Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 2, doc. 322
volume linkBern 1985
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E27#1000/721#13345* | |
Dossier title | Übertritt von französischen Truppen und Verteilung auf die Kantone, Bd 1 - 2 (1870–1871) | |
File reference archive | 06.H.2.g.1.b |
dodis.ch/41855
Die für die Verhältnisse unseres Landes ungeheure Zahl von in unser Gebiet übergetretenen Truppen einer der kriegführenden Mächte macht dringend eine Schlussfassung des Bundesrathes nöthig über den Umfang der Pflichten, welche er bezüglich dieser Truppen auf sich zu nehmen gedenkt.
Was zunächst die Aufnahme solcher vom Feinde verfolgten, ihre einzige Rettung in dem Übertritt in das neutrale Land findenden Truppenkörper anbelangt, so ist dieselbe ein Recht, welches wir ausüben, keine völkerrechtliche oder vertragsrechtliche Pflicht. Vollkommen befugt, sie von dem Eintritt in unser Land abzuweisen, erfüllen wir ein Gebot der Humanität, indem wir diess nicht thun, sondern ihnen Schutz und Asyl gewähren.
Von diesem Augenblick an aber beginnt für uns die völkerrechtliche Pflicht. Sie besteht darin, dafür zu sorgen, dass das gewährte Asyl nicht zum Kriegsmittel der kriegführenden Parteien werde. Das würde unzweifelhaft dadurch geschehen, wenn gestattet würde, dass die geflüchteten und aufgenommenen Truppen, nachdem sie in Folge der Neutralität des Landes Schutz gefunden, sich wieder in ihre Heimath begeben u. von dort aus neuerdings sich an dem Kriege betheiligen würden.
Das zu verhüten bieten sich zwei Wege dar:
Entweder werden die geflüchteten Truppen durch Internirung von dem Schauplatz des Krieges entfernt und so lange im neutralen Land, das sie aufgenommen, zurückbehalten, bis der Krieg beendigt ist.
Oder aber es verpflichtet sich die heimathliche Regierung, dass sie die fraglichen Mannschaften während der Dauer des Krieges in keinerlei Weise mehr zum Kriege verwenden werde, in welchem Falle die betreffenden Mannschaften als dem Kriege vollkommen fremd gewordene Individuen wieder in ihre Heimath entlassen werden können.
Der neutrale Staat hat unzweifelhaft das Recht, je nach Umständen den einen oder den ändern Weg einzuschlagen. Die Schweiz hat praktisch sowol das Eine als das Andere gethan, das Letztere namentlich im Jahre 18592 auf die Proposition von Frankreich und unter ausdrücklicher Anerkennung des Grundsatzes durch die ändern kriegführenden Parteien.
In dem Falle, in welchem wir uns heute befinden, scheint uns ausschliesslich der zweite Weg ebenso wol unsern Pflichten und deren möglichst loyaler Erfüllung, als unseren Interessen zu entsprechen.
Ohne feste Plätze, welche es uns möglich machen würden, eine grössere Zahl sicher zu überwachen, sind wir absolut ausser Stand, dafür ausreichende Sorge und Garantie zu übernehmen, dass nicht nur Einzelne, sondern sogar grössere Massen das Land verlassen und neuerdings an dem Kriege, sofern er fortgeführt wird, sich betheiligen. Mit Sicherheit müssen wir voraussehen, dass, wenn der Krieg wieder aufgenommen werden sollte, ein sehr nahmhafter Theil sich durch Flucht entziehen und auf den Ruf ihres Landes hin, und ausgerüstet mit dessen Geld sich wieder zu dessen Disposition stellen würde. Es könnten uns dadurch sehr unangenehme Verlegenheiten bereitet werden.
