Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 12, doc. 231
volume linkBern 1994
more… |Österreich zwischen den Mächten. Die politische Berichterstattung der schweizerischen Vertretung in Wien 1938–1955, vol. 4, doc. 21
volume linkBern 2014
more… |▼▶Repository
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2300#1000/716#1264* | |
Old classification | CH-BAR E 2300(-)1000/716 524 | |
Dossier title | Wien, Politische Berichte und Briefe, Militär- und Konsularberichte, Band 53 (1938–1938) |
dodis.ch/46491
Bezugnehmend auf meine telegrafischen und telefonischen Mitteilungen der letzten Tage beehre ich mich, Ihnen nachstehend über die Entwicklung der Situation in Österreich einige zusammenfassende Angaben zu machen.
Völlig überraschend verkündete der damalige Bundeskanzler Dr. Kurt von Schuschnigg von Innsbruck aus am 9. ds. Mts., dass am 13. März in Österreich über die Parole: «Für ein freies und deutsches, unabhängiges und soziales, für ein christliches und einiges Österreich» eine Volksabstimmung stattfinden werde. Im nationalsozialistischen Lager wurde sofort beanstandet, dass für die richtige Vorbereitung eines solchen Plebiscites in knapp drei Tagen die erforderliche Zeit fehle, dass keine Garantie der korrekten Durchführung, bezw. der Geheimhaltung der Wahl gegeben sei und dass die Ausschliessung der Bürger zwischen 20 und 24 Jahren vom Gang zur Urne eine verfassungswidrige Ungerechtigkeit darstelle. Die Losung bei den Gegnern Schuschniggs lautete daher: Wahlenthaltung. Im Laufe des vergangenen Donnerstags mochte es scheinen, als ob es dem Regime Schuschnigg gelingen könne, sich mit Hilfe dieses Plebiscites gegenüber den drohenden Schwierigkeiten siegreich durchzusetzen. Eine gewaltige Wahlpropaganda setzte ein und ganz Wien war übersät mit Stimmzetteln, die alle den Aufdruck «ja» trugen. Gleichzeitig fanden Besprechungen mit Vertrauensleuten ehemaliger Linksreise statt, um die Arbeiterschaft am 13. März zum Eintreten für Schuschnigg zu bewegen.
Freitag war bereits im Laufe des Vormittags zu erkennen, dass eine Wendung bevorstand. Während Berlin bisher das beabsichtigte Plebiscit totzuschweigen oder zu bagatellisieren versucht hatte, wurde die Regierung Schuschnigg innenund aussenpolitisch nunmehr unter schärfsten Druck gesetzt. Darüber habe ich Ihnen telegrafisch berichtet. Ich ersehe übrigens aus den Berichten der schweizerischen Presse, wobei ich namentlich die «Neue Zürcher Zeitung» im Auge habe, dass die Tatsachen, so wie sie sich zugetragen haben, Ihnen in den wesentlichen Zügen bekannt sind.
Wer Freitag in den späten Nachmittagsstunden nicht als Nationalsozialist auf den Strassen demonstrierte, verfolgte die sich überstürzenden Ereignisse am Rundfunk. Dort wurde kurz nach 18 Uhr, vorerst ohne weitere Begründung, die Verschiebung der Volksabstimmung bekanntgegeben. Gegen 20 Uhr ergriff darauf, ohne dass irgendeine Ansage erfolgt wäre, Bundeskanzler Dr. Kurt von Schuschnigg das Wort, um zu erklären, dass seine Regierung der Gewalt weiche und dass er sich nun vom österreichischen Volke verabschiede. Die Stimme des Bundeskanzlers war von tiefer Erschütterung durchzittert. Es war auch ergreifend, anschliessend an diese Abschiedsworte die österreichische Nationalhymne, in der Instrumentierung von Joseph Haydn, getragen und feierlich ausklingen zu hören.
