Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 13, doc. 135
volume linkBern 1991
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E27#1000/721#14231* | |
Dossier title | Beurteilungen der Lage, u.a. Möglichkeit eines französischen und italienischen Einmarsches in die Schweiz; Mobilmachungsmassnahmen; Ende Aug./Anfang Sept. 1939 (1939–1939) | |
File reference archive | 06.H.4.c.1 |
dodis.ch/46892
BEURTEILUNG DER LAGE
1. Die Heere in den drei Nachbarländern sind fertig oder nahezu fertig mobilisiert.
Der deutsche Aufmarsch gegen Polen mit Verteidigung gegen Frankreich scheint beendet zu sein. In dem uns direkt interessierenden Raume Süddeutschlands stehen abgesehen von der Westfront im Schwarzwald keine Truppen von Belang (nur einzelne Reservistenbat. älterer Jahrgänge in Ausbildung; an der Grenze « Landsturm »-(?) posten in Zivil).
Frankreichhat die Maginotlinie voll besetzt und ist auch mit Deckungsdivisionen und zugehörigen Reserven voll aufmarschiert. Mit der am 26.8. begonnenen Ergänzungsmobilmachung von 700000 Mann wird es nun in Bälde seine ganze Wehrkraft zum Kriege bereitgestellt haben. Hinter dem rechten Flügel der Maginotlinie stehen im Raume Pontarlier - Morteau - Besançon einerseits und an und hinter der Grenze der Ajoie andererseits sehr ansehnliche Kräfte (nach Feststellungen der Nachrichtensektion je 1 verstärktes A.K.). Nordwestlich von Basel stehen, in der Maginotlinie nicht eingesetzte Truppen in der Stärke von ebenfalls 1 A.K.
Von Italiensind bis jetzt keine Truppenkonzentrationen in Richtung gegen die Schweiz. Grenze gemeldet worden. Gerüchte über ital. Truppentransporte über den Brenner sind noch unkontrolliert und m.E. unwahrscheinlich.
[...]2 5. Nach meiner Überzeugung sorgt die engl.-französische Heeresleitung am besten für das Gelingen einer innert nützlicher Frist durchzuführenden Operation aus Oberitalien gegen Deutschland/Böhmen durch eine Einleitungsoffensive durch die Schweiz3, mit beschränktem Ziel, allgemein bis an die alte österreichisch-bayrische Grenze im Raume Salzburg-Bodensee. Damit wird die rasche Operation durch das Südtirol und Nebenräume über Brenner und Nebenpässe sichergestellt und mit Brenner und Arlberg als leistungsfähige Bahn- und Strassenverbindungen eine strategisch in genügender Nähe vom polnischen Kriegsschauplatz gelegene Operationsbasis im Inntal gewonnen.
6. Die Bereitschaft der franz. Heere lässt es ohne weiteres als möglich erscheinen, dass der Durchmarsch durch die Schweiz binnen ganz weniger Stunden angetreten werden kann. Es ist aber bei dieser Bereitschaft starker franz. Kräfte längs unserer Westgrenze und bei den kurzen Distanzen von der Grenze bis in das Landesinnere weiter möglich, dass franz. Truppen ziemlich weit in unser Land vormarschieren können, bevor die Grenztruppen ihre Stellungen bezogen haben. Dieser Stellungsbezug dauert, vom Erlass des Aufgebots an gerechnet, in den günstiger gelegenen Abschnitten 12, im allgemeinen aber 24 Stunden; im Gebirge noch länger.
Ich bin deshalb der Meinung, dass bei der heutigen militärpolitischen Lage sofort dann, wenn auch nur mit der Möglichkeit kriegerischer Verwicklung zwischen Deutschland und Polen gerechnet werden muss, unsererseits alles getan wird, was zur Sicherstellung von Mobilmachung und Aufmarsch der Armee getan werden muss. Das mindest Notwendige ist meines Erachtens das Aufgebot der Grenztruppen mit gleichzeitiger Pikettstellung der Armee.
Nachdem man weiss, dass heute die englische Antwortnote in Berlin überreicht wird, ist nach meinem Dafürhalten unbedingt mit der Möglichkeit eines Abbruchs der Verhandlungen und mehr oder weniger sofortanschliessender kriegerischer Verwicklungen zu rechnen. Was uns betrifft mit der sofortigen Möglichkeit der Forderung auf freien Durchmarsch für französische Heere durch die Schweiz. Dabei sehe ich voraus, dass die Beantwortung der an uns gerichteten Forderung kurz befristet würde.
Aus allen diesen Erwägungen halte ich dafür, dass im Moment, da erkannt wird, dass eine Verständigung zwischen Deutschland und Polen, bezw. zwischen Deutschland und England auf dem diplomatischen Weg möglicherweise nicht zustande kommt, das Aufgebot der Grenztruppen mit Pikettstellung der Armee sofort verfügt werden muss. Die Kunst wird sein, diesen Moment klar zu erkennen. Unter allen Umständen wird es aber besser sein, zu früh oder sogar unnötig aufzubieten, als eine halbe Stunde zu spät. Diese halbe Stunde könnte bei der Bereitschaft der fremden Heere und den kurzen Distanzen in unserem Lande entscheidend sein. Angesichts der heute schon bestehenden starken franz. Truppenkonzentration längs unserer Westgrenze ist zu prüfen, ob nicht unabhängig von dem Ergebnis der engl.-deutschen Verhandlungen in Berlin, sofort gehandelt werden muss.
Die Überlegung, dass Frankreich doch bestimmt nie so brüsk gegen die Schweiz vorgehen werde, darf keine Rolle spielen. Nur die sachlichen Voraussetzungen der einen und ändern Möglichkeit dürfen gewertet werden, und die sind, wie ich glaube, für den Durchmarsch durch unser Land von Seiten Frankreich ungefähr so wie ich oben angegeben habe. Dass der französische Oberkommandierende, General Gamelin, unseren Militârattaché in Paris wissen Hess, dass Frankreich nicht daran denke, durch die Schweiz zu marschieren, darf uns nicht abhalten das zu tun, was nach Berechnung der militärisch-technischen Möglichkeiten getan werden muss. Die franz. Absicht kann übrigens ändern und sie ist vielleicht nicht einmal massgebend (Vernichtungskrieg zwischen England und Deutschland!).
- 1
- E 27/14231.↩
- 2
- Sous les points 2 à 4, von Erlach fait état des rumeurs sur des ouvertures britanniques auprès de l’Italie et de l’éventualité d’une intervention franco-anglaise contre l’Allemagne à partir de l’Italie du Nord. Il y voit le seul espoir pour la Pologne.↩
- 3
- Cf. le document reproduit en annexe.↩
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Outbreak of World War II (1939)