dodis.ch/14 Interne Notiz des Politischen Departements
1
Ich habe heute den Herren v. Bothmer und Dr. Kádár unsere Note betreffend Anerkennung der ungarischen Regierung durch den Bundesrat übergeben2. Dr. Kádár bemerkt, wir möchten im voraus entschuldigen, falls eine Antwort aus Budapest vielleicht längere Zeit auf sich warten lassen sollte, und dafür nicht schlechten Willen in Rechnung stellen. Abgesehen von den materiellen Schwierigkeiten, eine Antwort nach Bern gelangen zu lassen, könnten auch andere Hemmungen bestehen.
In diesem Zusammenhang verweist er auf das beiliegende Interview3, das der ungarische Aussenminister Gyöngyösi einem Mitarbeiter der «Nation» (veröffentlicht am 9. ds.) gewährt hat. Darnach hat sich Herr Gyöngyösi dahin geäussert, eine ungarische Souveränität gebe es nur in dem vom Waffenstillstandsvertrag festgesetzten Rahmen... Von einer aktiven Aussenpolitik, die Initiativen ergreifen könnte, könne nicht die Rede sein... Dies gelte insbesondere vom Kapitel der Beziehungen zwischen der Schweiz und Ungarn... Es sei dies nicht ein Problem von Bern und Budapest, sondern von Bern und Moskau 4. Persönlich sei er ein Verehrer der Schweizer Demokratie. – Herr von Bothmer sieht in diesen Äusserungen eine Bestätigung seiner Annahme, Budapest sei einfach nicht in der Lage, ihm und seinen Mitarbeitern Weisungen für ihr weiteres Verhalten zukommen zu lassen. – Zu den bevorstehenden schweizerisch-ungarischen Wirtschaftsverhandlungen5 meint Dr. Kádár, es sei doch sehr fraglich, ob der Industrieminister Ban oder der Handelsminister Gerö, diese beiden – Ungarn von Moskau bescherten – Minister, wie er sagt, persönlich daran teilnehmen werden. Wäre dies der Fall, so wäre es, wie er streng vertraulich beifügt, ratsam, auf Zeitgewinn zu verhandeln und mit keinem von diesen beiden Herren abzuschliessen, vielmehr den Abschluss soweit hinauszuzögern, bis ein Friedensvertrag zwischen Ungarn und seinen früheren Feinden zustande gekommen sei. Man hoffe doch ernsthaft, Ungarn werde dannzumal etwas grössere Bewegungsfreiheit haben. Seiner Meinung nach dürfte die Delegation unter der Leitung von Herrn Gevay-Wolff stehen; ausserdem werde ihr vermutlich als Vertreter des Aussenministeriums Graf Moritz Zichy-Czikány angehören.
Im übrigen kann er nur bestätigen, dass die Lage in Ungarn in jeder Hinsicht, vorab in wirtschaftlicher und finanzieller Beziehung ganz trostlos sei. Die Inflation hat katastrophale Folgen angenommen, und an eine Sanierung ist nicht zu denken, solange der gegenwärtige Druck der russischen Besetzung (eine Million Mann) anhalte. Die letzte Quartalsrechnung über die Besetzungskosten erreiche ein Total, das ungefähr dem Dreifachen des gesamten ungarischen Notenumlaufs gleichkommen! Gewalttaten jeder Art, Mord, Raub, Vergewaltigungen, seien immer noch an der Tagesordnung. Die Wohnungsnot in Budapest habe unvorstellbare Formen angenommen. (So müsse er selbst, trotz besonderen Empfehlungen des Ministeriums, das ihm die Möglichkeit verschaffen wollte, auch zu Hause amtliche Arbeiten verrichten, mit drei weiteren Personen seiner Familie in einem einzigen Zimmer hausen.) – Man schätze, dass 60% der ungarischen Frauen geschlechtskrank seien.