Dann folgten Schlag auf Schlag die verschiedenen Phasen der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus. Das in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom vergangenen Sonntag veröffentlichte, Freitag um 22 Uhr ausgegebene Communiqué der österreichischen Bundespräsidentschaft wurde den Hörern des hiesigen Rundfunks und den Lesern der österreichischen Presse bereits nicht mehr bekanntgegeben. Dagegen ergriff bald nach den Abschiedsworten von Dr. Schuschnigg der damalige Innen- und Sicherheitsminister Dr. Seyss-Inquart das Wort, um zur Ruhe und Ordnung zu mahnen und die Exekutive aufzufordern, dem allfällig einrückenden deutschen Heere keine Gewalt entgegenzusetzen. Noch in der gleichen Nacht waren darauf die Bildung der Regierung Seyss-Inquart und das Gesuch des neuen Bundeskanzlers an die Reichsregierung um Entsendung deutscher Truppen zu verzeichnen. Der Bundespräsident blieb mittlerweile noch im Amt und die «Wiener Zeitung» vom Sonntag veröffentlichte die Demission Schuschniggs, sowie die Einsetzung der Regierung Seyss-Inquart durch das Staatsoberhaupt. Die rein formale Kontinuität war somit gewahrt. Aus den mir vorliegenden schweizerischen Blättern ergibt sich, dass Sie über die Zusammensetzung des Kabinetts Seyss-Inquart orientiert sind. Ich erwähne lediglich, dass der Aussenminister Wolf als österreichischer Vizepräsident der in nächster Zeit zu bildenden Österreichisch-Schweizerischen Gesellschaft in Aussicht genommen war und somit wohl als Freund unseres Landes angesehen werden darf, wie auch, dass der Justizminister Hueber mit dem vielbesprochenen österreichischen Schwager Goerings identisch ist.
Aus der Regierung Schuschnigg wurden, ausser Seyss-Inquart, lediglich übernommen Bundesminister Dr. Glaise-Horstenau, der nun das Amt eines Vizekanzlers bekleidet, Finanzminister Neumayer und vorerst noch der Staatssekretär für das Sicherheitswesen, Dr. Skubl, der aber bereits am Sonntag demissionierte und durch einen Nationalsozialisten ersetzt wurde.
Der Einzug des deutschen Heeres in Österreich, die Ankunft Adolf Hitlers auf österreichischem Boden, sowie der triumphale Empfang, der dem Reichskanzler und den deutschen Truppen bereitet wurde, haben hier nicht weiter erwähnt zu werden.
In den Abendstunden des Sonntags wurde dann bekanntgegeben, Bundespräsident Miklas habe auf Ersuchen des Bundeskanzlers seine Funktionen zurückgelegt, die nun auf Seyss-Inquart übergegangen seien. Darauf verkündete die neue österreichische Regierung noch Sonntag, den 13. März, ein Bundesverfassungsgesetz über die Einverleibung Österreichs in das Deutsche Reich, dem am gleichen Tage in Berlin ein entsprechendes deutsches Gesetz über diese Wiedervereinigung folgte. In kürzester Frist wurde sodann ein Erlass Hitlers verkündet, wonach die österreichische Wehrmacht nunmehr einen Teil des Reichsheeres bildet. Die Vereidigung der österreichischen Truppen auf Adolf Hitler hat bereits gestern stattgefunden.
In einem separaten Schreiben wird Ihnen gemeldet, dass trotz der staatsrechtlichen Einverleibung Österreichs in das Deutsche Reich in zolltechnischer Hinsicht die Dinge vorderhand beim Alten bleiben. Wirtschaftlich bedeutsam ist eine heutige Verordnung über die Beschränkung der Auszahlungen im Inlande sowie eine Verschärfung der Devisenvorschriften, über die Sie auch gesondert orientiert werden. In seiner Wirkung auf das Inland bedeutet der erst erwähnte Erlass praktisch die Verfügung eines Moratoriums.
In den vergangenen Tagen wurde das gesamte österreichische Zeitungswesen den Verhältnissen im Reiche angepasst. Die hiesige Gleichschaltung der Presse ist eine viel radikalere und raschere gewesen als diejenige in Deutschland in der Zeit nach der Machtübernahme. Auch die leiseste Stimme der Kritik wird nicht mehr gehört. Gewisse jüdische Blätter, die in Berlin als sogenannte Wiener Asphalt-Presse besonders unbeliebt waren, sind direkt durch die Partei übernommen worden. Andere, wie z.B. die «Reichspost» und die «Neue Freie Presse», haben sich restlos auf den Boden der Tatsachen gestellt. Lediglich das «Neue Wiener Tagblatt», das nun aber in seiner heutigen Ausgabe bereits mit einem Hakenkreuz erscheint, widmete Samstag Dr. Kurt von Schuschnigg einen ehrenden Abschiedsartikel.
Selbstverständlich sind die früheren Formationen der «Vaterländischen Front» wie auch das «Sturmkorps» vollständig aus dem Strassenbild verschwunden. Die «Vaterländische Front» ist aufgelöst. Ihr Vermögen ist auf die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei übergegangen und das frühere Haus des Frontführers am Hof ist nun der Sitz der hiesigen N.S.D.A.P. In den Ämtern und Ministerien wurden die leitenden Stellungen sofort durch Vertrauensleute des neuen Regimes besetzt. Indessen sind die Beamten aufgefordert worden, weiterhin ihren Dienst zu versehen; spätere Enthebungen nach Gesetz bleiben Vorbehalten.
