Die politische Entwicklung in Deutschland führt zur Bildung zweier deutscher Staaten. Schwierigkeiten der Westmächte, die deutsche Bevölkerung zur Mitarbeit heranzuziehen. Entschlossenheit der Russen, ihre Zone auf ihre eigene Weise zu organisieren. Präzedenzfall Tschechoslowakei.
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 17, doc. 63
volume linkZürich/Locarno/Genève 1999
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2300#1000/716#131* | |
Old classification | CH-BAR E 2300(-)1000/716 69 | |
Dossier title | Berlin, Politische Berichte und Briefe, Militärberichte, Band 47 (1948–1950) |
dodis.ch/4361
Es geht in Deutschland rasch der Spaltung zwischen Ost und West entgegen. Dieser Eindruck verstärkt sich in Berlin in letzter Zeit zusehends. Im Volke, in deutschen politischen Kreisen und selbst in gewissen Amtsstuben der westalliierten Militärregierungen glaubt man, dass die Entwicklung unaufhaltsam ist und sich sogar über kurz oder lang zur politischen Trennung, das heisst zur Bildung zweier deutscher Regierungen steigern könnte. Die Frankfurter Beschlüsse, die Dreimächte-Konferenz in London, die Fünfer-Besprechungen in Brüssel und die in Paris tagende Konferenz der Marshall-Plan-Länder3 auf der einen Seite, der zunehmende Radikalismus in der Sowjetzone und die neulichen Ereignisse in der Tschechoslowakei4 auf der anderen Seite, sowie die stets heftiger werdenden Auseinandersetzungen und gegenseitigen Anwürfe im Kontrollrat und in der alliierten Kommandantur in Berlin werden als untrügliche Anzeichen für eine nur zeitlich noch nicht festlegbare Preisgabe der Viermächtebesatzung bezeichnet. In der Tat, wenn man die Berliner Tageszeitungen durchblättert, muss man sich fragen, ob die von den Besatzungsbehörden geradezu geförderte Hetze überhaupt noch verschärft werden kann oder der Bruch nicht schon unmittelbar bevorsteht. Beigeheftet finden Sie einige Artikel aus amerikanisch lizensierten und russischen, bzw. kommunistischen Zeitungen über die neuesten Differenzen der Besatzungsmächte in Berlin5. Ein Kommentar ist überflüssig.
Es wird hier in allen deutschen Schichten bezweifelt, ob die Westmächte imstande sind, sich auf eine Politik in Westdeutschland zu einigen, die deutsche Bevölkerung zur Mitarbeit heranzuziehen und überhaupt rechtzeitig zu handeln. Die SED triumphiert über die Unzulänglichkeit der Westalliierten und die antikommunistischen Kreise sind darob bitter enttäuscht. Sie sehen nur zwei Lösungen: einen Krieg, der die Ostzone «befreien» würde oder den Collaborationismus. In der Beilage finden Sie eine Aufzeichnung6, die mir von einem Bekannten, einem typischen Vertreter des ehemaligen Berliner Grossbürgertums, übergeben wurde. Sie zeugt nicht von grossem politischem Scharfsinn, ist aber für die derzeitige Geisteshaltung aller jener Kreise bezeichnend, die den Kommunismus zwar ablehnen, ihn aber immer mehr erleben.
Es ist nicht zu leugnen, dass die kommunistischen Machthaber der Sowjetzone immer rücksichtsloser vorgehen. Ein Ihnen bekannter deutscher Politiker7 – seinen Namen brauche ich nicht zu nennen – der zwischen Ost und West steht und aus achtbaren Überlegungen immer noch vermeiden möchte sich festzulegen, sagte mir vor wenigen Tagen gestützt auf seine jüngsten sicheren Beobachtungen und auf seine gute Kenntnis der hiesigen Verhältnisse, dass die Russen entschlossen seien, in der Ostzone aufs Ganze zu gehen. Politisch zeichnet sich folgende Entwicklung ab: Nachdem die Liberaldemokratische Partei und die Christlich demokratische Union der Ostzone ihre Teilnahme am Volkskongress8 zugesagt haben, ist die Voraussetzung dafür geschaffen, diese Bewegung zur Volkspartei zu gestalten, d. h. zur Einheitspartei unter kommunistischer Vor- und später Alleinherrschaft. Aus der Volkspartei werden alsdann ein Volksrat gebildet und aus diesem ein Ausschuss gewählt werden, d. h. ein Parlament und eine Regierung. Diese Regierung, deren Sitz in Berlin sein wird, wird sich in der Folge als Reichsregierung ausgeben; Berlin wird wieder Reichshauptstadt werden. Selbstverständlich wird vorher der Kontrollrat aufgelöst und werden die Westalliierten veranlasst werden, Berlin zu verlassen.
