Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 7-II, doc. 297
volume linkBern 1984
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2001B#1000/1501#8* | |
Old classification | CH-BAR E 2001(B)1000/1501 1 | |
Dossier title | Innerpolitische Berichte (Handakten Legationsrat Egger) (1920–1924) | |
File reference archive | A.12.15 |
dodis.ch/44508
La Division des Affaires étrangères du Département politique aux Légations de Suisse1
Über den gegenwärtigen Stand der Zonenfrage können wir Ihnen mitteilen:
Mündliche Unterhandlungen haben zwischen schweizerischen und französischen Delegierten vom 27. bis zum 31. Januar 1920 in Paris stattgefunden. Es handelte sich dabei um die Ausarbeitung der durch den letzten Abschnitt des Artikels 435 des Versailler-Vertrages vorgesehenen Neuordnung der freien Zonen von Hochsavoyen und des Pays de Gex. Die Verhandlungen mussten unterbrochen werden, um den beidseitigen Regierungen Gelegenheit zu einem neuen Studium der Frage zu geben. Der kurze Gedankenaustausch in Paris hat unzweideutig gezeigt, dass zwischen dem französischen und schweizerischen Entwurf zur Zeit unüberbrückbare Meinungsverschiedenheiten bestehen. Der französische Entwurf sieht die Beseitigung der durch die Verträge von 1815 und die Volksabstimmung von 1860 geschaffenen Zonen vor, wobei den Grenznachbarn gewisse Zugeständnisse in der Anwendung der für die anderen Grenzen bestehenden Zollbestimmungen gemacht werden sollten. Der schweizerische Entwurf möchte die bisherige Regelung beibehalten, sieht aber vor, dass der Bevölkerung der Zonen weitgehende Rechte zugestanden würden, damit sie die gleichen Vorteile geniessen, wie sie der Schweiz durch ihre Verträge eingeräumt werden.
Seit anfangs Februar ist die Lage vom internationalen Standpunkt aus unverändert geblieben.
In französischen parlamentarischen Kreisen, und besonders in Savoyen, ist die Zonenfrage andauernd Gegenstand lebhaftester Erörterungen. Die Zollkommission der französischen Abgeordnetenkammer hat kürzlich an die Regierung die Aufforderung gerichtet, sie möge an dem ersten Entwürfe festhalten.
Das schweizerische Volkswirtschaftsdepartement befasst sich zur Zeit mit einer neuen technischen Prüfung der Fragen, die sich aus den mündlichen Verhandlungen in Paris ergaben.
Es wird zweifellos notwendig sein, vor Aufnahme der unterbrochenen Unterhandlungen neuerdings die Kommission zusammentreten zu lassen, in der die beteiligten Kreise und Kantone vertreten sind.
Vor wenigen Tagen ist nun aus Paris die Meldung eingetroffen, die Zollkommission des Senates habe unter dem Vorsitz von Jean Morel «einstimmig» folgende Motion angenommen: Die Kommission ist im Hinblick auf Art. 435 des Versailler Vertrages der Ansicht, dass diese Vereinbarung endgültig das Régime des Vertrages vom 1815 aufhebt und Frankreich das Recht gibt, seine Zollgrenze an die politische Grenze hinauszurücken. Sie stellt ferner fest, dass eine französisch-schweizerische Konferenz sich in der Zwischenzeit in Paris mit der Festlegung des in diesem Artikel vorgesehenen Abkommens befasste, jedoch ihre Verhandlungen vor der Erreichung eines endgültigen Ergebnisses abbrechen musste. Die Kommission verlangt daher von der Regierung: 1. Die Verhandlungen mit der schweizerischen Regierung möchten so bald als möglich wieder aufgenommen werden. 2. Sie möge ihre Zustimmung nicht in einer Abmachung geben, die nicht die Verlegung unserer Rechte in Ain und Hochsavoyen an die geographische Grenze Frankreich s, zwecks Sicherung der wirtschaftlichen Einigkeit Frankreichs als notwendige Folge seiner politischen Einheit, vorsieht. 3. Sie möge die Prinzipien einer freundschaftlichen Verständigung auf dem Boden der gerechten Gegenseitigkeit in den Handelsbeziehungen der beiden Länder und ihrer Grenzgebiete festlegen. 4. Sie möge die Modalitäten des künftigen Régimes im Sinne des Wohlwollens und der Versöhnlichkeit zugunsten der Bevölkerung der gegenwärtigen Freizone feststellen, um so in gerechter Weise den Traditionen, Gewohnheiten und Interessen dieser Bevölkerung gerecht zu werden.
Diese Motion mahnt uns ganz besonders zum Aufsehen, da in der Zollkommission des Senates Herr Davidsitzt, der seit langem den französischen Standpunkt mit einer temperamentvollen Hartnäckigkeit ohne gleichen verteidigt, und der persönlich die Bewegung in der Zonenfrage bei den beteiligten Bevölkerungskreisen in Hochsavoyen leitet.2
Abschnitt 2 des Artikels 435 des Friedensvertrages sagt, dass es «Sache Frankreichs und der Schweiz ist, im Wege der Einigung untereinander die Rechtslage dieser Gebiete so zu regeln, wie beide Länder es für zweckmässig erachten».
Unter dem Vorwand, es werde in dem gleichen Artikel erklärt, «dass die Bestimmungen des Vertrages von 1815 und der sonstigen Zusatzakte durch die Verhältnisse überholt sind», stellt sich die Senatskommission kurzerhand auf den Standpunkt, Artikel 435 hebe das Régime von 1815 auf und räume Frankreich unzweideutig das Recht ein, seine Zollgrenze an die politische Grenze hinauszurücken.
