Abgedruckt in
Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 20, Dok. 17
volume linkZürich/Locarno/Genève 2004
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Archiv | Schweizerisches Bundesarchiv, Bern | |
▼ ▶ Signatur | CH-BAR#E2300#1000/716#181* | |
Alte Signatur | CH-BAR E 2300(-)1000/716 93 | |
Dossiertitel | Budapest, Politische Berichte und Briefe, Militärberichte, Band 9 (1954–1955) |
dodis.ch/11154
Ich habe in meinem heutigen Verhandlungsbericht3 dargetan, wie sehr unsere hiesigen Entschädigungs-Besprechungen im Schlagschatten der weltpolitischen Vorgänge stehen. Diese Feststellung veranlasst mich, Ihnen im Folgenden über einige persönliche Eindrücke zu berichten.
Die schweizerische Presse, vornehmlich Halperin von der NZZ, haben auf die tiefe Erregung hingewiesen, die hier die Ereignisse in Wien und Belgrad hervorgerufen haben. Nachdem der kleinste sowjetische Misserfolg, jede etwas schärfere Rede Eisenhowers oder Churchills seit Jahren die Menschen mit illusionistischem Optimismus erfüllte, den sie einfach brauchten, um die Entbehrungen ihres Daseins aushalten zu können, spüren sie nun zum ersten Male, das sich tatsächlich Dinge vorbereiten, die ihre Existenz entscheidend verändern könnten. Die Nation hält den Atem an und blickt nach Genf4.
Die Spannung wird erhöht durch auffällige Erscheinungen im Innern. Ministerpräsident Hegedüs soll vor 10 Tagen allein ohne Rakosi5 nach Moskau gerufen worden sein, ein Gerücht, das vom schwedischen Geschäftsträger6 und nun offenbar auch durch die amerikanische Presse bestätigt wird. Die Witwe des hingerichteten Titoisten Rajk ist rehabilitiert worden. Und mehr noch: Ein Anhänger und Freund von Rajk, Gyula Kallai, soll als Nachfolger von Hegedüs ausersehen sein, dem dieser eventuell notwendige Wechsel offenbar in Moskau begreiflich gemacht worden ist.
Es sieht sehr danach aus, dass hier – wie wahrscheinlich auch in den anderen Ostländern – eine Auffangstellung vorbereitet wird, für den Fall, dass die Pläne eines umfassenden europäischen Sicherheitssystems – unter Mitwirkung der USA – mit gleichzeitiger «Neutralisierung» der Oststaaten, d. h. Garantierung ihrer Grenzen und ihrer innern Ordnung, Gestalt annehmen. Die Sowjetpolitiker würden demnach den Weg nach Jalta zurückgehen und die dort falsch gestellte Weiche herumwerfen, um auf einer andern Bahn zum erstrebten Ziel zu gelangen: an ihrer Westgrenze ein politisches und militärisches Glacis zu erhalten, das ihnen ermöglicht, den so nötigen Aufbau ihrer sozialistischen Wirtschaft und Gesellschaftsordnung in Ruhe durchzuführen. Und erst wenn dieses Nahziel erreicht ist, käme der Vormarsch in die Welt.
Es ist auch zu berücksichtigen, dass die sowjetische Wirtschaftspolitik in den Satellitenstaaten offenbar nicht von Erfolg gekrönt war. Die ehemaligen Feindstaaten, darunter Ungarn, haben auf Grund der Friedensverträge so schwere Leistungen erbringen müssen, dass eine Erneuerung des Maschinenparkes und der so nötige Ausbau der Landwirtschaft nicht möglich war. Die Tschechoslowakei wurde wiederum, wie schon zur Zeit der Donaumonarchie, dazu herangezogen, die lädierten Zahlungsbilanzen der andern in Ordnung zu bringen. Und Polen hat den Krieg weder wirtschaftlich noch territorial in Bezug auf die Grenzziehung überwunden.
Es war übrigens bezeichnend, mit welchem Ärger der Vertreter des Finanzministeriums7 innerhalb der ungarischen Delegation auf den österreichischen Staatsvertrag8 hinwies, der viel besser sei als ihr Friedensvertrag; wir hätten keine Ahnung, welche Lasten dieser Ungarn aufbürde. Die an die USSR übergegangenen deutschen Vermögenswerte haben Ungarn mit Waren auf Dollarbasis zurückkaufen müssen, viel teurer, als dies nun Österreich tue. Und seit den Belgrader Besprechungen müssten auch die Lieferungen an Jugoslawien wieder aufgenommen werden. Dass dies die Ungarn mit Bitterkeit erfüllt, nachdem sie die grosszügige Hilfe des Westens an Jugoslawien verfolgen können, ist verständlich.
- 1
- Schreiben: E 2300(-)-/9001/93.↩
- 3
- Vgl. E 2001(E)1970/217/270.↩
- 6
- Es handelt sich nach Angaben der Schwedischen Botschaft in Budapest wahrscheinlich um Östen Lundborg.↩
- 7
- F. N. Toth, Sektionschef der Abteilung für internationale Zahlungen im ungarischen Finanzministerium.↩
- 8
- Der österreichische Staatsvertrag wurde am 15. Mai 1955 unterzeichnet. Vgl. Nrn. 7 und 10 in diesem Band.↩
Tags
Österreich (Politik) Genfer Gipfelkonferenz (1955)