Nicht minder radikal wird die wirtschaftliche Entwicklung beurteilt. Ein vor kurzem aus der SED ausgeschlossener und aus der Landesverwaltung Sachsens ausgebooteter kommunistischer Ministerialdirektor9, den ich seit längerer Zeit kenne, erklärte mir unlängst, dass bereits erwogen werde, in Sachsen und auch in den anderen Ländern der Ostzone dem tschechoslowakischen Beispiele folgend alle industriellen Betriebe, die mehr als 50 Arbeiter beschäftigen, zu nationalisieren und die Bodenreform zu erweitern, indem die Höchstgrenze des landwirtschaftlichen Grundbesitzes von 100 auf 50 ha. herabgesetzt würde.
Es mag sein, dass der Umsturz in der benachbarten Tschechoslowakei zu Übertreibungen, zu unberechtigtem Optimismus bei den Kommunisten und zu unnötigem Pessimismus bei ihren Gegnern und der grossen Masse verleitet. Es ist wohl möglich, dass sowohl die politische wie auch die wirtschaftliche Entwicklung noch manche Schwankungen erfahren werden und dass nichts überstürzt werden soll. Richtung und Ziel sind dennoch vorgezeigt. Bei gleichbleibender internationaler Lage kann sich nur der zeitliche Ablauf verzögern. Die deutsche Bevölkerung in der Sowjetzone hat die Mahnung der Tschechoslowakei gehört. Wenn sie trotzdem kapitulieren sollte, so wird sie diesmal nur eine kleine Schuld tragen, da sie nicht Herr im Lande ist.
Wie stellen sich die westlichen Besatzungsmächte zur Sowjetisierung der Ostzone? Die Antwort auf diese Frage kann nur in Washington, London und Paris gegeben werden. In den hiesigen westalliierten Kreisen herrscht bis weit hinauf Verwirrung. Vielfach wird die Auffassung vertreten, dass die Preisgabe der Ostzone eine geringeres Übel sei als das Fortbestehen des bisherigen Chaos oder gar als ein Krieg. Man ist mehr und mehr resigniert. Selbst General Clay soll einem Kollegen eines mir bekannten Journalisten10 gesagt haben, er wisse nicht, ob Berlin letztlich gehalten werde, da Washington sich noch nicht festgelegt habe. Das Rätselraten um die Auflösung des Kontrollrates und den Abzug der Westalliierten aus Berlin hat allenthalben wieder eingesetzt. Im günstigsten Falle glaubt man, der Kontrollrat werde das Jahr 1948 nicht überdauern. Viele meinen, die Krise werde sogar viel früher ausbrechen. Es ist wohl müssig, über Termine zu diskutieren; beachtlich ist aber, dass man sich überhaupt mit einer Auflösung des Kontrollrates schon fast abgefunden zu haben scheint.
- 1
- F. de Diesbach war am 24. August 1945 vom BR zum «Delegierten für die Heimschaffung von Schweizerbürgern» ernannt worden. In dieser Funktion leitete er die schweizerische Heimschaffungsdelegation in Berlin vgl. DDS, Bd. 16, Dok. 62, dodis.ch/1697.↩
- 2
- Rapport politique: E 2300 Berlin/47.↩
- 3
- Zur Frage des Marshallplans und der OECE vgl. Thematisches Verzeichnis in diesem Band: Allgemeine Finanzbeziehungen und Die Schweiz und Europa / Marshallplan sowie Nrn. 6, 10, 26 und 29 in diesem Band.↩
- 4
- Vgl. die politischen Berichte von A. Girardet an M. Petitpierre vom 2. und 11. März 1948, E 2300 Prag/7 (dodis.ch/4482, 4483), sowie DDS, Bd. 17, Dok. 71, dodis.ch/4440.↩
- 5
- Nicht abgedruckt.↩
- 6
- Nicht abgedruckt.↩
- 7
- Eventuell handelt es sich hier um den CDU-Politiker Jakob Kaiser.↩
- 8
- Vgl. hierzu den politischen Bericht von F. de Diesbach an A. