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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E2025A#2000/138#675* | |
Dossier title | Allgemeines (1988–1990) | |
File reference archive | t.311-Asien |
dodis.ch/56089
Die Direktion für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe an EDA-Staatssekretär Jacobi1
Formulierung einer schweizerischen Entwicklungspolitik zugunsten der (bevölkerungsreichen) Entwicklungsländer des Mittelmeer-Raumes
Zu Ihrer Notiz vom 5. Juni2 nehmen wir wie folgt Stellung:
1. Wir teilen Ihre Ansicht, dass sich die Veränderungen in Osteuropa und die jetzt angelaufene schweizerische Osteuropa-Hilfe nicht zum Nachteil der Entwicklungsländer auswirken dürfen.3
2. Gestützt auf das geltende Bundesgesetz über die Entwicklungszusammenarbeit von 19764 und entsprechend den Empfehlungen der OECD liegt das Schwergewicht der schweizerischen Entwicklungszusammenarbeit traditionellerweise auf den ärmeren Ländern, die praktisch ausschliesslich von der internationalen öffentlichen Hilfe abhängen. Mit den sogenannten mittleren Entwicklungsländern hat sich die Schweiz bisher nur in sehr beschränktem Masse (insbesondere durch den Einsatz von Mischkrediten durch das BAWI) befasst und sie in erster Linie den Aktivitäten der schweizerischen Privatwirtschaft überlassen. An dieser Politik werden wir auch in Zukunft festhalten müssen.5
3. Angesichts der immer stärker werdenden Interdependenz gewinnt die von Ihnen vorgetragene Idee einer intensiveren, generellen Zusammenarbeit mit der Völkergemeinschaft zunehmend an Gewicht. Wir teilen Ihre Ansicht, dass diese intensivierte Zusammenarbeit auch Länder umfassen sollte, die zwar nicht zur Gruppe der ärmeren Länder gehören, deren Entwicklung aber aufgrund ihrer relativen geographischen Nähe das besondere Interesse der Schweiz verdienen. Dabei sind wir uns bewusst, dass ein solches Vorgehen eine teilweise Änderung der bisherigen schweizerischen Politik darstellen würde, und dass diese Änderung nicht zu Lasten der bisherigen Partner der schweizerischen Entwicklungszusammenarbeit in den ärmeren Entwicklungsländern geschehen dürfte.
1. Mit Ausnahme von Jemen, das zudem – auch nach der Vereinigung der beiden bisher selbständigen Staaten – zu den armen Entwicklungsländern gehört, handelt es sich bei den von Ihnen für eine schweizerische Entwicklungszusammenarbeit vorgeschlagenen Ländern um die bevölkerungsreichsten arabischen Länder mittleren Einkommens des Mittelmeer-Raumes. Wir teilen Ihre Auffassung und die dafür genannten Gründe, dass gerade diese Länder insbesondere bei einer weitergefassten sicherheitspolitischen Betrachtung die besondere Aufmerksamkeit Europas und damit auch der Schweiz verdienen. Die teilweise gewaltigen sozialen Unterschiede innerhalb der Staaten, die sprunghafte Zunahme der Bevölkerung, die riesigen wirtschaftlichen Probleme und die daraus resultierenden enormen Schwierigkeiten der einzelnen Länder, die Bedürfnisse ihrer Bevölkerung zu befriedigen, sind nur einige der explosiven Probleme, die es rechtfertigen, für die Hilfe an diese Länder politische Zielsetzungen in den Vordergrund zu stellen. Die Richtigkeit eines solchen Vorgehens wird bestätigt durch die gerade in jüngster Zeit zunehmende internationale Aufmerksamkeit, die diesen Ländern geschenkt wird (erwähnt sei stellvertretend die von der italienischen EG-Präsidentschaft vorgetragene Idee der Schaffung einer Mittelmeer-Entwicklungsbank). Wir selbst haben vor etwas mehr als einem Jahr mit der Ausarbeitung einer «Studie für ein DEH-Regionalprogramm Mittlerer-Osten»6 begonnen, Überlegungen in dieser Richtung anzustellen. Dabei hatten wir uns allerdings aus organisatorischen Gründen auf die Länder von der Türkei bis zur arabischen Halbinsel beschränkt, und nur Ägypten angesichts der starken Verknüpfung mit diesen Ländern einbezogen. Die Ausdehnung der Studie auf die Maghreb-Staaten wurde damals noch offen gelassen.
2. Gerade angesichts der zunehmenden Bedeutung der Mittelmeerländer darf sich eine aktivere schweizerische Entwicklungs-Politik unseres Erachtens nicht allein in punktuellen Engagements der technischen Zusammenarbeit erschöpfen (Gefahr der Alibiübung); von Nöten ist vielmehr eine ganzheitliche Politik, in der in gegenseitiger Ergänzung die verschiedenen Instrumente der öffentlichen Hilfe der Handels- und allgemeinen Aussenwirtschaftspolitik und der Förderung des Einsatzes privater wirtschaftlicher Mittel enthalten sein müssen.7 Wir möchten deshalb im gegenwärtigen Zeitpunkt davon absehen, mögliche DEH-Interventionen in einzelnen der von Ihnen vorgeschlagenen Länder zu benennen. Wir sind vielmehr der Meinung, dass die Formulierung nicht nur eines DEH-Programmes für die Region oder für einzelne Länder sondern auch von entsprechenden Programmen anderer Träger der schweizerischen Entwicklungs-Politik aus den vorgängig, interdepartemental durchgeführten, umfassenden Abklärungen resultieren sollte. Im Sinne einer Anregung und ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben sind wir dabei der Meinung, dass in diesen Abklärungen folgendes berücksichtigt werden sollte:
- – Sicherheitspolitische Bedürfnisse der Schweiz (welche erweiterten Bedürfnisse ergeben sich im Rahmen einer weitergefassten Sicherheitspolitik aus dem politischen Interessen der Schweiz? Ist es möglich die Interessen der Region und der Schweiz miteinander in Einklang zu bringen?)
- – Voraussetzungen für ein Engagement der Schweiz (ist das schweizerische Engagement insgesamt oder dasjenige einzelner Träger der schweizerischen Politik an allfällige politische oder wirtschaftliche Voraussetzungen zu knüpfen, z.B. Staatsdoktrin, Verschuldungssituation? Sind weitere Kriterien für das schweizerische Engagement zu formulieren?
- – Umschreibung der Region (welche Länder sollten in die Überlegungen einbezogen werden?)
- – Bedürfnisse der Region und der einzelnen Länder (welches sind die Schlüsselprobleme?)
- – Erfolgschance/Bereiche schweizerischer Aktivitäten (gibt es bestimmte Bereiche, die sich für schweizerische Aktivitäten aufdrängen? Können solche Aktionen ihre beabsichtigte Wirkung tatsächlich erfüllen?).
- – Vergleich mit anderen Staaten/Organisationen; (gibt es Übereinstimmungen zu der Beurteilung der Vorgehensweise? Sind Zusammenarbeitungsmöglichkeiten vorhanden?)
4. Angesichts der ausgesprochenen Komplexität der Materie sowie der Dringlichkeit ihrer Behandlung schlagen wir Ihnen vor, das Thema interdepartemental zu bearbeiten. Gerade wegen der politischen Bedeutung des Themas ist es wichtig, dass sich die Politische Direktion in einer solchen exploratorischen Arbeit voll engagiert, und dass es uns gemeinsam gelingt, auch die anderen zuständigen Bundesämter dafür zu gewinnen. Vor allem das BAWI und die Finanzverwaltung, aber auch das BIGA und der Delegierte für das Flüchtlingswesen sollten an diesen Arbeiten interessiert werden.
Um eine Auslegeordnung dieser Probleme zu erstellen und abzuklären, wie diese Fragen später allenfalls in ein erstes Aussprachepapier zuhanden des Bundesrates einfliessen können, könnte das unter dem Vorsitz des Direktors der DEH stehende interdepartementale Komitee für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe (IKEH/CICDA) entsprechend Artikel 13 des Bundesgesetzes über die Entwicklungszusammenarbeit von 1976 betraut werden. Die DEH könnte die Vorarbeiten unverzüglich an die Hand nehmen und, wie in andern Fällen (Flüchtlinge/Migration und Entwicklung;8 Umwelt/Entwicklung9) zusammen mit den interessierten Direktionen und Ämtern des EDA und der andern Departemente, die Problematik vertieft prüfen und Bericht erstatten.
Wir möchten Sie bitten, uns mitzuteilen, ob Sie mit diesen Vorgehen einverstanden sind.
- 1
- CH-BAR#E2025A#2000/138#675* (t.311-Asien). Die an den Direktor der politischen Direktion des EDA, Staatssekretär Klaus Jacobi, gerichtete Notiz wurde gemeinsam von Rolf Wilhelm, Chef der Abteilung Operationelles Asien der Direktion für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe (DEH) des EDA und dessen Mitarbeiter, Marco Ferrari, verfasst und vom Direktor der DEH, Botschafter Fritz Rudolf Staehelin, unterzeichnet. Kopien gingen an das Sekretariat des Vorstehers des EDA, Bundesrat Réne Felber, an die Politische Abteilung II sowie zahlreiche Mitarbeitende der DEH. Für den gesamten Verteiler vgl. das Faksimile dodis.ch/56089.↩
- 2
- Vgl. dodis.ch/54983. ↩
- 3
- Vgl. dazu die thematische Zusammenstellung Hilfe für die Länder Osteuropas, dodis.ch/T1676 sowie DDS 1990, Dok. 12, dodis.ch/56158. Zur Konkurrenz zwischen Entwicklungszusammenarbeit und Osthilfe vgl. dodis.ch/55696.↩
- 4
- Bundesgesetz über die internationale Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe vom 19. März 1976, AS, 1977, S. 1352–1357. Vgl. dazu die thematische Zusammenstellung dodis.ch/T1547.↩
- 5
- Vgl. dazu DDS 1990, Dok. 3, dodis.ch/56143 sowie die Botschaft über die Weiterführung der technischen Zusammenarbeit und der Finanzhilfe zugunsten von Entwicklungsländern, dodis.ch/55479.↩
- 6
- Vgl. dodis.ch/57348. ↩
- 7
- Vgl. dazu dodis.ch/57768.↩
- 8
- Vgl. den Bericht des IKEH vom 12. Februar 1990 in der Beilage des BR-Prot. Nr. 309 vom 21. Februar 1990, dodis.ch/55272.↩
- 9
- Vgl. dazu das Dossier CH-BAR#E2025A#2002/145#80* (t.023.1(2)) sowie die Zusammenstellung dodis.ch/C1848.↩
Relations to other documents
http://dodis.ch/56089 | see also | http://dodis.ch/54983 |