Classement thématique série 1848–1945:
II. RELATIONS BILATÉRALES
1. Allemagne
1.8. Questions politiques générales
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 11, doc. 202
volume linkBern 1989
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2300#1000/716#121* | |
Old classification | CH-BAR E 2300(-)1000/716 64 | |
Dossier title | Berlin, Politische Berichte und Briefe, Militärberichte, Band 37 (1936–1936) |
dodis.ch/46123
In meinem letzten politischen Briefe vom vergangenen Jahre hatte ich Ihnen vornehmlich über die vielbesprochene Unterredung des hiesigen britischen Botschafters mit dem Reichskanzler vom 13. Dezember berichtet2. Da unser Gesandter in Paris Ihnen seinerseits darüber geschrieben3 und dabei bemerkt hat, dass bei jenem Gespräch auch von der demilitarisierten Rheinzone die Rede gewesen sein soll, frug mich die Abteilung für Auswärtiges an, ohne zwar die Angaben aus Paris näher wiederzugeben, ob dies nach den hier erhältlichen Erkundigungen zutreffe, indem mein eigener Bericht diesen Punkt nicht erwähnte. Ich habe mich bemüht, die Sache abzuklären, aber ohne positiven Erfolg. Es darf demnach angenommen werden, dass eine Erörterung der gedachten Frage in der Besprechung Hitler-Phipps nicht stattgefunden hat, was jedoch nicht ausschliesst, dass der Botschafter im Verlaufe des Gesprächs erneut auf die Bedeutung, welche die Artikel 42 und 43 des Versailler-Vertrags4 in den Augen der früheren Allierten behalten, hingewiesen hat. Eine Stellungnahme dazu wäre deutscherseits nicht erfolgt.
Ich benutze aber den Anlass, um die Wandlung der deutschen Einstellung über die Jahreswende zu unterstreichen. Noch in der letzten Zeit hatte ich verschiedentlich Gelegenheit, Ihnen zu berichten, wie so ganz passiv und scheinbar unberührt man sich hier gegenüber allem verhielt, was von nah oder fern mit dem abessinisch-italienischen Kriege zusammenhing5. Insbesondere möge der Völkerbund und seine einzelnen Mitglieder auf dem Gebiete der Sanktionen tun, was ihnen beliebt. Diese und die sich möglicherweise daraus ergebenden Rückwirkungen interessierten Deutschland angeblich nicht. Die Reichsregierung werde demgegenüber ihre neutrale Linie unbeirrt und unbeeinflusst innehalten.
Und nun, wenn nicht über Nacht, so über Neujahr der nach aussen zum Ausdruck kommende Taktikwechsel. Man stellt fest, was man ja längst annahm und kommen sah, dass die zum Teil mehr oder weniger erzwungenen Zugeständnisse Frankreichs an England für den Fall von Verwicklungen infolge der Anwendung von Sanktionen6 ihr – doch logisches – Gegenstück haben in britischen Zusicherungen an Frankreich für den Fall einer Bedrohung durch Deutschland. Für diese Eventualität – wird weiter festgestellt – sollen bereits bestimmte Verabredungen technischer Natur und militärischen Zusammenwirkens getroffen werden.
Dies geht, nach neuester deutscher Auffassung, nicht an. Es ist oder wäre unvereinbar vorab mit den sich aus dem Locarno-Hauptvertrage von 1925 ergebenden gegenseitigen Verpflichtungen. Grossbritannien als Garant sei nicht berechtigt, einseitige Bindungen mit Frankreich einzugehen, da es gegebenenfalls dieselbe Garantenrolle zu Gunsten Deutschlands zu übernehmen hätte. Dadurch bliebe es seiner Mission als gewissermassen unparteiischer, im voraus nicht zu beeinflussender und zu bindender Vertragspartner nicht mehr treu. Die Folge davon müsste sein, dass sich das Deutsche Reich durch das Locarno-Vertragswerk nicht mehr für gebunden hielte.
Wenn auch diese deutsche Einstellung von unabsehbarer Tragweite zu offiziellen Schritten oder Protesten noch nicht Anlass gegeben hat, so wird sie doch schon mit der grössten Bestimmtheit und Einmütigkeit vertreten durch die Presse, die politischen und militärischen Stellen wie auch berufene Kreise der Rechtswissenschaft.
