Classement thématique série 1848–1945:
IX. QUESTIONS DE DÉFENSE NATIONALE
IX.1 PROBLÈMES GÉNÉRAUX
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 12, doc. 421
volume linkBern 1994
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E27#1000/721#13267* | |
Old classification | CH-BAR E 27(-)1000/721 2697 | |
Dossier title | Mobilmachungsmassnahmen im September 1938 [Deutscher Einmarsch in das Sudetenland] (1938–1941) | |
File reference archive | 06.H.1 |
dodis.ch/46681
Le Sous-chef «Front» du Service de 1’Etat-Major général, H. Frick, au Chef du Service de l’Etat-Major général, J. Labhart1
Nachdem nun die europäische Krise für den Augenblick vorüber ist und man die damit zusammenhängenden Probleme ruhiger überblicken kann, liegt es mir daran, Herr Oberstkorpskommandant, meinen Standpunkt in der Sache nochmals eingehend darzulegen, eingehender, als ich es anlässlich der Unterredung in der letzten Woche habe tun können. Denn, wenn auch vielleicht die von der Münchner Konferenz ausgehende Entwicklung zu einer Befriedung Europas auf längere Zeit führen kann, so ist auch das Gegenteil ebenso gut möglich. Allein schon die Bemerkung Chamberlains im englischen Unterhaus, dass die Rüstungen noch weiter gesteigert werden müssten, beweist, dass auch der englische Premierminister noch Zweifel in die friedliche Entwicklung der Dinge hegt. Es ist aber für uns von entscheidender Bedeutung, dass wir über den ganzen Fragenkomplex Klarheit gewinnen, damit wir in einer folgenden, vielleicht schon nächstes Jahr einsetzenden Krise danach handeln können.
Ich stelle eingangs fest, dass die politische Lage wohl von allen hauptsächlich Beteiligten innerhalb unserer Abteilung übereinstimmend dahingehend beurteilt wurde, dass Deutschland kaum in der Lage sei, während der Beschäftigung mit der tschechischen Frage irgend etwas gegen die Schweiz zu unternehmen und dass dies auch keinesfalls in seinem Interesse läge; ferner, dass Frankreich wohl kaum beabsichtigen und namentlich vor dem französischen Volk verantworten könnte, ohne weiteres den Durchmarsch durch unser Land zu erzwingen, und dass endlich Italien allem Anschein nach nicht die Absicht habe, gleich bei Beginn eines Weltkonfliktes einzugreifen.
Wenn also in der Beurteilung der politischen Lage Übereinstimmung herrschte, so muss ich anderseits doch auch feststellen, dass es sich dabei um subjektive Eindrücke handelte, für die wir keinerlei Beweise besassen, wenn man nicht die Erklärungen, die uns Frankreich auf verschiedenen Wegen und mit fast allzu grosser Beflissenheit zukommen liess, es werde unsere Neutralität respektieren, als solche betrachten will. Auch der Herr Bundespräsident hat ja in seiner Radioerklärung nur davon gesagt, dass die Schweiz nicht bedroht schien.
Es erhebt sich aber nun die Frage, ob ein Land auf derartige Vermutungen gestützt - den mehr sind diese Meinungen nicht, und möchte noch so viel Wahrscheinlichkeit dafür sprechen - auf die Ergreifung wirksamer militärischer Massnahmen verzichten darf. Hiezu ist folgendes zu sagen:
1. Unsere ganze Grenztruppenorganisation ist geschaffen und begründet worden, weil man mit dem Überfallkrieg mehr und mehr rechnen musste. In der ganzen Militärliteratur wird immer und immer wieder dieser Gedanke in den Vordergrund geschoben und die modernen Mittel, Flieger und motorisierte oder Panzerformationen, erlauben den Überfall zweifellos, ohne dass vorher allzu verdächtige Anzeichen darauf vorbereiten. Alle diese Mittel können auf grosse Distanz vor der Grenze bereitgestellt werden, und zwar im Räumen, die so liegen, dass in der Versammlung derartiger Kräfte daselbst unsererseits noch kein zwingender Verdachtsgrund erblickt werden muss. Wenn man sich vielleicht fragen kann, ob ein solcher Überfall in tiefstem Frieden, ohne vorausgehende diplomatische Spannung und Mobilmachungsmassnahmen, bei dem betreffenden Nachbarn ausgelöst würde, so ist doch kein Zweifel darüber möglich, dass in einer Zeit politischer Hochspannung und bei zu ca. drei Vierteln mobilisierten Heeren dergleichen jederzeit und ohne die mindeste Vorbereitung möglich ist.
