Die USA drohen mit der Aufkündigung des 1936er-Handelsvertrags mit der Schweiz, wenn diese sich weigert, eine «Escape Clause» (Ausweichklausel) in den Vertrag aufzunehmen. Die Schweiz sieht sich angesichts der Bedeutung ihrer Handelsbeziehungen zu den USA gezwungen, die Klausel zu akzeptieren.
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 18, doc. 63
volume linkZürich/Locarno/Genève 2001
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E1004.1#1000/9#14558* | |
Old classification | CH-BAR E 1004.1(-)1000/9 522 | |
Dossier title | Beschlussprotokoll(-e) 12.10.-13.10.1950 (1950–1950) |
dodis.ch/7803
BUNDESRAT
Beschlussprotokoll der Sitzung vom 13. Oktober 19501
1872. AUFNAHME DER «ESCAPE CLAUSE» (AUSWEICHKLAUSEL) IN DEN SCHWEIZERISCH-AMERIKANISCHEN HANDELSVERTRAG
Beschlussprotokoll der Sitzung vom 13. Oktober 19501
Das Volkswirtschaftsdepartement berichtet folgendes:
«Am 10. August 1950 hat der amerikanische Gesandte in Bern2 im Auftrag seiner Regierung dem eidg. Politischen Departement eine Note überreicht, worin die Kündigung des schweizerisch-amerikanischen Handelsvertrages vom 9. Januar 19363 auf den 10. Februar 1951 ausgesprochen wird. Die amerikanische Regierung erklärt sich jedoch bereit, die Kündigung zurückzuziehen, sofern die schweizerische Regierung bis zum 15. Oktober 1950 einwilligt, die sogenannte ‹Escape Clause› (clause échappatoire, Ausweichklausel) in den Vertrag aufzunehmen. Der Text der amerikanischen Note liegt vor4.
Wir haben uns seinerzeit gestattet, den Bundesrat durch ein Exposé der Handelsabteilung vom 24. Juni 19505 über Wesen und Bedeutung der ‹Escape Clause› zu orientieren. Wir führten kurz zusammengefasst folgendes aus: Die Ausweichklausel ist auf amerikanische Initiative heute Bestandteil der Welthandelspolitik geworden. Die amerikanische Regierung ist gesetzlich verpflichtet, sie in ihre sämtlichen Handelsverträge aufzunehmen. Der schweizerisch-amerikanische Handelsvertrag vom Jahre 1936 ist einer der wenigen Verträge, der die Klausel noch nicht enthält. Der amerikanischen Regierung ist es aus hochaktuellen innerpolitischen Gründen – Gefährdung der Wiederwahl einflussreicher, aus sogenannten ‹Uhrenstaaten› stammender demokratischer Senatoren im kommenden Monat – dringend erwünscht von unserm Lande noch vor dem Novemberwahlgang die Zustimmung zur Aufnahme der Klausel in den Handelsvertrag zu erhalten.
Auch den Text der Klausel haben wir dem Bundesrat damals in den Hauptzügen bekanntgegeben. Die Formulierung, in der die Amerikaner die Klausel nunmehr in den Handelsvertrag eingefügt zu sehen wünschen, wird vorgelegt6.
Das amerikanische Begehren hat uns vor eine wenig erfreuliche Situation gestellt. Die Ausweichklausel ist sowohl dem schweizerischen Rechtsdenken wie unserer Handelsvertragspraxis bisher fremd gewesen. Ein Vertrag, der die ‹Escape Clause› enthält und somit den Rückzug von Konzessionen ohne Kündigung ermöglicht, verliert in unsern Augen viel von seinem Wert. Wir haben daher die in den letzten anderthalb Jahren informell und mündlich gemachten amerikanischen Anregungen auf Akzeptierung der Klausel stets abgelehnt. Eine formelle amerikanische Note vom 5. Juni 19507, die den gleichen Vorschlag enthielt, befand sich bei uns noch in Prüfung als die Amerikaner am 10. August 19508 die bedingte Kündigung des Handelsvertrages aussprachen. Heute müssen wir uns aus den bereits angedeuteten Gründen darüber Rechenschaft geben, dass auf unserer ablehnenden Haltung der ‹Escape Clause› gegenüber nicht mehr länger beharrt werden kann9. Die Vereinigten Staaten sind unser wichtigster Handelspartner, und sie bezeichnen die Ausweichklausel als eine unentbehrliche Voraussetzung nicht nur für die Weiterführung ihrer prinzipiell freiheitlich orientierten Handelspolitik im allgemeinen, sondern insbesondere für die Weiterdauer einer handelsvertraglichen Bindung mit unserm Lande. Auf einen Vertrag mit den USA als Grundlage für die Aufrechterhaltung und Ausdehnung unseres Exportes nach den Vereinigten Staaten können wir aber nicht verzichten. Unter diesen Umständen stellte sich nur noch die Frage, ob wir die Ausweichklausel ohne weitere Diskussion zu akzeptieren haben würden, oder ob nicht die Gelegenheit wahrgenommen werden sollte, um, wenn nicht als Gegenleistung für die Annahme der ‹Escape Clause› durch die Schweiz, so doch bei Anlass der dadurch eingeleiteten Revision des schweizerisch-amerikanischen Handelsvertrages von den Amerikanern das Zugeständnis zu erhalten, mit der Schweiz auf Zolltarifunterhandlungen einzutreten.
