Language: German
2007
Paul Widmer: Die Schweiz als Sonderfall. Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich 2007. 250 S.
Bibliographical reference (Bib)
sig. In aller Regel halten sich Diplomaten im Dienst mit ihrer persönlichen Meinung in aktuellen politischen Debatten zurück. Botschafter Paul Widmer, der demnächst von Amman nach Strassburg wechselt, ist da eine Ausnahmeerscheinung. Von einer solchen handelt auch sein jüngstes Buch. «Die Schweiz als Sonderfall» ist ein Bekenntnis zu einem Land, das immer schon anders war und es auch bleiben soll. Der promovierte Historiker rechnet mit dem Zeitgeist der neunziger Jahre ab, als sich die Schweiz an der Weltausstellung in Sevilla mit dem Spruch «Suiza no existe» präsentierte und, wie Widmer sich erinnert, der damalige Aussenminister René Felber seinem Mitarbeiterstab erklärte, er wolle das Wort «Sonderfall» nie wieder hören.

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Vier Säulen der politischen Kultur
Das Verhältnis der Schweizer zur Schweiz und zum Ausland hat sich seither entkrampft. Widmer setzt dieses wiedergefundene Selbstbewusstsein allerdings mit einem gestärkten «Sonderfallbewusstsein» gleich, insbesondere bei den Jungen und den Welschen. Er überspringt dabei Definitionsfragen und begibt sich (anders als in den reichhaltigen historischen Kapiteln) auf methodisch unsicheres Gelände. Seine These stützt sich auf Umfragen und Rekrutenbefragungen. Die Demoskopen konnten zwar in diesem Jahrzehnt höhere Raten der Zustimmung zum «Sonderfall», zur «Schweiz als Insel» oder zur «Swissness» messen, gleichzeitig befürwortete aber an der Urne eine Mehrheit den Uno-Beitritt und bilaterale Verträge, welche die Übernahme von EU-Recht enthalten.

Direkte Demokratie, Föderalismus, Neutralität und Mehrsprachigkeit sind für Widmer die vier tragenden Säulen der Schweiz. Aus ihnen ist mit der Zeit eine politische Kultur hervorgegangen, die mit den Stichworten Konkordanz, Bürgersinn, Miliz, Selbstbeschränkung oder Skepsis gegenüber Zentral- und Sozialstaat beschrieben werden kann. Während die Institutionen fest verankert seien, stellt Widmer bei den weichen Faktoren, dem Schmiermittel des politischen Systems, einen Schwund fest. Seine Analyse überzeugt, die punktuellen Lösungsvorschläge weniger ¿ etwa die personelle Vergrösserung der Armee zwecks Stärkung des Milizgedankens, losgelöst von sicherheitspolitischen Überlegungen.

Produkt der Geschichte oder Konzept?
Der Autor streitet den zufälligen, pragmatischen oder ausländischen Ursprung mancher Besonderheit der Eidgenossenschaft nicht ab. Dennoch leitet er die Erfolgsrezepte für die Zukunft fast mechanistisch aus der Vergangenheit ab. Historisch wird der Sonderfall als eine Reihe von Entscheidungen beschrieben, welche die Eidgenossen in einer bestimmten Situation nach Abwägen von Kosten und Nutzen trafen oder die ihnen von aussen aufgezwungen wurden. Heute stellt ihn Widmer als «politisches Konzept» dar, als eine politische Grundhaltung, die mehr ist als die Summe der erwähnten Entscheidungen.

Obwohl Widmer aus einer Fülle von Quellen zitiert, ist sein Buch nicht schwerfällig. Eine Bereicherung sind die in allen Epochen eingeflochtenen Beobachtungen von ausländischen Staatsmännern und Künstlern sowie die Exkurse in die politische Philosophie. Diese Ideengeschichte verdeutlicht, wie lange schon über den Sonderfall-Gedanken und ¿ weitaus länger ¿ über seine Bestandteile gestritten wird. Dass die Schweiz zur Mehrsprachigkeit oder zur Neutralität kam wie die Jungfrau zum Kinde, verschweigt Widmer nicht, und er thematisiert auch Besonderheiten der Schweiz, die wie die Schiedsgerichtsbarkeit heute nur noch eine untergeordnete Rolle finden.

Der differenzierte Blick in die Vergangenheit kontrastiert mit der scheinbar definitiven Beschreibung der Gegenwart. So verzichtet Widmer, der für eine möglichst strikte Neutralitätspolitik und einen Ausstieg aus dem Nato-Programm «Partnerschaft für den Frieden» plädiert, auf eine Analyse der militärisch-technologischen und der sicherheitspolitischen Entwicklung. Als Gefahren für den Sonderfall nennt er den Verlust des Bürgersinns oder die mangelnde Selbstbeschränkung (auch bei Managerlöhnen). Die europäische Integration ¿ mit oder ohne EU-Beitritt wohl die grösste Herausforderung für die direkte Demokratie und den Föderalismus ¿ kommt jedoch nur am Rande vor.
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