Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 7-I, doc. 124
volume linkBern 1979
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2300#1000/716#584* | |
Old classification | CH-BAR E 2300(-)1000/716 282 | |
Dossier title | Moskau, Konsularberichte aus Moskau, Jalta, Kiew, Odessa und Tiflis, Band 1 (1917–1922) |
dodis.ch/43869
Seit meinem letzten Bericht vom 3. Dezember vergangenen Jahres hat sich die Situation in unserer Kolonie im Wesentlichen nicht sehr verändert. Eine stark anwachsende Nervosität, die durch die Sorgen aller Art verursacht wird, ist bei Einheimischen wie Ausländern in gleicher Weise bemerkbar; gegen damals hat sich die Lebensmittelkrise bedeutend verschärft, da die vorhanden gewesenen Vorräte fast überall zur Neige gehen und die Geschäfte infolge der «Nationalisierung» zu reglementierter Verabfolgung der Vorräte nur an die ihnen vorgeschriebenen Stellen liefern und an Private nichts mehr abgeben dürfen! Die meisten Lebensmittelgeschäfte wurden kurzerhand von den Behörden zugemacht, das Inventar wurde requiriert oder meist konfisciert und die leeren Lokale den Arbeiterverbänden und verwandten Organisationen zur Verfügung gestellt. Der Verkauf der Ware wurde auf einzelne Läden beschränkt, die durch grosse Aushängeschilder kenntlich gemacht wurden, während fast alle privaten Schilder verschwinden mussten, wodurch die Stadt ein trostloses, überaus verwahrlostes Aussehen erhalten hat. Wie den Lebensmitteln ist es auch den Manufakturwaren ergangen; der Handel, wie deren Ausstellung sind nationalisiert worden, es darf nicht mehr frei verkauft werden, und auch der Bezug der Karten, auf welche hin diese Sachen verkauft werden, ist auch an gewisse Formalitäten gebunden und geht durch einen schwerfälligen, langsam arbeitenden bürokratischen Apparat hindurch. Das Publikum ist apatisch und mürrisch geworden; es liegt etwas wie ein Alpdruck über der ganzen Bevölkerung; dieses unangenehme, unstete Gefühl wird noch verstärkt durch die zur Mode gewordenen «Requisitionen» der Wohnungen der Bessersituierten und deren beweglichen Eigentums; diesem organisierten Rauben fremden Hab und Gutes sind leider auch viele Ausländer, darunter auch Schweizer, zum Opfer gefallen! Eine weitere Sorge bilden die unmöglichen Steuern, mit denen man die Bevölkerung belegt; das schlimmste, was bis jetzt in dieser Beziehung geleistet wurde, bietet die sog. «ausserordentliche Revolutionssteuer», zu der einem oft mehr wie das halbe Vermögen weggenommen wird! So wird z.B. Ihrem Berichterstatter das Vermögen auf 100.000 Rubel taxiert, auf welches eine Steuer von 60.000 Rubel gelegt wurde. Da die offiziellen Beziehungen zwischen unserer und der hiesigen Regierung nicht mehr bestehen, ist der Schutz unserer hiesigen Landsleute natürlicher Weise ein sehr problematischer, immerhin bemühen wir uns, unter Mitwirkung des neuen Vorstehers der Rechtsabteilung des Kommissariats für Auswärtiges, der persönlich nicht zu den politischen Scharfmachern zu gehören scheint, die Situation für unsere Landsleute nach Möglichkeit zu mildern. Bei dem Fanatismus, mit dem hier «regiert» wird, namentlich von den unteren, ausführenden Organen, die oft Analphabeten sind und sich bloss für die Erhaltung des eigenen Ich interessieren, ist es oft schwer, auf Erfolg zu rechnen; es scheint aber, dass man nach und nach höhern Orts doch zur Einsicht zu kommen