Ein Zugeständnis in dieser Richtung erschien von vornherein keineswegs leicht erreichbar. Zwar verkünden die Vereinigten Staaten seit Jahren der Welt als ihre Politik, dass die einer Ausweitung des Welthandels entgegenstehenden Schranken, insbesondere die Zolltarife, systematisch abgebaut werden müssen. Ferner bietet das schweizerisch-amerikanische Verhältnis, so wie es heute besteht, sicher die Voraussetzungen für eine Revision hauptsächlich des amerikanischen Tarifs, der gerade auf einigen typischen schweizerischen Exportprodukten immer noch sehr hoch ist. Der Aufnahme von Zolltarifgesprächen zwischen der Schweiz und den Vereinigten Staaten steht aber ein gewichtiges Hindernis entgegen, die Tatsache nämlich, dass die Vereinigten Staaten grundsätzlich nur noch im Rahmen des auf ihre Initiative zurückgehenden Allgemeinen Abkommens über die Zolltarife und den Handel vom 30. Oktober 1947 (GATT) über Zolltarife zu verhandeln gewillt sind10. Die Schweiz aber konnte diesem Abkommen, das den Platzhalter der noch nicht in Kraft getretenen Welthandelscharta von La Havana darstellt, aus den gleichen Gründen bisher nicht beitreten, die uns eine Ratifizierung der Welthandelscharta unmöglich machen (Schutzlosigkeit der Schweiz als Hartwährungsland gegen diskriminatorische Einfuhrbeschränkungspraktiken der Länder mit Zahlungsbilanzschwierigkeiten).
Wenn es daher zwischen der Schweiz und den Vereinigten Staaten zu Zolltarifverhandlungen kommen soll, so muss dies vom schweizerischen Standpunkt aus gesehen, ausserhalb des GATT geschehen. Dementsprechend haben wir, und zwar durch unsern Gesandten in Washington, Herrn Minister Bruggmann11, in den letzten Wochen sondieren lassen, ob die amerikanische Regierung bereit wäre, bei Anlass der Aufnahme der ‹Escape Clause› zu solchen Gesprächen ausserhalb des GATT Hand zu bieten. In Würdigung der Tatsache, dass die amerikanische Regierung aus Präzedenz- und andern Gründen Bedenken zeigen würde, haben wir unsern Vorschlag von vornherein in dem Sinne limitiert, dass wir Unterhandlungen nur über einen beschränkten Kreis von schweizerischen Exportprodukten, auf denen die amerikanischen Zölle aussergewöhnlich hoch sind, anregten. Doch auch auf eine solche blosse Partialrevision des bestehenden Handelsvertrages glaubt die Regierung von Washington, wie sich aus den Berichten von Herrn Minister Bruggmann eindeutig ergibt, nicht eintreten zu können. Sie macht hiefür vor allem innenpolitische Gründe geltend: sie müsse, so erklären ihre Wortführer, auch den blossen Anschein vermeiden, als gewähre sie für die Annahme der ‹Escape Clause› durch unser Land – d. h. einer Klausel, die nach amerikanischen Begriffen eine Selbstverständlichkeit bedeutet – irgend eine Gegenleistung. Des weitern bekräftigt die amerikanische Regierung neuerdings ihren Standpunkt, dass Zolltarifgespräche nur im Rahmen des GATT in Frage kommen könnten. Solange die Novemberwahlen und die unter der Ägide des GATT gegenwärtig in Torquay (England) stattfindenden multilateralen Zolltarifverhandlungen nicht vorbei sind, will die amerikanische Regierung auch auf eine unverbindliche Erklärung, zu einem spätern Zeitpunkt die Frage der Aufnahme von Tarifgesprächen mit der Schweiz wohlwollend zu prüfen, nicht eintreten.
Unter diesen Umständen wird unserm Land, wenn es den Handelsvertrag mit den Vereinigten Staaten retten will, nichts anderes übrig bleiben, als dem amerikanischen Begehren auf Rezeption der ‹Escape Clause› ohne weitere Bedingungen nachzukommen. Obwohl der Vertrag manche Wünsche offen lässt, so hat er sich doch im grossen und ganzen als für uns sehr günstig erwiesen. Die schweizerischen Exporte nach den Vereinigten Staaten haben sich unter seiner Herrschaft von 48 Millionen im Jahre 1935 auf 456 Millionen im Jahre 1948 gesteigert; die Uhrenexporte insbesondere stiegen von 17 Millionen im Jahre 1935 auf 267 Millionen im Jahre 1948. Ein Dahinfallen des Vertrages würde bewirken, dass die amerikanischen Zölle auf schweizerischen Produkten sich im Durchschnitt um 30% erhöhen. Die überwiegende Mehrheit der durch Vermittlung des Vororts konsultierten Exportindustrien – so vor allem auch die Uhrenindustrie – haben sich denn auch zugunsten der Annahme der ‹Escape Clause› ausgesprochen und uns nahegelegt, vor allen Dingen ein Auslaufen des bestehenden Vertrages zu vermeiden.