Gerade zur Abwehr derartiger Aktionen ist unser Grenzschutz geschaffen worden; ohne diese dringende Notwendigkeit wäre es unverantwortlich, so starke Kräfte für eine blosse Sicherungsaufgabe der Feldarmee zu entziehen. Man muss sich immer darüber Rechenschaft geben, dass die Grenztruppen in sehr vielen Abschnitten eben nicht direkt durch wesentliche Teile der Armee gestützt werden können und daher dort sich für den notwendigen Zeitgewinn für Mobilmachung und Aufmarsch opfern müssen. Dieses Opfer ist aber nur gerechtfertigt, wenn der damit verbundene Zweck erreicht wird.
Dieser Zeitgewinn kann aber nur dann sichergestellt werden, wenn die Grenztruppen frühzeitig an Ort und Stelle sind. Werden die Grenztruppen erst dann aufgeboten, wenn sich für uns eine unmittelbare Bedrohung zeigt, so kommen wir zu spät und riskieren, dass die ganze Anstrengung umsonst ist und die Grenztruppen, ohne ihren Zweck erfüllen zu können, unnötigerweise verbluten. Um dies klarzustellen, möchte ich auf folgende Zahlen hinweisen: In den Grenzabschnitten der schweizerischen Hochebene dürfte es - vorsichtig, aber nicht übertrieben berechnet - vom Erlasse des Mobilmachungsbeschlusses an ca. 12 Stunden dauern, bis das Gros der Grenztruppen in seinen Stellungen auch nur einigermassen eingerichtet ist, von einer in jeder Hinsicht vollkommenen Kampfbereitschaft, wie wir sie wünschen müssten, kann aber in diesem Zeitpunkt noch gar keine Rede sein. In den Juraabschnitten und vollends im Hochgebirge müssen wir noch mit ganz ändern Zahlen rechnen und es ist vorsichtig, dort etwa einen oder sogar zwei Tage anzunehmen, wenn man sich nicht wertlosen Illusionen hingeben will. 12 Stunden oder gar erst 16 oder 24 Stunden sind aber, wie gerade die letzten Ereignisse bewiesen haben, eine lange Frist, innerhalb welcher sehr viel geschehen kann. Angenommen z.B., Frankreich hätte, gerade durch unsere Untätigkeit angelockt, uns ein auf 6 oder 8 Stunden befristetes Ultimatum mit Durchmarschgesuch gestellt, wofür man schliesslich immer einen diplomatischen Vorwand findet, so wären wir zu spät gewesen, ebenso, wenn Italien irgend etwas unternommen hätte, Italien das, wie wir heute wissen, in der Mobilmachung doch viel weiter vorgeschritten war, als man im Augenblick der Krise annahm. Wenn in einer späteren Krise die Lage Deutschlands uns gegenüber weniger klar ist, als in der letzten, so kann man sich denken, was bei dem in Deutschland beliebten «Blitzartigen Handeln» herauskäme, wenn wir mit der Mobilmachung der Grenztruppen warten würden, bis eine unmittelbare Gefahr für uns eindeutig festgestellt wäre.
Wir haben schon immer mit voller Deutlichkeit darauf hingewiesen, dass die frühzeitige Mobilmachung der Grenztruppen, aber auch der Armee überhaupt, für uns die Grundbedingung unserer Sicherheit ist. Das EMD hat sich in dem Schreiben betreffend die Übungen der Grenztruppen 1938 vom 17.9.38 selbst dazu wie folgt geäussert: «Mit Ihnen sind wir der Auffassung, dass der Grundsatz einer möglichst frühzeitigen Mobilmachung die beste Gewähr bietet, die heute noch bestehenden Mängel, die hauptsächlich dem verhältnismässig losen Gefüge der Grenztruppen entspringen, zu beheben.» Als sich aber in den Tagen, da dieses Schreiben an uns abging, der praktische Gefahrsfall zeigte, schien man beim EMD nichts mehr von dieser seiner eigenen Auffassung wissen zu wollen.