Was die Juden anbelangt, so ist gestern bereits im Rundfunk verlautbart worden, die jüdischen Rechtsanwälte würden aus der Rechtsanwaltskammer ausgeschlossen und jüdische Ärzte dürften nur noch nicht-arische oder halbarische Patienten behandeln. Gesetzliche Erlasse in dieser Hinsicht sind wohl zu erwarten. Heute hat nun im Zuge dieser Entwicklung der Minister für Justiz die Enthebung aller Richter und Staatsanwälte verfügt, die Juden oder Halbjuden sind, und gleichzeitig die Sperre der Aufnahme der Juden oder Halbjuden in die Rechtsanwaltschaft und in das Notariat ausgesprochen.
Der nächste Schritt in der Entwicklung ist nun die Vorbereitung auf die durch das Bundesverfassungsgesetz vom 13. ds.Mts. auf den 10. April 1938 angesetzte Volksabstimmung der über 20 Jahre alten Männer und Frauen Österreichs über die Vereinigung mit dem Deutschen Reiche. Mit der Organisation der Wahl ist der Saar-Gauleiter Bürckel betraut.
Nun ein Wort über unsere Schweizerkolonie. Unsere Landsleute haben im grossen und ganzen in den vergangenen aufregenden Tagen ruhige Nerven bewahrt. Auf Verlangen habe ich nicht wenigen Schweizern Schutzbriefe ausgestellt, wofür Formulare hier vorhanden waren. Anderen wieder, die mich im Hinblick auf Beflaggung und Verhalten bei eventuellen Requisitionen befragten, erteilte ich die durch die Umstände gebotenen Ratschläge. Von wenigen, zum grössten Teil bereits behobenen Zwischenfällen abgesehen, sind die Schutzbefohlenen dieser Gesandtschaft durch die Ereignisse nicht in Mitleidenschaft gezogen worden.
Was das Los der bisherigen Machthaber in Österreich anbelangt, so sind darüber die verschiedensten Gerüchte im Umlauf. Als sicher darf gelten, dass weder Dr. Kurt von Schuschnigg, noch die namhafteren Mitglieder seines Kabinetts die Grenze erreichen wollten oder konnten. Der frühere Bundeskanzler dürfte sofort nach Verlesung seiner Abschiedsansprache in Schutzhaft genommen worden sein. Auch vor dem Hause des früheren Bundespräsidenten stehen Parteiposten. Der gewesene Bürgermeister von Wien, Dr. Schmitz, der mehrfach als Anwärter für den Kanzlerposten als Nachfolger von Schuschnigg in Frage kam, befindet sich in SicherheitsVerwahrung.
Wie Sie aus der Presse wissen, ist Adolf Hitler, von unbeschreiblichem Jubel umrauscht, gestern in der österreichischen Hauptstadt eingetroffen. Im Laufe des heutigen Tages findet zu seinen Ehren eine grosse Feier auf dem Heldenplatz statt. Selbstverständlich ist es nicht Sache des beim früheren Bundespräsidenten Miklas akkreditierten diplomatischen Corps, sich an diesen Anlässen irgendwie zu beteiligen. Die diplomatischen Vertretungen in Wien beschränken sich vorderhand auf den konsularischen Schutz der ihnen anvertrauten Landsleute. Ich nehme an, dass Sie mir im Hinblick auf die Frage der Aufnahme oder Nichtaufnahme irgendwelcher Beziehungen zum Bundeskanzler, bezw. Reichsstatthalter und zu Aussenminister Wolf seinerzeit entsprechende Instruktionen erteilen werden.
Ich sende Ihnen beiliegend, um Ihnen eine chronologische Übersicht zu ermöglichen, aus der «Wiener Zeitung» vom 13. ds. Mts. die amtlichen Nachrichten über die Demission Schuschniggs und die Betrauung der Regierung Seyss-Inquarts, nebst einem Aufsatz «Grossdeutscher Anbruch», ‘von besonderer Seite’, der wohl aus dem Bundeskanzleramt stammen dürfte; aus der «Wiener Zeitung» vom 14. ds. Mts. das Bundesverfassungsgesetz über die Vereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reiche und die durch Adolf Hitler erlassene Verfügung über die Einordnung des Bundesheeres in die deutsche Wehrmacht.
- 1
- Rapport politique: E 2300 Wien, Archiv-Nr. 53.↩
Tags
Austria (Politics)
Anschluss of Austria (1938)