Gegen eine solche Auffassung haben wir von Anfang an lebhaft protestiert, und wir zweifeln nicht daran, dass wir mit unserem Standpunkt durchdringen würden, wenn diese ganze Frage vor dem Völkerbundsrat oder der Generalversammlung des Völkerbundes zur Diskussion käme.
Die Motion der französischen Senatskommission lässt uns auch heute nicht aus unserer zurückhaltenden Stellung heraustreten. Wir warten die Aufforderung Frankreichs ab, uns an neuen offiziellen Verhandlungen zu beteiligen. [...]3
Wie Sie bereits aus der Presse erfahren haben, ist am 3. März 1920 der Spinnereidirektor Jost Zweifel4 von Schwanden (Glarus) von einer Arbeiterschar in Neunkirchen (Niederösterreich) schwer misshandelt worden. Den Anlass hiezu bot eine Lohndifferenz des Direktors mit einem Arbeiter, bei der es am 1. März zu Tätlichkeiten zwischen beiden kam.
Durch amtliche Protokolle ist es unzweideutig festgestellt, dass der Arbeiter Herrn Zweifel provozierte und ihn auch zuerst tätlich angriff, und dass die ganze Sache durch die Kommunisten von langer Hand vorbereitet war.
Die Vorfälle in Neunkirchen waren so schwerwiegend, dass unsere Gesandtschaft in Wien das Staatsamt für Äusseres unverzüglich ersuchte, eine sofortige strenge Untersuchung zu veranlassen, die Schuldigen zu verhaften und gegebenenfalls strenge zu bestrafen und sie zur Gutmachung des dem misshandelten Fabrikdirektor zugefügten Schadens heranzuziehen.
Staatskanzler Renner sprach Herrn Minister Bourcart am 5. März persönlich zu Händen des Bundesrates das Bedauern der österreichischen Regierung aus und stellte eine strenge Untersuchung des Vorfalles und ein unerbittliches strafgerichtliches Vorgehen in Aussicht.
Die Versprechungen des Staatskanzlers zeigten sich in der Folge als ganz haltlos. Herr Renner schlug eine Verzögerungstaktik ein, mit der wir uns nicht befriedigt erklären konnten. Seine Rücksichten auf die politische Gärung (in Wahrheit auf seine Wählerschaft und auf seine Partei) und die angeblich geringen Machtmittel der Regierung führten dazu, dass auch nach Monatsfrist die Rädelsführer des schamlosen Attentates sich unbehelligt auf freiem Fuss befanden. Die «amtliche Untersuchung», über die vom W.K.B.5 in tendenziöser Weise gefärbte Berichte in die Presse gelangten, stellte sich als eine inhaltslose Komödie vor, von der ein befriedigendes Resultat nicht erhofft werden konnte.
Diese Sachlage hielt der Bundesrat für unannehmbar, und trotz des Widerstrebens, gegenüber einem Lande, das freundschaftliche Beziehungen mit der Schweiz verbinden, Gegenmassregeln anzuwenden, wurde unsere Gesandtschaft in Wien beauftragt, der österreichischen Regierung mitzuteilen, dass sich die Schweiz von der im Gange befindlichen finanziellen Hilfsaktion für Österreich (siehe unsere Berichte Nr. 1 und 2 vom 16. und 22. März) zurückziehen werde, wenn nicht in kürzester Frist die Hauptschuldigen des Mordanschlages auf Direktor Zweifel festgenommen und den Strafgerichten überwiesen würden. Herr Generaldirektor von Haller hat von uns die Weisung erhalten, sich wohl an den vorbereitenden Besprechungen in Paris zu beteiligen, die ändern Regierungsvertreter indessen auf die veränderte Sachlage aufmerksam zu machen und sie von der bestimmten Absicht des Bundesrates in Kenntnis zu setzen, auf die ursprünglich zugesagte Mitwirkung an der Hilfsaktion zu verzichten, wenn uns nicht ohne weiteren Verzug die verlangte Satisfaktion zuteil würde.
Wir nahmen an, dass die Aussicht, die peinliche Angelegenheit Zweifel und das ganze Verhalten der österreichischen Regierung vor den verschiedenen Regierungsvertretern in Paris zu erörtern und die Möglichkeit eines Rücktrittes der Schweiz von der geplanten Hilfsaktion wie keine andere Massnahme geeignet sein dürfte, die österreichische Regierung zu bestimmen, endlich die Schritte zu tun, die ihr ein ehrliches Rechtsbewusstsein und politische Klugheit längst schon vorschrieben.
In dieser Meinung hatten wir uns nicht getäuscht: am 6. April sind in Neunkirchen endlich Verhaftungen vorgenommen worden. Diese Massregel rief bei den dortigen Arbeitern grosse Erregung hervor. Sie forderten die sofortige Freilassung ihrer Genossen und drohten mit gewaltsamer Befreiung. Eine Arbeiterdeputation begab sich nach Wien. Obschon die Situation als ernst bezeichnet werden muss, ist zu hoffen, die Arbeiterschaft werde zur Einsicht gelangen, dass die Justiz ohne Beeinflussung und ohne Vorurteil ihres Amtes walten muss.
Man wird uns auf jeden Fall von keiner Seite mit dem Vorwurf begegnen können, wir hätten durch eine überstürzte Drohung die Zwangslage der österreichischen Regierung ausgenützt und dadurch voreilig die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Staaten gefährdet. Durch den Gang der Ereignisse steht heute die Tatsache fest, dass wir ohne scharfe Gegenmassregel keine Genugtuung erlangen können.