Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 7-I, doc. 360
volume linkBern 1979
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2200.41-02#1000/1671#9048* |
Old classification | CH-BAR E 2200 Paris 1 1514 |
Dossier title | Correspondance politique et diplomatique, Teil 6 (1919–1919) |
File reference archive | 1/501-600 |
dodis.ch/44105
Ihrem Wunsche gemäss sende ich Ihnen anbei ein kurzes Memorandum2 über die Vorarlberger-Frage, das Herr Minister Lardy - er befindet sich gegenwärtig im Urlaub bei seinem Vater - in aller Eile abgefasst hat. Leider kann ich aus Zeitmangel keine Kopien davon senden. Wenn nötig, bitte ich solche dort anfertigen zu lassen. Ich habe kaum recht Zeit, diese Ausführungen des Herrn Lardy zu überprüfen. Immerhin scheinen sie mir nichts Unrichtiges zu enthalten und die Hauptgesichtspunkte der Vorarlberger-Frage zu berühren.
Das Memorandum des Herrn Lardy möchte ich noch durch folgende Bemerkungen ergänzen:
Bis vor Kurzem haben wir die Frage des Anschlusses an die Schweiz ohne weiteres verneint, weil wir hofften, dass dieser Volksteil nach wie vor seine Verbindung mit Deutsch-Österreich wünsche und weil wir ja bekanntlich ein unabhängiges Deutsch-Österreich anstreben und den Anschluss von Deutsch-Österreich an Gross-Deutschland mit allen Mitteln zu hintertreiben suchen. Seit einiger Zeit aber hat sich die Sachlage vollständig geändert. Vorarlberg erklärt mit der grössten Bestimmtheit, dass es nicht mehr zu Deutsch-Österreich gehören, sondern mit der Schweiz verbunden sein wolle. Vorarlberg erklärt weiter, dass, wenn die Schweiz die Aufnahme Vorarlbergs in ihren Staatsverband ablehne, es dann seinen Anschluss an Deutschland suchen werde. So stellt sich das Dilemma: entweder Anschluss des Vorarlbergs an die Schweiz oder Anschluss des Vorarlbergs an Deutschland.
Unter solchen Umständen kann die Schweiz nicht mehr ohne weiteres einen ablehnenden Standpunkt einnehmen. Nachdem bekannt geworden ist, dass Vorarlberg nur mit der Schweiz oder mit Deutschland, nicht aber mit Deutsch-Österreich verbunden werden will, macht sich im Schweizervolke eine starke Bewegung zu Gunsten des Anschlusses des Vorarlbergs an die Schweiz geltend. Die überwiegende Mehrheit der Presse verlangt unter solchen Umständen, dass das Gesuch der Vorarlberger um Anschluss an die Schweiz wohlwollend und objektiv geprüft werde und dass man nicht von vornherein nein sage. Das ist auch der Standpunkt des Bundesrates. Wir wollen heute die Frage des Anschlusses des Vorarlbergs an die Schweiz nicht in bejahendem Sinne präjudizieren. Wir haben aber beschlossen, die Frage nach allen massgebenden Gesichtspunkten eingehend zu prüfen. Eine Delegation der Vorarlberger, die früher nach Bern gekommen war, hat der ßundesrat gar nicht empfangen. Nunmehr haben wir aber beschlossen, den Vorarlbergern offiziös mitzuteilen, dass der Bundesrat die Frage des Anschlusses ernstlich prüfen werde, sich aber seinen Entscheid vollkommen Vorbehalten müsse.
Der massgebende Gesichtspunkt für die Schweiz ist der folgende: Gelangt Vorarlberg zu Deutschland, so treibt Grossdeutschland auf diese Weise einen gefährlichen Keil tief hinein in die Ostflanke der Schweiz, dann gelangt der deutsche wirtschaftliche, intellektuelle und moralische Einfluss unmittelbar bis an den Rhein oberhalb des Bodensees, bis nach Ragaz, bis vor die Tore von Graubünden. Das wäre für die Schweiz eine unbestreitbare nationale Gefahr. Wenn immer möglich muss diese Gefahr abgewendet werden. Die einzige Möglichkeit, diese Gefahr abzuwenden scheint vorläufig der Anschluss des Vorarlbergs an die Schweiz zu sein, denn es kann gar keine Rede davon sein, aus dem Vorarlberg einen selbständigen Staat zu machen. Übrigens lehnen die Vorarlberger eine solche Lösung rundweg ab. Sie wollen entweder zur Schweiz oder zu Deutschland.
Die Aufnahme der Vorarlberger in die Schweizerfamilie ist aber auch mit bedeutenden Nachteilen verbunden. Als solche erwähne ich vor allem die Möglichkeit, dass das Vorarlberg als Teil der früheren österreichisch-ungarischen Monarchie mit einer seiner Bevölkerung oder seiner Gebietsausdehnung entsprechenden Quote der ungeheuren Staatsschuld des genannten früheren Staates belastet werden könnte. Wenn wirklich eine solche grosse Schuld von Vorarlberg übernommen werden muss, so stellt sich die Frage, wer bezahlt? Die Vorarlberger selbst sind nicht im Stande, eine so grosse Summe zu bezahlen, also müsste die gesamte Schweiz in den Riss treten. Damit der Anschluss des Vorarlbergs an die Schweiz möglich werde, müssen wir die alliierten Mächte ersuchen, dahin zu wirken, dass das Vorarlberg nicht mit Schulden der früheren österreichisch-ungarischen Monarchie belastet werde. Eventuell wäre diese Schuldenquote auf eine für das Vorarlberg erträgliche Summe zu beschränken.
Bei alledem kann der Anschluss des Vorarlbergs an die Schweiz nur unter drei Voraussetzungen in Frage kommen:
1. Die überwiegende Mehrheit des Vorarlberger Volkes muss sich unzweideutig dafür aussprechen.
2. Eine Revision der Schweizerischen Bundesverfassung ist nötig, zu welcher die Mehrheit des Volkes und der Stände erforderlich ist. Der Anschluss des Vorarlbergs an die Schweiz kann nur in Form einer Verfassungsrevision erfolgen.
3. Die Pariser Konferenz oder die daran beteiligten Mächte müssen in irgend einer Form in unzweideutiger Weise ihre Zustimmung erteilen und auch das Vorarlberg in die Garantie der Neutralität und der Unverletzbarkeit des Territoriums einbeziehen. Wenn nach dieser Richtung irgendwelche internationale Schwierigkeiten entstünden, würde die Schweiz von vorneherein auf den Anschluss verzichten.
Ich bitte Sie, Herr Professor, im Sinne der obigen Ausführung vorzugehen und das von Herrn Lardy ausgearbeitete Memorial in der Ihnen gutscheinenden Weise zu ergänzen und zu präzisieren.
P.S. Ich ersuche Sie, die beiliegende Kopie dieses Schreibens Herrn Dunant zu übergeben3 und ebenso ein Exemplar der Karten, wenn er solche wünscht, sowie eine Kopie des Memorials.
Unser Standpunkt betreffend Deutsch-Österreich ist immer der gleiche: Verhinderung des Anschlusses an Deutschland.4
- 1
- Lettre (Copie): H 2200 Paris 1/15 14I12.T.↩
- 2
- Non reproduit; sur les versions de ce Memorandum, cf. J.1.149, Mission Paris 1919, div. Mémo et E 2001 (B) 1/81.↩
- 3
- Remarque manuscrite de Dunant en tête du document: M. Rappard a reçu cette lettre le lundi 28 avril à midi et m’a remis cette copie le mardi 29 avril à 9 heures soir.↩