Analyse der britischen Europapolitik und Haltung zum Schuman-Plan. Kritik der Opposition (Churchill, Eden) an der Politik der Labour-Regierung.
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 18, doc. 50
volume linkZürich/Locarno/Genève 2001
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2001E#1969/121#6612* | |
Old classification | CH-BAR E 2001(E)1969/121 298 | |
Dossier title | Schumanplan - Communauté européenne du charbon et de l'acier (CECA) (1952–1954) | |
File reference archive | C.41.760.0 |
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2200.40-02#1000/1667#391* | |
Old classification | CH-BAR E 2200.40-02(-)1000/1667 12 | |
Dossier title | Organisation européenne de coopération économique O.E.O.E., questions générales, v. aussi le L.71.8.1950 (1950–1951) | |
File reference archive | L.71.5 |
dodis.ch/7712
I.
Die Motive, die Frankreich dazu veranlassten, den Schuman-Plan2 aufzustellen, werden in London in folgendem erblickt:
1) Frankreich befürchtete, angesichts der raschen Verselbständigung Westdeutschlands, jede Kontrolle über die Ruhrindustrie zu verlieren. Im Schuman-Plan sah es die einzige Möglichkeit, sein Mitspracherecht in einer Weise zu verankern, die vom Schwund der Rechte der Besatzungsmächte unabhängig bliebe. Wie ich Ihnen schon auf raschestem Wege mitgeteilt [habe], hatte der parlamentarische Unterstaatssekretär im Foreign Office, Mr. Davies, diese Vermutung selbst ausgesprochen3.
2) Frankreich wollte den Versuch unternehmen, die Stellung Westeuropas, und damit Frankreichs, innerhalb der atlantischen Gemeinschaft zu stärken. An der Londoner Konferenz wollte es den Gedanken einer Einigung Europas, der in der letzten Zeit in den politischen Gesprächen etwas in Vergessenheit geraten war, von neuem ins Bewusstsein rufen4. Der Schuman-Plan sollte die wirtschaftliche Basis für ein geeintes Europa schaffen.
3) Immer besorgt, gegenüber den Grossmächten Amerika und England, eine gewisse Gleichberechtigung zu behaupten, erwartete Frankreich von der Initiative einen allgemeinen Prestigezuwachs.
4) Weniger ausschlaggebend, aber doch mitbestimmend, scheint nach britischer Auffassung die französische Hoffnung gewesen zu sein, dass der Plan einer Vereinigung der westeuropäischen Montan-Industrie den Erwartungen der öffentlichen amerikanischen Meinung entsprechen und die Aussichten auf die Fortsetzung amerikanischer Hilfe an Europa – und seine afrikanischen Besitzungen – vergrössern würde.II.
Die Haltung der britischen Regierung zum Schuman-Plan, wie sie schon im White Paper über die anglo-französischen Diskussionen und dann im Parlament von Mr. Attlee und Sir Stafford Cripps umrissen worden ist, lässt sich folgendermassen zusammenfassen:
1) Die französische Initiative wird insofern begrüsst, als sie einen Versuch darstellt, die Spannung zwischen Frankreich und Deutschland zu beheben.
2) Nachdem Frankreich es abgelehnt hat, in Besprechungen über die politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen des Planes einzutreten, hält die britische Regierung es für unmöglich, sich an den Verhandlungen auf Grund der Bedingungen der französischen Regierung zu beteiligen.5
3) Die britische Regierung hat zwar durch den Vorsteher des Planungsbüros, Sir Edwin Plowden, eigene Vorschläge ausarbeiten lassen. Sie hält diese aber gegenwärtig geheim und lehnt es ab, irgendetwas zu unternehmen, was die laufenden Verhandlungen beeinflussen könnte. Sie will nicht das Odium auf sich nehmen, durch eigene Vorschläge die Verhandlungen zu stören oder von den Zielen, die sich die französische Regierung gesetzt hat, abzulenken.
4) Die britische Regierung hofft, dass sie sich in einem spätern Zeitpunkt in irgendeiner Form und unter Wahrung ihrer Interessen an der Realisierung des Planes beteiligen kann.III.