Wir waren sogar im Gegenteil weniger weit als im Jahre 1914. Bekanntlich sind 1914 vor Erlass der allgemeinen Mobilmachung weder in Frankreich noch in Deutschland Reservisten in grösserem Maßstabe eingezogen worden; die deutsche und die französische Armee befanden sich also noch am 1. August 1914 morgens durchaus auf Friedensfuss. Trotzdem haben wir als erste, nämlich mehrere Stunden vor Deutschland und Frankreich, die Mobilmachung der gesamten Armee verfügt.
Das mag folgende Aufstellung über die Massnahmen des Jahres 1914 beweisen:
30.7.14 abends: Gesamtmobilmachung in Russland
Aufstellung des Grenzschutzes in Frankreich
31.7.14 morgens: Pikettstellung der Schweiz. Armee und Aufgebot der
Grenzbewachung auf 1.8.
31.7.14 mittags: Gesamtmobilmachung in Österreich-Ungarn. Zustand drohender Kriegsgefahr (Anordnung des Grenzschutzes) in Deutschland.
Gesamtmobilmachung in Belgien.
1.8.14 0830: Gesamtmobilmachung der Schweiz. Armee.
1.8.14 1630: Gesamtmobilmachung in Frankreich.
1.8.14 1700: Gesamtmobilmachung in Deutschland.
2.8.14: Mobilmachung der englischen Flotte.
4.8.14: Mobilmachung der englischen Armee.
Es zeigt sich also mit voller Deutlichkeit, dass im Jahre 1914 unsere Grenzbewachung aufgeboten wurde, bevor Deutschland die seinige angeordnet hatte, und die Mobilmachung beschlossen wurde, bevor unsere beiden wichtigsten Nachbarn die ihrige anordneten. Trotz alledem wären wir zu spät gekommen, wenn gegen uns etwas beabsichtigt gewesen wäre, denn bekanntlich überreichte Deutschland das Ultimatum an Belgien, durch welches der freie Durchmarsch verlangt wurde, schon am 2. August, also am Vorabend unseres ersten Mobilmachungstages, und der Einmarsch der Deutschen in Belgien fand am 4. August 0930 statt, also zu einem Zeitpunkt, wo unsere Armee sich noch in voller Mobilmachung befand.
Aber trotzdem standen wir mit unseren Massnahmen im Jahre 1914 besser da als in der abgelaufenen Krise. Dies veranschaulicht folgende Übersicht:
August: dauernd steigende Mobilmachungsmassnahmen Deutschlands
(Einberufung von Reservisten im grossen Maßstab).
Anfang September: Kriegsmässige Besetzung der Maginotlinie. Verstärkung der belgischen Grenzbesetzung durch Reservisten.
Mitte September: Einberufung aller noch nicht aufgebotenen Reservisten in
Deutschland. Weigehende Requisition von Automobilen und Pferden in Deutschland.
Starke französische Truppenverschiebungen an die Rheingrenze.
Einberufung von Spezialisten der Reserveklassen schon seit Beginn des Monats. Massnahmen für die Evakuation der Bevölkerung im französischen Grenzgebiet.
22.9.: Französische Truppen in Maiche-Morteau.
23.9.: Verstärkte französische Truppenbewegungen gegen den Rhein.
Verstärkung des französischen Grenzschutzes auch an der Schweizergrenze. Strassen auch im Gebiet zwischen Basel und Delle verbarrikadiert.
24.9.: Aufgebot von ca. 350 000 Mann Reservisten in Frankreich. Verbarrikadierung der Grenzstrassen bei Goumois und la Goule französischerseits. Verbreiterung der Strasse von Pontarlier gegen die Grenze.
Belgien und Holland ergreifen Teilmobilmachungsmassnahmen.
Im Zeitpunkt des Abschlusses der Godesberger Konferenz stehen unter den Waffen:
In Deutschland ca. 1 800000 Mann,
in Frankreich ca. 1 500000 Mann (1 Million Reservisten).