Man kann wohl über die Berechtigung des deutschen Standpunkts verschiedener Meinung sein. In politischer Hinsicht mag sich Deutschland darüber beklagen können, dass seinen unablässigen Friedensbeteuerungen nicht voll geglaubt und es bezichtigt werde, irgendwelche Angriffspläne im Schilde zu führen. Rein rechtlich dagegen ist doch schwer zu bestreiten, dass Mächte, die sich, wie im Locarnovertrage, «schon jetzt» verpflichtet haben, sich eintretendenfalls gegenseitig sofortigen Beistand zu gewähren, berechtigt sind, die Bedingungen und praktischen Möglichkeiten einer solchen automatischen Unterstützung im voraus zu erörtern, welches Recht freilich jedem beteiligten Staate zustünde.
Dies wird nun hier allseits mit einem umso grösseren Schwall von Argumenten bestritten, als man sich offenbar Rechenschaft gibt, dass keines für sich allein als überzeugend zu wirken geeignet ist. Es wird sogar noch weiter ausgeholt. Da der Locarnovertrag verschiedentlich auf die Völkerbundssatzung, vorab auf deren Artikel 15 und 167 verweist, wird hier angedeutet, dass durch gewisse bestehende Bündnisse, in augenscheinlichster Weise durch den französisch-russischen Pakt, auch jene Bestimmungen der Völkerbundssatzung tatsächlich verletzt seien, indem deren normale Anwendung durch die partikularen Verträge jederzeit verhindert werden könne. So hätten es Frankreich und Sowjetrussland z. B. in der Hand, in den ihnen passenden Fällen die Einstimmigkeit des Völkerbundsrats zu verhindern und die sich daraus in Bezug auf Frieden oder Krieg ergebenden Folgen nach Belieben heraufzubeschwören.
Was bedeutet nun diese allgemeine, auf hauptsächlich rechtliche Gründe und Erwägungen sich stützende Offensive? Man muss sich erinnern, dass die die demilitarisierte Rheinzone einsetzenden Artikel 42 und 43 von Versailles sich wie ein roter Faden durch den Vertrag von Locarno hinziehen. Die grosse, starke deutsche Armee hält aber die demilitarisierte Zone fürderhin nicht mehr für tragbar, wie man hier zu sagen pflegt. Ich habe Grund, an die Nachricht zu glauben, dass die Armee von Staat und Partei verlangt und erwartet, dass ihr im angebrochenen Jahre noch das beidseitige Rheinufer zur freien Benutzung zurückgegeben werde8. Aber auch in den betreffenden Gegenden ist man ungeduldig geworden. Denn dort kann die Arbeitslosigkeit mit keinerlei militärischen Arbeiten bekämpft werden. Zudem gewinnt die Möglichkeit der Einrichtung von Garnisonen und der Abhaltung von Übungen dank dem riesigen Aufbau der Armee mit jedem Tage an Bedeutung.
Die Wiedererlangung der Wehrhoheit ist ohne besondere Beschwerden durchgesetzt worden, unter dem Schutze u. A. der Rechtsbegründung, dass die ändern Kontrahenten den Abrüstungsartikel 8 des Versailler-Vertrags längst verletzt hatten. Die Artikel 42 und 43 sind somit über den Locarno-Vertrag vorderhand ebenfalls unter juristisches Feuer zu nehmen. Das Weitere wird sich zeigen, wenn nicht geben.
Es entsteht damit die höchst wichtige Frage, wie sich die ändern unmittelbar Beteiligten, Frankreich und England, diesmal verhalten werden. Nach deutscher Beurteilung scheidet Italien bis auf weiteres aus und Belgien gilt überhaupt kaum. Ich weiss, dass man wegen dieser Entwicklung französischerseits sehr besorgt ist9, vielleicht auch englischerseits. Und schliesslich könnte sich der Völkerbund selbst sehr rasch mit dieser heikelsten Frage zu befassen haben.
Das ganze Problem dürfte sich demnach in der nächsten Zeit zu einem ebenso psychologischen wie politischen und militärischen entwickeln. Gewänne man hier die Überzeugung, dass Verstösse gegen die Versailler-Artikel 42 und 43 nicht mit kriegerischen Aktionen beantwortet würden, so wäre es in kürzester Zeit um die demilitarisierte Zone geschehen. Wie wird also die öffentliche Meinung Frankreichs reagieren? Denn dort dürfte die Entscheidung fallen. Der britische Garant wird nicht militarisierter sein wollen als das garantierte Frankreich und mit ihm Belgien.
Wären dagegen nach deutscher Beurteilung Rückwirkungen schwerster Art zu gewärtigen, so würde man hier noch etwas Geduld und Vorsicht aufbringen können. Dabei mag sogar die diesjährige Olympiade eine entscheidende Rolle spielen10. Denn ganz Deutschland misst ihr grösste Bedeutung bei und möchte deren Vorteile propagandistischer und wirtschaftlicher Art nicht leichthin verscherzen.
