Protest gegen die alliierte Besetzung Österreichs. Wunsch der Regierung, eine vom internationalen Recht anerkannte Neutralität zu praktizieren, bis das Land über die Freiheit verfügt, der Blocklogik zu entrinnen.
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 18, doc. 142
volume linkZürich/Locarno/Genève 2001
more… |Österreich zwischen den Mächten. Die politische Berichterstattung der schweizerischen Vertretung in Wien 1938–1955, vol. 4, doc. 121
volume linkBern 2014
more… |▼▶Repository
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2300#1000/716#1269* | |
Old classification | CH-BAR E 2300(-)1000/716 525 | |
Dossier title | Wien, Politische Berichte und Briefe, Militär- und Konsularberichte, Band 58 (1952–1953) |
dodis.ch/8280 Der schweizerische Gesandte in Wien, P. A. Feldscher, an den Vorsteher des Politischen Departements, M. Petitpierre1
Anschliessend an meinen Bericht vom 18. v. M.2 beehre ich mich, Ihnen mitzuteilen, dass am 2. April d. J. der österreichische Nationalrat eine Sondersitzung abhielt, die zum Protest gegen die Fortdauer der Besetzung Österreichs einberufen worden war3. Die österreichische Volksvertretung hat auf Grund der bedeutsamen Erklärungen, die vom Bundeskanzler Figl und Aussenminister Gruber abgegeben wurden und nach eingehender zum Teil leidenschaftlicher Debatte mit den Stimmen der Volkspartei, der Sozialistischen Partei und der Partei der Unabhängigen gegen die Stimmen des sogenannten Linksblocks, bestehend aus vier Kommunisten und einem Linkssozialisten, folgende Resolution angenommen:
Der Nationalrat nimmt den Bericht der Bundesregierung zur Kenntnis. Er gibt der tiefen Empörung des österreichischen Volkes Ausdruck und protestiert neuerlich gegen die völkerrechtswidrige Fortsetzung der Besetzung Österreichs durch fremde Armeen, gegen die Aufrechterhaltung der Militärgerichtsbarkeit in allen Zonen, gegen die Ausbeutung der wirtschaftlichen Hilfsquellen und gegen die fortgesetzte Einmischung der Besatzungsmächte in die inneren Angelegenheiten Österreichs.
Der Nationalrat protestiert leidenschaftlich gegen das Unwesen alliierter Geschäftsbetriebe innerhalb der Republik Österreich, die die Wirtschaftsgesetze missachten und die österreichischen Steuern schuldig bleiben.
Über die einzelnen in der Sitzung gefallenen Voten gibt der als Anlage hier beigeschlossene Bericht der «WienerZeitung» vom 3. April d. J. Aufschluss4. Besonderes Interesse verdienen die Ausführungen von Herrn Minister Gruber, der namentlich auch zu der Frage einer «Neutralität» Österreichs und zu den polemischen Äusserungen des kommunistischen Abgeordneten Fischer, die in der beigelegten Nummer der kommunistischen «Volksstimme» vom 3. d. M. wiedergegeben sind, Stellung nahm. Er betonte, dass die österreichische Regierung auf dem Boden der völkerrechtlichen Neutralität stehe, die aber nichts gemein habe mit jener Neutralität, die Herr Fischer «uns einreden» möchte. Die Haltung der sowjetischen Diplomaten in den Staatsvertragsverhandlungen fasste er dahin zusammen, dass diese erklärt hätten, «in einer Zeit der Spannungen, in der wir nicht wissen, wie sich die weitere Geschichte und die Weltgeschichte überhaupt bewegen wird, in der wir nicht wissen, ob es zu einer Verständigung oder ob es zum Kriege kommt, nicht riskieren zu können, weitere Positionen zu räumen».
Diese Äusserung des österreichischen Aussenministers spricht für sich und er hat sie noch unterstrichen, indem er beifügte, dass er sehr gut wisse, dass erst gewisse weltpolitische Konstellationen die Räumung des Landes herbeiführen werden und dass auch das Schicksal Österreichs von den friedlichen oder kriegerischen Auseinandersetzungen der Grossmächte abhängen werde. Im Hinblick auf diese Erklärungen kann der grundsätzlichen Zustimmung des Parlaments, die österreichische Frage gegebenenfalls vor die UNO zu bringen, bloss sekundäre Bedeutung beigemessen werden.
Von der demokratischen Union Dobretsbergers, deren Chef gegenwärtig als österreichischer Delegierter bei der internationalen Wirtschaftskonferenz in Moskau weilt5, ist stets die Forderung wahrhafter Neutralitätspolitik Österreichs nach schweizerischem Muster vertreten worden. Das Organ dieser kleinen russlandfreundlichen Partei «DieUnion» gibt in seinem Kommentar zur Sitzung des Nationalrates der Meinung Ausdruck, Volksvertretung und Bundesregierung hätten in feierlicher Form eine Entschliessung nehmen sollen, derzufolge sich Österreich mit dem Tage des Abschlusses eines Staatsvertrages, des Abzuges aller Besatzungstruppen und der Wiederherstellung der österreichischen Souveränität verpflichten würde, eine im Sinne des Völkerrechts und nach dem Muster der Schweiz geartete Neutralitätspolitik zu betreiben, d. h. eine bündnis- und paktfreie Aussenpolitik, die es ein für allemal unmöglich mache, dass das endgültig befreite Österreich zu einem strategischen oder politischen Instrument des einen oder andern Weltmachtblocks werde.
Für die Richtigkeit dieser Ansicht scheint manches zu sprechen, doch wird übersehen, dass die schweizerische Neutralitätspolitik etwas im Laufe der Jahrhunderte beinahe organisch Gewordenes und im Bewusstsein unseres ganzen Volkes fest Verankertes ist. Es ist nun aber kein Geheimnis, dass weder bei der österreichischen Regierung noch im österreichischen Volk ähnliche Voraussetzungen für die Verfolgung einer Neutralitätspolitik und im besonderen nicht der Wille und die feste Entschlusskraft zur Verteidigung eines neutralen Österreichs mit den Waffen vorhanden sein dürften. Weil nun diese unabweisbare Vorbedingung fehlt, wird es auch schwer fallen, den Grossmächten den Zweifel daran zu nehmen, dass Österreich nicht imstande sein wird, nach Abzug der Besatzungstruppen eine völlig unabhängige Politik zu führen und sich nicht in die strategischen Kalküls einbeziehen zu lassen. Die in der «Union» enthaltenen Ausführungen entbehren immerhin nicht eines gewissen Interesses, weshalb ich mir erlaube, sie ebenfalls hier beizuschliessen.
- 1
- E 2300 Wien/58.↩
- 2
- Nicht abgedruckt.↩
- 3
- Vgl. die drei Zeitungsartikel der österreichischen Presse in der Beilage des politischen Berichts. Nicht abgedruckt.↩
- 4
- Nicht abgedruckt.↩
- 5
- Zu den Beziehungen zwischen J. Dobretsberger und G. Duttweiler vgl. das Schreiben von P. A. Feldscher an A. Zehnder vom 9. März 1951, E 2200.53(-)1971/145/14 (dodis.ch/8746).↩