27.9.: Belgien beruft rund 260000 Mann Reservisten ein.
England mobilisiert die Flotte.
In Morteau französische Kampfwagen, in Pontarlier Teile der
27. franz. Div. (Grenoble).
Es ist also festzustellen, dass in den umliegenden Ländern, und zwar auch in Italien, wo es erst nach und nach in Erfahrung gebracht werden konnte, eine staffelweise Mobilmachung sozusagen im Stillen durchgeführt wurde, die erlaubte, ohne eigentlichen Mobilmachungsbefehl die Armeen auf Kriegsfuss zu setzen.
Der allgemeine Mobilmachungsbefehl würde also in diesem Falle nicht mehr viel anderes bedeutet haben als der Punkt auf dem i, oder besser gesagt, die Erklärung dass man voll bereit sei.
Es muss weiter festgestellt werden, dass auch Staaten, die ganz gewiss nicht bedrohter waren als wir, wie z. B. Holland, zahlreiche Reservisten einberufen haben; selbst das fernab liegende Schweden hat derartige Massnahmen getroffen, von Belgien zu schweigen, das zu seinen 90000 Mann stehenden Truppen weitere 260000 aufbot.
Gegenüber dem allem sind bei uns nur zwei Massnahmen ergriffen worden:
- Die Ladung der Minen an der Grenze, die übrigens schon lange als Dauermassnahme vorgesehen war, am 12. September.
- Die Besetzung der wenigen einstweilen kampffähigen Grenzwerke durch die freiwilligen Grenzschutzkompagnien, am 12.9.
Dabei muss aber erst noch mit aller Deutlichkeit festgehalten werden, dass die Schweiz von allen genannten Staaten, Belgien, Holland und Schweden inbegriffen, der einzige ist, der über keine stehenden Truppen verfügt, also nicht in der Lage ist, ohne Aufgebot von Truppen auch nur die geringste Grenzschutzmassnahme vorzukehren, wenn man von den paar freiwilligen Grenzschutzkompagnien absieht, die natürlich nur einen hauchdünnen Schleier darstellen und deren Einsatz auch nicht einmal eine Demonstration von einigem Gewicht bedeutet.
Da muss man sich wirklich die Frage stellen, ob Staatsmänner wie z. B. der holländische Ministerpräsident Colijn oder der belgische Ministerpräsident Spaak und ihre militärischen Berater nervöse, aufgeregte Leute gewesen sind, weil sie ihre ständig bereiten, stehenden Truppen noch durch starke Kontingente neu einberufener Reserven verstärkten - in Belgien z. B. durch Einberufungen, die an Zahl etwa das Vierfache unserer Grenztruppen betragen - oder ob nicht vielmehr wir uns sorglos und naiv mit dem Glauben trösteten, es werde uns nichts passieren, um damit den Mangel an Mut zu einem ganzen Entschluss zu bemänteln.
Dass tatsächlich das letztere Moment vorlag, dass man sich genau wie 1798 die Mehrheit des Berner Grossen Rates vertrauensselig darauf verliess, es werde uns nichts geschehen, weil man - übrigens zu Unrecht - die Beunruhigung der Bevölkerung durch ein Aufgebot und die dadurch entstehenden wirtschaftlichen Störungen fürchtete, zeigt sich am besten darin, dass der Bundesrat sich am kritischen 28. September. mit dem Aufgebot der Alarmdetachemente begnügen wollte, einer typischen halben Massnahme, einem «Dergleichen-Tun, als ob». Jeder militärische Fachmann weiss, dass die Alarmdetachemente in der Luft hängen und für sich allein auch nicht einmal während ein paar Stunden imstande wären, einen angriffsbereiten Gegner auszuhalten, dass ihnen nur Wert innewohnt, wenn gleichzeitig das Aufgebot der Grenztruppen erlassen wird. Das ist auch der Grund, weshalb diese Massnahme dem Entscheid des Chefs der Generalstabsabteilung und nicht einem Bundesratsbeschluss Vorbehalten ist. In einem Moment also, wo ein europäischer Krieg auf des Messers Schneide war, wie wir heute aus den Erklärungen Chamberlains und Daladiers wissen, wo unsere Nachbarstaaten ihre Mobilmachung so gut wie vollendet hatten, gedachte unser Bundesrat die Schweiz durch eine «symbolische» Grenzbesetzung mit ein paar Mann auf jeder Einmarschstrasse zu decken.
