Language: French
2007
Georges Andrey, L'Histoire suisse pour les nuls, Paris, First, 2007.
Bibliographical reference (Bib)
Compte rendu par Charles Heimberg dans Le Courrier du 30.10.2007 et dans Le Courrier du 18.12.2007 par Philippe Henry, Olivier Meuwly, Alain-Jacques Czouz-Tornare, Jean-Pierre Dorand, Anselme Zurfluh.
Cf. aussi L'Hebdo du 28.2.2008.

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7.3.2008, Neue Zürcher Zeitung

Tell entzweit die Eidgenossen auch weiterhin
Welscher Historikerstreit um eine neue Schweizer Geschichte

Eine betont leserfreundliche Darstellung der Schweizer Geschichte durch den Historiker Georges Andrey ist in der Romandie zu einem Bestseller geworden, hat aber einen Historikerstreit entfacht. Vor allem linke Fachvertreter sehen in Andreys Werk eine Rückkehr zu einer unkritischen, «reaktionären» nationalen Geschichtsschreibung. Zu Recht? ...

C. Bi. Lausanne, 6. März


In letzter Zeit erlebt die Schweizer Geschichte ein Revival auf dem welschen Buchmarkt. Die «Schweizer Geschichte auf einen Blick» der Journalistin Joëlle Kuntz thronte wochenlang zuoberst auf der Bestsellerliste. Ein Lehrmittel von Grégoire Nappey, mit Illustrationen des Karikaturisten Mix & Remix, schwimmt ebenfalls erfolgreich auf der helvetischen Welle. Auch die «Histoire suisse pour les Nuls» des Freiburger Historikers Georges Andrey ist zu einem Verkaufsschlager geworden. Dabei fordert dieses Buch, das sich im Titel an «Dummerchen» richtet, dem Leser doch einiges ab: Immerhin umfasst es fast 600 Seiten. Und wenn diese Gesamtdarstellung, die bald auch in einem deutschen Verlag erscheinen soll, auch denkbar locker geschrieben ist, so stellt sich die Hoffnung, man werde hier gleichsam im Handumdrehen und ohne Anstrengung mit der Schweizer Geschichte vertraut, doch als Illusion heraus.
Neopatriotismus - wirklich?
Wie erklärt sich dieser Verkaufserfolg? Sicher spielt die Marketing-Macht des Verlags eine Rolle, wie auch die Bekanntheit der Buchreihe «pour les Nuls», die eine französische Adaption eines erfolgreichen amerikanischen Labels («for dummies») darstellt. Entscheidender ist aber die Tatsache, dass viele welsche Leser, nachdem man sie jahrelang mit Büchern über Frankreich, Europa und die Welt eingedeckt hat, halt wieder etwas über die Schweiz wissen wollen. Gewisse Journalisten sprechen jetzt von einem neopatriotischen Megatrend. Dabei haben sich die Romands schon immer sowohl für ihre Region wie auch für ihr Land interessiert. Neu ist nur, dass ein Teil der Intelligenzia es gemerkt hat.

Wer nun aber glaubt, die Historiker freuten sich einhellig darüber, täuscht sich gewaltig. In der Historikerzunft weckt der Erfolg dieser Bücher, um es vorsichtig auszudrücken, gemischte Gefühle. Vor allem das Buch Andreys wird durchaus nicht von allen Fachleuten goutiert; vielmehr hat es einen welschen Historikerstreit ausgelöst.

«Zu wenig über Antisemitismus»
Begonnen hat dieser mit einem Verriss des Genfer Historikers Charles Heimberg im linken «Courrier de Genève». Der Autor bezeichnet Andreys Buch als enttäuschendes und reichlich plattes Kompendium, dem es an kritischem Geist und geschichtlicher Perspektive fehle. Unter anderem wirft er Andrey vor, man lese bei ihm kaum etwas über den Antisemitismus vieler Schweizer. Auch über den Bericht der Bergier-Kommission stehe kein Wort. Und schliesslich kritisiert er, dass der Figur von Wilhelm Tell ein gewisses Mass an historischer Wahrscheinlichkeit zugesprochen werde. In der Tat schreibt Andrey, die Geschichte von Tell müsse einen historischen Fundus haben: Der knallharte «Negationismus» in dieser Frage sei überholt. Man sieht: Früher war es verpönt, Zweifel an der historischen Authentizität Tells zu äussern. Heute sind Zweifel an diesen Zweifeln für gewisse Historiker ein Ärgernis.

Reaktion liess nicht auf sich warten
Kurz darauf publizierte der «Courrier» eine Replik, die vom Neuenburger Geschichtsprofessor Philippe Henry und von vier weiteren Historikern (Olivier Meuwly, Alain-Jacques Czouz-Tornare, Jean-Pierre Dorand und Anselm Zurfluh) unterzeichnet wurde. Sie freuen sich über die Rehabilitierung der politischen Geschichte, die auch Ereignissen und Persönlichkeiten den ihnen gebührenden Platz einräumt, und werfen Andreys Kritiker eine linke Scheuklappen-Perspektive vor. Schliesslich meldete sich auch der an der Universität Genf lehrende Historiker Bertrand Müller, ein Kenner der Ecole des Annales, zu Wort. Er beurteilte Andreys Werk vorwiegend kritisch: Es sei mehr auf Konsens als auf kritische Auseinandersetzung ausgerichtet.

