Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 7-I, doc. 411
volume linkBern 1979
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2300#1000/716#584* | |
Old classification | CH-BAR E 2300(-)1000/716 282 | |
Dossier title | Moskau, Konsularberichte aus Moskau, Jalta, Kiew, Odessa und Tiflis, Band 1 (1917–1922) |
dodis.ch/44156
Heute musste ich Ihnen zu meinem Bedauern schon wieder ein Telegramm per Radio zugehen lassen und zwar hatte dasselbe folgenden Wortlaut:
«Schweizerisches Auswärtiges Amt Bern
Wann fährt der vorgesehene Russentransport ab und auf welchem Wege. Sovjetregierung gestattet Abfahrt des zum sechsundzwanzigsten Mai vorgesehenen vierten Schweizerzuges nur unter der Bedingung, dass die Schweizerregierung bei den Staaten, welche der Russentransport passiert, Schritte zu dessen freier Durchfahrt unternehme, entsprechend der Abmachung zwischen Minister Junod und Volkskommissar Karachan. Mehrzahl der eingeschriebenen Schweizer haben alles verkauft und viele sind aus der Provinz nach Moskau gekommen. Durch Verzögerung des Abfahrtsdatums geraten dieselben in eine hoffnungslose Lage. Erbitten Radioantwort. Comité Schweizerkolonie Moskau», was ich hiemit bestätige. Zur Erklärung obigen Telegramms füge ich Folgendes bei:
Vor 8 Tagen erschien im hiesigen Regierungsanzeiger eine vom neuen Chef der Visa-Abteilung, Genossen Litwinoff, der früher Sovjet Gesandter in London war, Unterzeichnete Anzeige, laut welcher weder den Russen noch den Ausländern die zur Ausreise aus Russland nötigen Visa erteilt werden. Da ich eben einen Teil der für den 4. Schweizerzug geschriebenen Pässe bereit hatte, wollte ich sofort zu Karachan gehen, um ihm dieselben zu übergeben und mich gleichzeitig vergewissern, dass die obenerwähnte Anzeige uns nicht betreffe. K. empfing uns jedoch nicht, da er zu beschäftigt war, und bat mich, meine Wünsche schriftlich einzureichen, was ich auch sofort tat. Später wurde mir dann vom Sekretär Karachans mitgeteilt, dass die Visierung der Pässe nur unter den in meinem heutigen Telegramm erwähnten Bedingungen gestattet werden könne. Ich bestand jedoch auf einer mündlichen Aussprache und wurde dann heute mit Herrn Wehrlin von K. empfangen. Wir führten ihm in erster Linie das Ungerechte seiner Forderung vor Augen und wiederholten, dass die Schweizer Regierung bereits ihre Einwilligung zur Formierung des für die russischen Emigranten bestimmten Zuges gegeben habe; ausserdem gerieten unsere Landsleute, die bereits ihre Habe und Gut verkauft haben, in eine trostlose Lage. K. gab zu, dass ihm bekannt sei, dass die Schweizer Regierung die Russen frei fahren lasse und auch, dass seine heutige Forderung für die zur Abfahrt gerüsteten Schweizer sehr hart sei, aber dies sei der einzige Weg, auf welchem sie durch die Schweiz einen Druck auf die in Frage kommenden Länder ausüben können. Übrigens fügte K. bei, sei er erstaunt bis heute noch nichts in dieser Angelegenheit von Herrn Minister Junod gehört zu haben, der bei seiner Abreise versprochen habe, bei den Regierungen von Finnland, Schweden und Deutschland freie Durchfahrt für die aus der Schweiz zurückkehrenden Russen zu erwirken. Ich erwiderte K., dass mir von dieser Unterredung nichts bekannt sei, da ich derselben nicht beigewohnt habe, doch sei ich davon überzeugt, dass Herr Minister Junod seine Verpflichtungen voll und ganz erfüllt habe, falls er wirklich etwas versprochen habe. Um nun möglichst bald Klarheit in die Lage zu bringen, und da vielleicht inzwischen Herr Minister Junod direkt oder durch Ihre Vermittlung bereits die in dieser Hinsicht nötigen Schritte unternommen hat, beschlossen wir Ihnen obiges Radio zugehen zu lassen, und hoffen bald in den Besitz Ihrer Antwort zu gelangen.
Ich hatte bei unserer heutigen Unterredung den Eindruck, dass K. bedeutend weniger selbstbewusst sei, und führe das einesteils darauf zurück, dass nach der Meinung gut unterrichteter Leute die Lage der Sovjet-Regierung stark erschüttert sei, anderseits Litwinoff einen sehr starken Einfluss im Volkskommissariat gewonnen hat; er ist nämlich seit 14 Tagen Mitglied des Kollegiums. Wie Ihnen wahrscheinlich bekannt, werden die Geschicke Russlands weniger von dem Rate der Volkskommissäre und dem Zentralen Executiv-Comité bestimmt, als von dem Zentral-Comité der kommunistischen Partei. Litwinoff ist ein alter Kämpfer der Partei und hat deshalb einen grossen Einfluss, während Karachan erst seit einigen Jahren zu den Kommunisten gehört.