Der Umstand, dass dann der Krieg schliesslich nicht ausgebrochen ist, kann diese Haltung m. E. keineswegs rechtfertigen. Durch den Rücktritt Duff Coopers wissen wir, dass auch in der englischen Regierung sehr einflussreiche Leute sassen, die für schärfere Massnahmen waren, und kein Mensch konnte Voraussagen, ob nicht etwa diese die Oberhand gewinnen, ob sich nicht auch Chamberlain auf ihre Seite schlagen würde. Denn beim ganzen Verhalten Chamberlains war es nicht klar, ob er damit bloss versuchte eine Lage zu schaffen, bei welcher im Kriegsfall die ganze Schuld eindeutiger als 1914 auf Deutschland fallen würde, oder ob es ihm wirklich um einen Frieden um jeden Preis zu tun war.
2. Die Unterlassung irgendwelcher Massnahmen zum Schutze unserer vollkommen entblössten Grenze hatte auch ihre sehr nachteiligen aussenpolitischen Folgen und könnte in einer nächsten Krise sogar katastrophale Konsequenzen auf diesem Gebiet haben. Einmal kann das Unterlassen jeder Massnahme dahin gedeutet werden, als ob man mit einem Nachbarn in geheimen Einverständnis sei. Es ist festgestellt, dass von französischer Seite derartige Befürchtungen geäussert worden sind. Sodann kann daraus die Versuchung entstehen, doch etwas zu unternehmen, auch wenn dies von Hause aus nicht beabsichtigt war. Es kann ja gar keine Frage bestehen, dass Frankreich auch Studien für den Ein- und Durchmarsch durch die Schweiz besitzt. Das gehört zur normalen Friedensvorbereitung des französischen Generalstabes. Konnte nicht in höchster dringendster Gefahr unsere vollkommene Wehrlosigkeit in Verbindung mit dem Bewusstsein, welche Schwierigkeiten die Überwindung der belgischen und deutschen Festungen biete, doch dazu verleiten, entgegen der ursprünglichen Absicht den Durchmarsch durch unser Land zu erzwingen? Was für eine Garantie hatten wir dagegen, dass das nicht geschah, in einer Zeit, wo die Auffassungen so rasch wechseln? So gut wie Frankreich seine Versprechungen, die Tschechoslowakei zu unterstützen, innert kürzester Frist gebrochen hat, so gut konnte es auch die Versprechungen, unsere Neutralität zu respektieren, brechen. Und wer konnte uns dafür bürgen, dass nicht Italien im Falle einer allgemeinen Konflagration im Bunde mit Deutschland in unser Land einzubrechen versuchte? All dem hatten wir nur Vermutungen, Annahmen und einige vage, zum Teil ziemlich weit zurückliegende Versprechungen ausländischer Staatsmänner entgegenzusetzen, in einer Zeit, wo nichts zählt, als die Macht. General Wille hat seiner Zeit gesagt: «Vorbeugen ist besser als Heilen! » und Marschall Lyautey hat das Wort geprägt, es komme darauf an, die Macht zu zeigen, um sie nicht zu gebrauchen. Diese beiden Gesichtspunkte hätten uns unbedingt veranlassen müssen, zum mindesten die Grenztruppen, ja vielleicht die Armee aufzubieten, gerade um allenfalls irgendwo bestehende Einmarschgelüste im Keim zu ersticken. Wenn wir 1914-1918 unter grossen Kosten und wirtschaftlichen und anderen Nachteilen starke Truppen unter den Waffen hatten, so geschah dies nicht deswegen, weil wir uns direkt bedroht fühlten, sondern weil wir einer möglichen Gefahr entgegentreten wollten. Dass damals schon die blosse Herabsetzung der im Dienst befindlichen Bestände der Armee eine gefährliche Krise provozierte, zeigten die Ereignisse um die Jahreswende von 1916/17, wo nur das Aufgebot von drei ganzen Divisionen die gefährlichen Gerüchte über Durchmarschabsichten beider Parteien zum Schweigen brachte.