scheint, dass es in der bisherigen Weise nicht mehr lange weiter gehen kann; vom Kommissariat des Auswärtigen sind dann verschiedene Ausnahmebestimmungen, das Eigentum der Ausländer betreffend, veröffentlicht worden, die uns gewisse Erleichterungen, wenn auch nur in unzureichendem Masse, einräumen. Wie das Endresultat oben genannter Steuer sein wird, ist noch unbestimmt; da es sich um eine ausgesprochene Steuer zum Unterhalt der roten Armee, also um eine Kriegssteuer in des Wortes wahrster Bedeutung handelt, haben sämtliche Repräsentanten der ausländischen Staaten und Kolonien beschlossen, ihren Landsleuten zu empfehlen, von der Bezahlung der ihnen auferlegten Summen Abstand zu nehmen. Es scheint bis jetzt, dass auch die Rechtsabteilung des Kommissariats gewillt ist, diesen Standpunkt zu teilen. Über die Schwierigkeiten, die wir mit der Abreise unserer diplomatischen Vertretung haben, sind Sie durch diese selbst unterrichtet. Der stellvertretende Kommissar, Karachan, gibt als Hauptgrund der Verweigerung der Visas an, dass in der Schweiz Russen in Gefängnisse verbracht worden seien, bloss weil sie der Partei der Bolschewiki angehören; solange durch einen Vertrauensmann der hiesigen Regierung der Fall nicht untersucht worden sei, könne von der Erteilung der Visas keine Rede sein. Um Sie über den augenblicklichen Stand der Angelegenheit zu orientieren, lege ich zu Ihrer gefl. Kenntnisnahme die Kopie eines in dieser Sache an unseren Minister geschriebenen Berichtes bei. Mir scheint es, als ob die Internierung von Russen in Schweizer Gefängnissen nur Vorwand ist, da sich Karachan bloss auf vage Berichte aus deutschen sozialistischen Zeitungen basiert und nicht im Stande ist, positive Anhaltspunkte zu geben. Er nennt zwar mitunter Namen, vor einigen Tagen z.B. Frau Ljubarsky, von der er selbst beifügte, dass sie nach einigen Tagen wieder freigelassen worden war.
Die Hungertyphusepidemie greift in unserm Bezirk mit rasender Eile um sich. Wir haben deshalb alle unsere hiesigen Landsleute wiederholt ermahnt, die Heimreise möglichst bald zu bewerkstelligen, zumal da neben der Seuche die Nahrungsmittelnot wächst und das Eisenbahnmaterial immer unbrauchbarer wird. Heute hoffen wir eine Anzahl von Schweizern mit einem französischen Transport abzufertigen und bemühen uns, die Erlaubnis für einen neuen Schweizerzug zu erhalten. Unsere Kolonie ist leider für die gegenwärtigen Verhältnisse immer noch viel zu gross; da wir noch über 500 Angehörige haben, ist sie weitaus die grösste Kolonie der Ausländer; viele unserer hier geborenen und aufgewachsenen Landsleute sind derart verrusst, dass sie trotz allen Entbehrungen und Sorgen nicht dazu zu bringen sind, wegzureisen.
Die Arbeit in meinem Konsulat geht einstweilen ungestört seinen Gang; ich persönlich geniesse bis jetzt auch noch uneingeschränkt die dem Konsularpersonal eingeräumten Vergünstigungen; auf wie lange, hängt wohl viel von der Weiterentwicklung der Ereignisse ab! Ein Komitee von etwa 20 tüchtigen jungen Schweizern steht dem Konsulat in uneigennütziger Weise bei und leistet unschätzbare Dienste; die Mitarbeit dieses Komitees legt ein glänzendes Zeugnis ab für echte schweizerische Gesinnung und Tüchtigkeit und unser Zusammengehörigkeitsgefühl, das bis jetzt siegreich gemeinsamen Schwierigkeiten zu begegnen wusste. [...].
- 1
- E 2300 Moskau, Archiv-Nr. 1. Kurzer Situationsbericht.↩