Ich benütze die Gelegenheit meines heutigen Besuches um K. wegen der Wegnahme unserer Automobile zu interpellieren, die uns am letzten Sonntag mit allen Instrumenten von der «Ausserordentlichen Kommission» weggenommen wurden. K. erwiderte mir, dass die dem Italienischen Generalkonsulat gehörenden Maschinen selbstverständlich confisciert bleiben, während er veranlassen werde, dass die Herrn Suter gehörende Maschine sowie diejenige des Internationalen Roten Kreuzes zurückgegeben werden.
Zu dem Kapitel der Nationalisierungen etc. überreiche ich Ihnen in der Falte die Übersetzung eines Dekretes, welches die Verstaatlichung der den Ausländern gehörenden Waren betrifft. Die Sovjet-Regierung gibt darin zum ersten Mal schwarz auf weiss zu, dass sie gewillt ist, den Ausländern den Wert ihrer Waren zu vergüten, nur darf momentan nichts bar bezahlt werden, sondern alle Zahlungen müssen an das Kommissariat des Handels und der Industrie geleistet werden, welches seinerseits mit den Ausländern nach einem noch zu bestimmenden Modus verrechnen wird. Da das Dekret nur von den Waren spricht, die sich in den Dépôts der Ausländer befinden, und die bereits exproprierten Waren gar nicht erwähnt werden, haben wir sofort an das Volkskommissariat des Auswärtigen geschrieben und um eine diesbezügliche Erklärung gebeten, sind jedoch bis heute noch ohne eine Antwort. Soweit mir gerade erinnerlich sind ausser der Firma Sulzer Frères und de Trey [! Frères bereits alle Schweizer Lager enteignet; Sulzer wurde übrigens vorgestern auch versiegelt.
Die allgemeine Stimmung ist seit ca. 10 Tagen wieder eine sehr gespannte, und alle möglichen Verhaftungen sind wieder an der Tagesordnung. Vor 14 Tagen wurden etwa 300 Polen verhaftet, ein paar Tage darauf verfiel eine grössere Anzahl Finnländer dem gleichen Schicksal; auch Engländer und Franzosen wurden unter Hausarrest gestellt. Heute vor 8 Tagen, Abends um 9 Uhr, wurde bei dem Griechischen Konsul eine Haussuchung gemacht und die Kommissäre der «Ausserordentlichen Kommission» confiscierten alles Geld und die Wertgegenstände, die sie fanden. Der Konsul selbst und sein ganzes Personal wurden verhaftet und erst nach einigen Tagen wieder frei gelassen. Ich erkundigte mich heute im Kommissariat des Auswärtigen nach dem Grund zu dieser Verhaftung und erhielt zur Antwort, dass Herr Kulakies Papiere vom Konsulat ausgestellt habe, welches doch nicht mehr existiere, und deshalb wurde seine Verhaftung beschlossen. Diese Auskunft deckt sich übrigens mit einer Mitteilung, die mir Herr Wehrlin gestern machte, wonach Litwinoff gesagt hat, als ihm ein Brief von der provisorischen Kanzlei der Schweizerischen Gesandtschaft in Petersburg übergeben wurde, dass er von dieser Institution nichts mehr hören wolle; falls ihm noch einmal geschrieben würde, werde er die Betreffenden einstecken lassen.
Soeben las ich in der Zeitung, dass Genosse und Nationalrat Platten von den Finnländern frei gelassen und wieder nach Russland abgeschoben wurde; er ist vor einigen Tagen in Petersburg angekommen. In einem Interview, das in der gleichen Nummer erschienen ist, erklärte Platten, dass er bei der Finnischen Regierung protestiert habe nach Russland abgeschoben zu werden, da er gar nicht wünsche in dieses Land zu fahren, doch wurden seine Reklamationen ohne Beachtung gelassen.
Zum Schluss kann ich Ihnen noch die angenehme Mitteilung machen, dass vor einigen Tagen endlich der uns zugesandte halbe Lebensmittel-Wagen angekommen ist. Ich danke Ihnen auch an dieser Stelle im Namen der Moskauer Schweizer-Kolonie für Ihre Bemühungen in dieser Verproviantierungsfrage und gebe der Hoffnung Ausdruck, dass Sie uns auch weiter in unserer schweren Lage helfen werden. Einen Teil der gesandten Produkte kennen wir nur noch in der Erinnerung und deren Wert wird noch dadurch erhöht, dass sie aus der Heimat kommen.
- 1
- Rapport politique: E 2300 Moskau, Archiv-Nr. 1. Ce rapport est signé de P. Mörikofer.↩