Schliesslich ist noch ein weiterer aussenpolitischer Nachteil unserer Haltung festzustellen: der Eindruck wird dadurch erweckt, dass die Schweiz unentschlossen ist und dass es genügt, sie mit einigen Erklärungen zu beruhigen, um sie zur vollen Inaktivität zu bewegen. Eine Macht, die uns anzugreifen beabsichtigt, wird daraus die Lehren für ihre Methode ziehen.
3. Schliesslich hat die von uns gezeigte Inaktivität auch nachteilige innerpolitische Folgen. Das an sich schon stark beschädigte Vertrauen der Bevölkerung in die Bundesbehörden wird dadurch weiter gemindert. Wie man aus zahlreichen Stimmen aus dem Lande und neuerdings auch aus der Presse feststellen kann, war die Beunruhigung der Bevölkerung wegen des Ausbleibens jeglicher Massnahmen gross, viel grösser als sie durch ein Aufgebot der Grenztruppen geworden wäre. Ich glaube ganz bestimmt nicht, dass die bundesrätlichen Beruhigungspillen in der Presse ihre Wirkung tun, höchstens dass infolge des Abflauens der Krise die Sache wieder in Vergessenheit gerät. Aber in der Bevölkerung hat man die Sache anders - und richtiger - als der Bundesrat beurteilt, der übrigens bei dieser Gelegenheit erneut bewiesen hat, wie wenig Kontakt er mit der Volksstimmung hat.
4. Neben allen diesen Gründen, die für ein frühzeitiges Aufgebot der Grenztruppen sprachen, kam schliesslich noch ein wichtiger militärischer Grund hinzu. Wir alle wissen, dass im Gegensatz zu der offiziösen Mitteilung in der Presse unser Grenzschutz noch nicht so ausgebaut ist, dass wir volles Vertrauen in ihn haben könnten. Bei Anlass der Übungen sind noch zahlreiche Mängel festgestellt worden, die ausgemerzt werden müssen. Es fehlt ausserdem noch sehr stark an Leuten, die am Lmg., teils auch am Mg. ausgebildet sind. Eine bessere Gelegenheit, diese Scharten auszuwetzen und zwar unter dem Eindruck einer unmittelbar drohenden Kriegsgefahr, die alle Energien wachgerufen hätte, wäre gar nicht zu finden gewesen. Statt dessen berief man sich darauf, der Grenzschutz sei nun vollkommen eingespielt, was der Wahrheit in keiner Weise entspricht.
Abschliessend möchte ich mir also erlauben, meiner Auffassung Ausdruck zu geben, dass die «Ruhe» unserer höchsten Landesbehörde, die nichts anderes war als die Scheu vor durchgreifenden Entschlüssen und ihren natürlich teilweise auch weniger erfreulichen Begleiterscheinungen, ein schwerer Fehler war, der uns unter Umständen sehr teuer zu stehen kommen konnte. Wir müssen uns m. E. grundsätzlich darauf einstellen, dass bei einer nächsten Krise, die vielleicht schon bald kommt, frühzeitig mindestens die Grenztruppen mobilisiert werden müssen und auch die Mobilmachung der ganzen Armee nicht zu weit hinausgeschoben werden darf. Auf Mobilmachungsbeschlüssen von Nachbarn darf man nicht warten, wenn man feststellt, dass diese eine stille und staffelweise Mobilmachung durchführen. Wenn dem anders ist, wird die Schweiz eines Tages riskieren, ebenso zu Grunde zu gehen wie 1798, als die massgebenden Behörden, lügnerischen Vorspiegelungen der französischen Regierung und ihrer Agenten und Generäle trauend, auch nie etwas anderes als halbe Massnahmen beschlossen.
Es liegt mir daran, diese meine Auffassungen Ihnen in voller Offenheit darzulegen, damit sie nochmals überprüft werden und für die Zukunft vielleicht zu einer ändern Art des Handelns Anlass geben. Es wäre m. E. wohl wünschenswert, wenn der Herr Departementsvorsteher in geeigneter Form über diese Darlegungen orientiert würde.
- 1
- Lettre (Copie): E 27, Archiv-Nr. 13267. Massnahmen während der europäischen Krise.↩
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