkeit im Interesse der fremden Staatsangehörigen immer schwieriger. Die Kanzleien mussten bisher noch nicht verlegt werden. Es könnte aber notwendig werden, falls die Stadt in die Kampfzone einbezogen werden sollte. Für diesen Fall habe ich Vorkehrungen getroffen, dass die Bureaux wie auch die Wohnquartiere des schweizerischen Personals nach dem Gebäude der früheren britischen Gesandtschaft, Verböczy utca 1, Buda (Nähe der Burg) verlegt werden können2.
- 1
- Lettre: E 2300 Budapest/4. Situationsbericht der Abteilung für fremde Interessen Budapest. Annotation de Pilet-Golaz en tête du document: En circulation, 22.12.44. Cf. aussi E 2001 (D) 11/9.↩
- 2
- C. Lutz adresse le 28 novembre 1944 une lettre à R. Kohli, Chef de la SCIPE du DPF: il rend compte de ses activités en vue de sauver des Juifs et ajoute: Die umfangreichen Aufgaben machen mir Freude. Gottlob haben die Nerven bisher stand gehalten. Es gibt mir grosse Befriedigung Menschenleben retten und Not lindern zu können. Leider hat das Polit. Dept, es wiederum abgelehnt auf den wiederholten Antrag von Herrn Minister Jaeger mich endlich zum Konsul zu befördern. Ich weiss nicht welche Voraussetzungen es dazu noch brauchen könnte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man einem Konsularbeamten noch eine grössere Aufgabe zuweisen könnte, als die mir hier gestellt ist. Ich brauche diesen Titel in der Ausübung meiner derzeitigen schwierigen Tätigkeit unbedingt. Von der ungarischen und deutschen Regierung habe ich jede Unterstützung, nur die eigene hält damit zurück. Denn es geht nicht an, dass man einen Beamten in die Frontlinie schickt und ihm dann die benötigte Hilfe entzieht. Vorläufig werde ich den Mann stellen und mich durch nichts entmutigen lassen, denn es fehlt vielleicht nicht so sehr am guten Willen der zuständigen Behörden als der nötigen Einsicht (E 2001 (D) 3/172).↩
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