Das ist also die eine hochwichtige Frage, die mit entsprechendem Gewölke zu Beginn des Jahres am politischen Himmel aufzieht. Von verschiedener ausländischer Seite vernehme ich in dieser Hinsicht Befürchtungen. So scheint man in gewissen niederländischen Kreisen der beängstigenden Überzeugung zu sein, dass in einem neuen Kriege zwischen Deutschland, Frankreich, England und Belgien die Niederlande nicht wieder in der Lage wären, ihre Neutralität aufrecht zu erhalten. Gezwungenermassen müssten sie Farbe bekennen und Partei ergreifen.
Das zweite bedeutsame wie schwierige Problem, mit dem das Deutsche Reich die Welt gleichzeitig beschert, ist das der neuen deutschen Kolonien, worüber ich bei nächster Gelegenheit zu berichten gedenke.
- 1
- Rapport politique: E 2300 Berlin, Archiv-Nr. 37.↩
- 2
- Non reproduit.↩
- 4
- Art. 42: Il est interdit à l’Allemagne de maintenir ou de construire des fortifications, soit sur la rive gauche du Rhin, soit sur la rive droite, à l’Ouest d’une ligne tracée à 50 kilomètres à l’Est de ce fleuve. Art. 43: Sont également interdits, dans la zone définie à l’article 42, l’entretien ou le rassemblement de forces armées, soit à titre permanent, soit à titre temporaire, aussi bien que toutes manœuvres militaires de quelque nature qu’elles soient et le maintien de toutes facilités matérielles de mobilisation.↩
- 5
- Cf. RP no 29 du 8 janvier 1935 in E 2300Berlin, Archiv-Nr. 36. Cf. aussi rubrique 1.4: SdN, conflit italo-éthiopien, sanctions..↩
- 6
- Cf. rubrique 1.4: SdN, conflit italo-éthiopien, sanctions..↩
- 7
- Pour le texte des articles 15 et 16 du Pacte de la SdN, cf. respectivement no 152, n. 13 etno 145, n. 5. Cf. aussi DDS vol. 9, no 158, dodis.ch/45175 + A.↩
- 8
- Le 7 mars 1936 le Reich dénonce le pacte de Locarno et occupe la zone rhénane démilitarisée. P. Dinichert, dans son RP no 6 du 8 mars 1936, analyse les faits de la manière suivante: [...] Allerdings konnte man annehmen, dass das gewagte Unternehmen nicht ganz so rasch vor sich gehen würde. Nach meiner Überzeugung hat die kürzliche Entwicklung im italienischabessinischen Krieg und die jüngsten Vorgänge in Genf die deutscherseits vorbereiteten Entschlüsse in den letzten Tagen beschleunigt. Zwei Überlegungen dürften dazu entscheidend beigetragen haben. Einmal fiel Italien, was den Rheinpakt betrifft, vorderhand ausser Betracht. Das hat Ihnen mein eingehender Bericht von vorgestern noch bestätigt. Ich sage aber vorderhand, denn man konnte im Voraus nicht wissen, ob nach einem allfällig baldigen Friedensschluss in AbessinienItalien nicht wieder in seine Locarneser Pflicht eintreten würde. Anderseits war der deutschen Regierung bekannt, dass gerade jetzt Frankreich seinen ganzen Druck auf Grossbritannien ausübte, um es zu endgültigen Zusicherungen für den Fall von Schwierigkeiten an der Rheingrenze zu zwingen. Die Vermutung ist naheliegend, dass Deutschland dem in letzter Stunde noch zuvorkommen wollte. Der italienische Botschafter zeigte sich über die Gedankengänge der Reichstagsrede[le 7 mars Hitler dans un discours au Reichstagjustifie le coup deforce en train de s’accomplir]keineswegs erstaunt, sondern wohl eher mit ihnen einverstanden. Er bestätigte mir, dass er das alles klar habe kommen sehen und dass er es an Warnungen an seine französischen und britischen Kollegen nicht habe fehlen lassen. Auf der französischen Botschaft betrachtete man gestern Abend die ganze Lage als ernst. Mir gegenüber wurde betont, dass wenn auch die Absage an Locarno und der Einmarsch deutscher Truppen in die demilitarisierte Zone zeitlich überraschend gekommen sei, man sich in Frankreich, insbesondere militärisch, auf alles vorbereitet befinde. Die Armee wäre in jedem Augenblick im Stande, ihre Aufgabe zu erfüllen. Welches diese sein werde, darüber hätten aber ausschliesslich die politischen Behörden zu entscheiden. Von der britischen Botschaft höre ich, dass sie von allem vollkommen überrascht worden sei. [...] ( E 2300 Berlin, Archiv-Nr. 37).↩