Mehr Garantie für die wirkliche Neutralisirung dieser Geflüchteten, als wir sie faktisch bieten können, liegt offenbar darin, wenn ihr eigenes Land sie neutralisât, respective von jeder fernem Antheilnahme am Kriege sie fern hält. Die in solchem Falle von Staat gegenüber Staat zu übernehmende Verpflichtung ist ganz etwas anderes, als das Ehrenwort des einzelnen seiner Offiziere oder Soldaten. Als neutraler Staat, der mit den beiden kriegführenden Staaten in vielfachen Vertragsverhältnissen steht, welche fortwährend beobachtet werden, haben wir ein unzweideutiges Recht, Verpflichtungen, die diese Staaten gegen uns als Staat übernehmen, vollen Glauben und volles Vertrauen zu schenken und sollten je dieselben missachtet werden, so wäre die nächste Folge die, dass wir dessen Truppen die Grenze für alle Zukunft schliessen würden; nicht aber, dass wir der Neutralitätsverletzung angeklagt werden könnten. Ist, wie gerade jetzt, der eine der beiden Kriegführenden, welcher möglicherweise die Zuverlässigkeit oder ausreichende Macht der Regierung des sich verpflichtenden Staates anzweifeln könnte, selbst im Falle, mit dieser Regierung Verpflichtungen zu wechseln und diesen vollen Glauben beizumessen, so wäre es höchst auffallend, wenn Verpflichtungen dieser Regierung gegen einen Dritten, und zwar mit ihr in Freundschaft und Frieden lebenden Staat, von gleicher Seite als unzureichend und unsicher missachtet werden wollten.
Wir sind also der Ansicht, dass wir vollständig innerhalb unserer Rechte und Pflichten bleiben, wenn wir der französischen Regierung erklären, dass wir auf eine von ihr abzugebende und uns gegenüber zu übernehmende Verpflichtung, die auf unser Gebiet übergetretenen Mannschaften weder mittelbar noch unmittelbar an der fernem Kriegführung theilnehmen zu lassen, diese Mannschaften in ihre Heimath zurückinstradiren werden und diese Erklärung auch zur Ausführung bringen.
Diesen Weg wirklich zu betreten, liegen sehr ernste Gründe vor: die Last, die durch die ungeheure Truppenzahl dem Lande erwächst und nur zum kleinern Theil zur Verrechnung kommt; die sanitarischen Gefahren, die Gefahr von mannigfachen Conflicten, welche längere Beherbergung theilweise zügelloser Schaaren mit sich bringt, die bereits oben erwähnte Unmöglichkeit, dieselben an fernerer Betheiligung am Krieg sicher zu hindern – das alles sind Momente, welche uns die ernsteste Verpflichtung auferlegen, die eingetretenen Massen baldmöglichst dem Lande wieder abzunehmen.
Obschon berechtigt, ohne Weiteres in der angegebenen Weise vorzugehen, halten wir es doch für angemessen, dem deutschen Hauptquartier von der Sachlage und unserer Auffassung Kenntniss und danach auch zu allfälligen Bemerkungen Gelegenheit zu geben, bevor wir, nach Empfang der franz. Verpflichtung zur Evacuation schreiten.
Wir würden es für sehr zweckmässig halten, wenn diese Angelegenheit durch einen Schweiz. Bevollmächtigten mit der franz. Regierung und dem Hauptquartier von Versailles verhandelt, und baldmöglichst ins Reine gebracht würde. Es würde sich hierzu in jeder Beziehung am besten Herr Minister Kern eignen, welcher zu diesem Zweck bei Graf Bismark besonders beglaubigt würde.
Wir stellen demgemäss den Antrag:
Es sei Herr Minister Kern zu beauftragen, mit möglichster Beförderung bei dem Präsidenten der franz. Regierung in Paris und dem deutschen Reichskanzler in Versailles Audienz zu verlangen, ihnen in obigem Sinne Eröffnungen zu machen und wenn, was unter den vorhandenen Umständen erwartet werden kann, Zustimmung zu dem vorgeschlagenen Verfahren erfolgt, von der franz. Regierung eine schriftliche Erklärung zu unsern Händen zu verlangen, wonach dieselbe dem Bundesrath gegenüber die Zusicherung ertheilt, dass die auf unser Gebiet übergetretenen Offiziere und Mannschaften, wenn sie nach Frankreich zurückgelassen werden, für die ganze eventuelle Dauer des Krieges mit Deutschland von jeder activen Theilnahme an dem Kriege werden fern gehalten werden u. dieselbe einzuschicken, für den Fall aber, dass sich wesentliche Anstände französischeroder deutscherseits ergeben würden, unter Berichterstattung weitere Instructionen einzuholen.
Beglaubigungsschreiben an H. Kern für diese Mission bei dem deutschen Reichskanzler3.
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Neutrality policy
Internment of the Bourbaki Army (1871)