Der britischen Haltung liegen folgende Motive zugrunde:
1) In den Vordergrund stellen sowohl das White Paper wie auch die Erklärungen des Ministerpräsidenten und Sir Stafford Cripps die Bedenken gegenüber der Befugnis der «High Authority», auf dem Gebiet der Montan-Industrie bindende Beschlüsse zu fassen. Mr. Bevan, der gelegentlich als möglicher Nachfolger Mr. Bevin’s genannt wird, erklärte mir, eine solche Kompetenzgewalt, die den Willen der Volksmeinung in den einzelnen Staaten nicht zu berücksichtigen habe, könne nur als diktatorisch und faschistisch bezeichnet werden. Würde, so erklärte mir der parlamentarische Unterstaatssekretär im Foreign Office, Mr. Davies, einem übernationalen Organ ein Bestimmungsrecht auf einem so wichtigen Gebiete wie Kohle und Stahl eingeräumt, würde innerhalb Englands die Planung nicht nur gehindert, sondern verunmöglicht. Die englischen Arbeiterkreise sehen in der Planung das Mittel, die Arbeitslosigkeit zu verunmöglichen. Die Labour-Regierung würde sich eines der wichtigsten Instrumente ihrer Innenpolitik aus der Hand schlagen lassen, wenn sie einer «High Authority» einen Einfluss auf die Planung gestatten würde. Das Hauptmotiv der gegenwärtigen britischen Haltung kann infolgedessen als ein wirtschaftliches bezeichnet werden.
2) Von annähernd gleicher Bedeutung ist das aussenpolitische Moment. Das grösste Problem Englands liegt heute darin, eine fein ausgeklügelte Gleichgewichtsstellung zwischen Commonwealth, Amerika und Europa einzunehmen. Die britische Regierung will es vermeiden, die Beziehungen zu einem der drei Partner zu verengern, wenn dies die Lockerung der Bande zu den zwei andern Partnern bedeuten würde. Sie glaubt, dass England seinen vollen Beitrag zur Einigung Europas nur als Mittelpunkt des Commonwealth und als enger Verbündeter der Vereinigten Staaten leisten kann. Obwohl die Dominions vor dem Entschluss Londons, auf die Beteiligung an der Schuman -Plan-Konferenz zu verzichten, nicht konsultiert worden sind, ist die Regierung überzeugt, dass der Entscheid im Interesse des Commonwealth liege.
3) Ein weiteres aussenpolitisches Moment kommt hinzu. Der Versuch Englands, an der Londoner Konferenz der Aussenminister alle westlichen Organisationen der atlantischen Gemeinschaft unterzuordnen, ist durch den Schuman-Plan zum mindesten verzögert worden. Mr. Attlee hat dies in seiner Parlamentserklärung vom 13. Juni ausgedrückt: «Die Diskussion des französischen Vorschlages hat natürlicherweise bewirkt, dass der ständige Fortschritt, der in Richtung auf eine grössere Aktionsgemeinschaft der Demokratien auf politischem, strategischem und wirtschaftlichem Gebiete gemacht wird, dem Blickfang einigermassen entzogen worden ist.»
Das Foreign Office ist heute der Überzeugung, dass ein geeintes Europa, das nicht in engster Beziehung zur atlantischen Gemeinschaft steht, unzeitgemäss ist. Es begegnet mit Misstrauen allen Bestrebungen, die unter Umständen zur Bildung einer europäischen «Troisième Force» führen könnte[n]. Mr. Davies betonte allerdings mir gegenüber, dass M. Schuman keine derartigen Absichten verfolge.IV.
Die Stellungnahme der Regierung fand im grossen und ganzen die Zustimmung der Presse und der öffentlichen Meinung, denn sie entsprach der britischen Abneigung gegen Improvisation und gegen die Eingehung von Verpflichtungen, deren Tragweite sich nicht übersehen lässt. Dass die Opposition den Schuman-Plan zu einer Attacke erkor, ist wohl einzig der Broschüre der Labour-Partei über die Einigung Europas zuzuschreiben. (Siehe meinen politischen Bericht No. 106). Die Opposition wurde gereizt durch die Bedeutung, die doktrinären sozialistischen Überlegungen in aussenpolitischen Fragen zugeteilt wurde. Für die liberale Partei, die konsequent für eine Preisgabe britischer Souveränitätsrechte zugunsten einer europäischen Einheit aufgetreten ist, war die Stellungnahme einfach. Bei den Konservativen jedoch widersprachen sich der Enthusiasmus für eine Europaunion einerseits und anderseits die Forderung, dass dem Commonwealth die Priorität allen andern aussenpolitischen Bindungen gegenüber einzuräumen sei. In der Propaganda für ein geeintes Europa war die konservative Partei dadurch begünstigt, dass sie die Regierungsverantwortung nicht zu tragen hat. Mr. Eden erklärte einem meiner Gewährsmänner, Mr. Churchill würde zweifellos der Europaunion gegenüber zurückhaltender sein, wenn er Ministerpräsident wäre. – Die Motion der beiden Oppositionsparteien forderte, dass sich England an der Schuman-Plan-Konferenz unter den gleichen Bedingungen wie die holländische Regierung beteilige.