Die Situation, in die uns die amerikanische Regierung durch die definitive Kündigung des Vertrages im Falle der Nichtannahme der ‹Escape Clause› gebracht hat – ohne dass der Abschluss eines neuen Vertrages angesichts der geschilderten Sachlage möglich wäre – bedeutet zweifellos für die schweizerische Regierung eine gewisse Zwangslage. Dennoch glauben wir, dass die Angelegenheit nicht dramatisiert werden sollte. Die ‹Escape Clause› ist, so sehr sie uns missfallen mag, nicht mehr zu umgehen, und sie hat wenigstens das Gute, uns das Fortbestehen des Vertrages zu gewährleisten. Ob sie je zum Nachteil des schweizerischen Exportes angewendet werden wird – vor allem für den Uhrenexport bestehen bekanntlich Befürchtungen – kann nur die Zukunft lehren.
Wir sehen vor, die Annahme der ‹Escape Clause› durch die Schweiz in Form eines vom Chef des eidg. Politischen Departements zu unterzeichnenden Schreibens an den amerikanischen Gesandten in Bern zu kleiden12, das als Antwort auf die Note der amerikanischen Regierung vom 10. August 1950 gelten würde.»
Gestützt auf die geschilderten Erwägungen wird im Einvernehmen mit dem Politischen Departement beschlossen:
1. Der vorstehende Bericht wird genehmigt unter Vorbehalt der Änderung durch das Politische Departement am Text der Klausel und am Mitgeteilt, welches nach Korrektur durch das Politische Departement und das Volkswirtschaftsdepartement übergeben werden wird13.
2. Das Politische Departement wird ermächtigt, im Sinne des vorgelegten Entwurfes14 zu einem Schreiben an die amerikanische Gesandtschaft, der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika die Zustimmung des schweizerischen Bundesrates zur Aufnahme der «Escape Clause» in den schweizerisch-amerikanischen Handelsvertrag vom 9. Januar 1936 zu erklären15.
- 1
- E 1004.1(-)-/1/522.↩
- 3
- Vgl. den Bundesbeschluss über das Handelsabkommen zwischen der Schweiz und den Vereinigten Staaten von Amerika (vom 23. April 1936), AS, 1936, Bd. 52, S. 241–271.↩
- 4
- Vgl. die diplomatische Note vom 10. August 1950, Beilage 1 zum Antrag des Volkswirtschaftsdepartements vom 12. Oktober 1950, E 1001(-)-/1/632.↩
- 5
- Exposé von J. Hotz, Die Bedeutung der «Escape Clause» für den schweizerisch-amerikanischen Handelsvertrag vom 9. Januar 1936, vom 24. Juni 1950, E 7110(-)1967/32/1623.↩
- 6
- Vgl. Draft Escape Clause for Swiss Trade Agreement, Beilage 2a) zum Antrag EVDvom 12. Oktober 1950, E 1001(-)-/1/632 und die französische Übersetzung Projet de clause échappatoire pour l’Accord de commerce avec la Suisse, ebd.↩
- 8
- Vgl. die diplomatische Note vom 10. August 1950, E 1001(-)-/1/632.↩
- 9
- Im Mai 1950 herrschte im Volkswirtschaftsdepartement noch die Einschätzung vor, dass durch das Argument, dass das Handelsabkommen von 1936 vom Parlament ratifiziert worden sei, der amerikanische Vorstoss betreffend der «Escape Clause» abgewendet werden könne. Vgl. dazu die Notiz von R. Campiche an J.- A. Cuttat vom 2. Mai 1949, E 2001(E)/ 1967/113/9 (dodis.ch/8815): La Division du Commerce estime, par conséquent, qu’en refusant de procéder à cet échange de lettres, nous forcerons les Américains à renoncer à leur projet.↩
- 10
- Vgl. AS, 1959, S. 1745–1822.↩
- 11
- Vgl. E 7110(-)1967/32/1623.↩
- 12
- Vgl. den Entwurf dieses Schreibens als Beilage 3 zum Antrag des Volkswirtschaftsdepartements vom 12. Oktober 1950, E 1001(-)-/1/632.↩
- 13
- Vgl. die Notiz von J. Hotz an M. Petitpierre und R. Rubattel vom 12. Oktober 1950, E 7110(-)1967/32/1623.↩
- 14
- Vgl. Anm. 11.↩
- 15
- Für den noch am 13. Oktober 1950 erfolgten Brief- und Notenaustausch und die Rücknahme der von der amerikanischen Regierung am 10. August 1950 ausgesprochenen Kündigung des Handelsvertrages vgl. E 7001(B)-/1/266.↩
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