Die Debatte im «Courrier de Genève» ist inzwischen auch auf die Hochschulen übergeschwappt. Zwar bekam Andrey an einer Tagung an der Universität Genf viel Lob. Aber an einem fast zur gleichen Zeit stattfindenden Kolloquium an der Universität Lausanne, an dem neben Müller unter anderem auch die linken Historiker Hans-Ulrich Jost und Sébastien Guex teilnahmen, bekam Andrey erneut sein Fett ab: Sein Buch sei eine Ansammlung von Anekdoten, eine Rückkehr zur Geschichtsschreibung «à grand-papa», eine nostalgische «Retro-Historie». Und die Verteidigungsschrift von Henry und Konsorten wurde gar als Manifest der Reaktion bezeichnet.

Das Risiko, gelesen zu werden
Indessen täten die Kritiker gut daran, zuerst einmal anzuerkennen, dass Andreys Buch unverkennbare Stärken hat. Es liest sich angenehm; die Information ist dicht und solide. Daneben bietet es auch einige originelle Exkurse, die mit Humor und Ironie serviert werden. Und vor allem ist es so einfach und munter geschrieben, dass auch die jungen Leute, die mit Google und Wikipedia aufgewachsen sind, es lesen können ¿ und vielleicht auch lesen wollen. ¿ Daneben weist sein Buch natürlich auch Schwächen auf: Man fasst die Schweizer Geschichte von den Helvetiern bis zur Gegenwart nicht ungestraft in einigen hundert Seiten zusammen. Der Zwischenkriegszeit und dem Zweiten Weltkrieg beispielsweise wurden nur je 19 locker bedruckte Seiten gewidmet, die zudem mit unzähligen Kästchen und anderen poppigen Einstiegshilfen vollgepackt wurden. Da gibt es gezwungenermassen Weg- und Unterlassungen. So sind die Ausführungen über die Rolle der Schweiz in der Nazizeit in der Tat sehr knapp ausgefallen. Auch die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wird nur gestreift.

Ein anderes Problem liegt darin, dass es in diesem Buch keine Fussnoten und keine Quellenangaben gibt. So entsteht der Eindruck, dass die Geschichte aus unbestreitbaren «Facts» besteht und nicht Gegenstand einer permanenten Debatte und Überprüfung darstellt; diese Schwächen sind allerdings weitgehend dem vom Verleger definierten «Format» zuzuschreiben. Gleichwohl stellt dieses Buch eine Leistung dar. Gegenüber den Kritikern, die monieren, man hätte dies tun oder jenes lassen sollen, besitzt Andrey einen grossen Vorzug: Er hat geschrieben. Und er ist das Risiko eingegangen, gelesen zu werden.

Nicht nur Futterneid
Dennoch, und gerade deshalb, stellt sich die Frage, weshalb ein Teil der Historikerzunft auf diese Publikation so allergisch reagiert. Dies mag einerseits mit einem gewissen Futterneid zusammenhängen und mit Konkurrenzangst. Es muss aber auch gesagt werden, dass die Hochkonjunktur, die historische Themen auf dem Büchermarkt wie auch in den Medien erleben, tatsächlich Risiken birgt. Viele Leser wollen «spannende Storys»; und da besteht die Gefahr, dass strukturelle Zusammenhänge ausgeblendet und Persönlichkeiten sowie Ereignisse zu stark in den Vordergrund gerückt werden, ja dass, wie in alten Zeiten, den «starken Männern» wieder der rote Teppich ausgebreitet wird. Aber man kann durchaus gut und leserfreundlich schreiben, ohne in solche Fallen zu tappen; es gibt genügend hervorragende Historiker, die dies bewiesen haben. Und umgekehrt: Wenn schlechter Stil und schwer verständliche Sprache ein Beweis für fachliche Solidität wären, hätte sich das längst herumgesprochen . . .

Warnen vor «Blocherismus»
Die Abwehrreaktion gegen Andreys Buch hat im Grund genommen aber auch einen ideologischen Hintergrund. Linke Historiker halten eine starke Position an den welschen Hochschulen, ganz besonders an der Universität Lausanne. Und sie betrachten Andreys Erfolg - wie auch den Ruf nach stärkerer Berücksichtigung der nationalen Geschichte in Schule und Forschung - als Angriff auf eine sozialwissenschaftlich inspirierte Geschichtsschreibung, als Ausdruck einer restaurativen Sicht der Vergangenheit, ja als verkappten «Blocherismus». Dabei wird leicht übersehen, dass die Auseinandersetzung mit der Schweizer Geschichte keineswegs mit der Rückkehr zu einer traditionalistischen heroisierenden Geschichtsschreibung einhergehen muss.

Wir leben in einer Zeit, in der allenthalben neue Staaten entstehen; «nation-building» ist deshalb eine Problematik, die nach wie vor - und sogar mehr denn je - interessieren muss. In diesem Zusammenhang verdient auch die Entstehung und Entwicklung der Schweiz im Verlauf der Jahrhunderte durchaus Interesse. Dieses mit einem reaktionären und restaurativen Projekt gleichzusetzen, ist eine polemische Verkürzung sondergleichen. Soziale Strukturen sind wichtig; Personen aber auch. Lange Zyklen sind wichtig; historische Ereignisse auch. Erst durch ihre dialektische Verknüpfung entsteht gute Geschichtsschreibung.


Georges Andrey: Histoire suisse pour les Nuls. Editions First, Paris 2007. ISBN 978-2-7540-0489-3. - Joëlle Kuntz: Histoire suisse en un clin d'oeil. Editions Zoé, Carouge 2006. ISBN 978-2-88182-580-4. - Grégoire Nappey: Histoire suisse. Illustrationen Mix & Remix. Editions LEP, Le-Mont-sur-Lausanne 2007. ISBN 978-2-606-01200-7.
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