In der Begründung der Motion durch Mr. Eden, Mr. Clement, Mr. Davies und Mr. Churchill liess die Opposition keinen Zweifel darüber aufkommen, dass ihre Kritik an der Regierung lediglich taktischer Natur sei. Kein Redner der Opposition verlangte die bedingungslose Annahme des französischen Prinzips der «High Authority». Kritisiert jedoch wurde die Passivität der Regierung, die darauf verzichtete, ihre Auffassung an der Schuman-Plan-Konferenz zu vertreten. Mr. Eden unterstrich hauptsächlich das aussenpolitische Moment. Käme der Schuman-Plan ohne Beteiligung Englands zustande, würde dies eine deutsche Vorherrschaft auf dem Kontinent bedeuten. Diese könnte sich in der Schaffung einer künstlichen europäischen Neutralität auswirken, welche geeignet wäre, die westliche Verteidigung zu gefährden.
Infolge der koreanischen Krise7 erhielt die Debatte einen akademischen Charakter. Sie brachte aber eine Abklärung über die britische Stellungnahme zu einem geeinten Europa. Sowohl Labour wie die Konservativen halten die Schaffung eines europäischen Bundesstaates für verfrüht. Zur Diskussion steht für sie gegenwärtig nur ein Staatenbund, in dem die Regierungen selbst sich über allfällige Verzichte auf ihre Souveränitätsrechte zu einigen haben. In der Substanz sind sich Regierung und Opposition auch betreffs des Schuman-Planes einig. Beide wünschten im Grunde eine Organisation, in der die Regierungen selbst ähnlich wie in der OECE vertreten wären. Die Debatte bewies aber, dass die Kritik an Mr. Bevin, dem mangelnde Initiative und mangelnde Führung vorgeworfen wird, nicht eingeschlafen ist.V.
Auf Seiten der Regierung scheint gegenwärtig der Ausgang der Schuman-Plan-Konferenz mit Gleichmut erwartet zu werden. Das Foreign Office nimmt an, dass früher oder später Frankreich gegenüber Deutschland des britischen Beistandes bedürfe. Mr. Berthoud, Unterstaatssekretär für wirtschaftliche Fragen im Foreign Office, machte mir diesbezüglich eine Andeutung: Es sei vielleicht im Interesse Frankreichs, dass Grossbritannien sich ausserhalb der Verhandlungen halte, es könne dann umso besser im gegebenen Zeitpunkt intervenieren. Vor wenigen Tagen sagte mir Mr. Morgan Philipps, der Generalsekretär der Labour-Partei, er glaube nicht an ein günstiges Resultat der Schuman-Verhandlungen, da diese klar den Unterschied zwischen den Zielen Frankreichs und Deutschlands herausarbeiten würden. London halte seinen Gegenvorschlag für den Augenblick bereit, wo es zu ihrer Bekanntgabe eingeladen werde. Ich frage mich, ob dieser Augenblick nicht dann kommen wird, wo die Diskrepanz der Absichten, die Deutschland und Frankreich zum Schuman-Plan führten, ans Tageslicht treten und einen Stillstand der Verhandlungen bewirken.
- 1
- Schreiben: E 2001(E)1969/121/298. Das Schreiben wurde vermutlich von A. R. Lindt redigiert.↩
- 2
- Zum Schuman-Plan im allgemeinen vgl. Thematisches Verzeichnis in diesem Band: Die Schweiz und die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl.↩
- 3
- Vgl. das Telegramm Nr. 46 von H. de Torrenté an das EPD vom 12. Mai 1950, E 2300London/44; zu den innenpolitischen Hintergründen der französischen Initiative vgl. das Schreiben vom 11. Mai 1950 und den politischen Bericht Nr. 4 vom 25. Mai 1950 von P. A. von Salis an M. Petitpierre, E 2300Paris/104.↩
- 5
- Für die Haltung Frankreichs gegenüber Grossbritannien vgl. den politischen Bericht Nr. 6 von P. A. von Salis an M. Petitpierre vom 22. Juni 1950, E 2300Paris/104.↩
- 6
- Vgl den politischen Bericht Nr. 10 von H. de Torrenté an M. Petitpierre vom 16. Juni 1950, E 2300London/44.↩
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United Kingdom (Economy) European Coal and Steel Community (ECSC)