Abgedruckt in
Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 6, Dok. 54
volume linkBern 1981
Mehr… |▼▶Aufbewahrungsort
Archiv | Schweizerisches Bundesarchiv, Bern | |
▼ ▶ Signatur | CH-BAR#E2001A#1000/45#738* | |
Alte Signatur | CH-BAR E 2001(A)1000/45 92 | |
Dossiertitel | Nr. 709. Aufrufe des Bundesrates an das Schweizervolk und Kreisschreiben an die Kantone betr. Wahrung der Neutralität (1914–1918) | |
Aktenzeichen Archiv | B.272.13 |
dodis.ch/43329
Getreue, liebe Eidgenossen!
Zwei Monate schon dauert das gewaltige Ringen der kriegführenden Nationen und noch ist das Ende des furchtbaren Krieges nicht abzusehen.
Bei Beginn der Kriegswirren haben unsere Behörden mit Einstimmigkeit die vollständige Neutralität des Landes erklärt; das ganze Volk billigt diesen Entschluss. Es ist unser fester Wille, mit allen dem Lande zur Verfügung stehenden Mitteln und mit aller Gewissenhaftigkeit diese Neutralität auch fernerhin zu wahren. Dieser Standpunkt hat unserm Lande bis anhin die Schrecken des Krieges erspart, er hat aber auch Pflichten geschaffen und legt uns Opfer auf. Nicht überall ist man sich dieser Pflichten und Opfer klar bewusst.
Wir müssen uns bestreben, in der Beurteilung der Ereignisse, in der Äusserung der Sympathien für die einzelnen Nationen uns möglichste Zurückhaltung aufzuerlegen, alles zu unterlassen, was die in den Krieg verwickelten Staaten und Völker verletzt, und eine einseitige Parteinahme zu vermeiden. Zurückhaltung und Mässigung in der Beurteilung der Geschehnisse bedeuten keinen schwächlichen Verzicht auf die in den verschiedenen Kreisen des Volkes herrschenden, naturgemäss auseinandergehenden Sympathien und Gefühle; das Herz des einzelnen Bürgers wird deswegen nicht weniger warm schlagen für diejenigen, mit denen ihn besonders enge Beziehungen verknüpfen und deren Schicksal ihm vor ändern nahe geht.
Nur durch eine solche Haltung der Einzelnen wird es uns möglich sein, die Pflichten zu erfüllen, die die Neutralität in diesem Kriege uns auferlegt, und die guten Beziehungen unseres Landes zu den übrigen Staaten zu erhalten. Nie war dieses Interesse grösser als in den gegenwärtigen wirren äussern Verhältnissen, nie ist seine Wahrung mit grössern Schwierigkeiten verbunden gewesen.
Noch wichtiger aber als die Rücksicht auf die fremden Nationen ist das Lebensinteresse unseres Staates an kraftvoller Geschlossenheit und unerschütterlicher innerer Einheit. Diese Einheit ist eine dringende Notwendigkeit, heute, wo unserm Vaterlande schwere kulturelle, wirtschaftliche und finanzielle Wunden geschlagen werden, und morgen, wenn es gilt, in treuem Zusammenhalten, diese Wunden zu heilen. Die Geschichte lehrt uns, das die Schweiz nie in grössere Bedrängnis geriet, nie schwere Einbussen zu erleiden hatte, als wenn sie durch innern Zwist zerrissen, durch mangelnden Gemeinsinn geschwächt war. Erinnern wir uns dessen und hüten wir uns, in einem Augenblicke, wo die Würfel um die Geschicke der Völker geworfen werden, das Zusammengehörigkeitsgefühl durch unvorsichtige, leidenschaftliche, verletzende Betonung des Trennenden zu lockern, statt es durch patriotische Hervorhebung des Einigenden zu stärken.
Wir richten unsern Appell zu weiser Mässigung und Zurückhaltung an jeden einzelnen Bürger, ganz besonders aber an die schweizerische Presse aller Parteirichtungen, aller Sprachen, aller Landesgegenden. Sie ist die Wortführerin und Leiterin der öffentlichen Meinung; sie hat die hehre Aufgabe, überbordende Leidenschaften zurückzudämmen, die zentrifugalen Strömungen zu bekämpfen und überall ihren mässigenden, versöhnenden Einfluss auszuüben.
Die harte Zeit der Prüfung, die wir jetzt durchleben, muss der Ausgangspunkt eines geistigen, wirtschaftlichen und politischen Aufschwungs werden; hierzu bedürfen wir der Zusammenfassung aller im Volke schlummernden Kräfte. Deshalb darf es in ihm keine unversöhnlichen Gegensätze der Rasse und der Sprache geben. Wir erblicken das Ideal unseres Landes in einer über Rassen und Sprachen stehenden Kulturgemeinschaft. Zuerst und allem weit voraus sind wir Schweizer, erst in zweiter Linie Romanen und Germanen. Höher als alle Sympathien für diejenigen, mit denen uns Stammesgemeinschaft verknüpft, steht uns das Wohl des einen, gemeinsamen Vaterlandes; ihm ist alles andere unterzuordnen.
Mit diesem Wunsche empfehlen wir, getreue liebe Eidgenossen, unser Land dem Machtschutz Gottes.
- 1
- Cet appel est signé: Im Namen des schweizerischen Bundesrates, A. Hoffmann et H. Schatzmann[Chancelier de la Confédération].↩
- 2
- (Copie): E 2001, Archiv-Nr. 709.↩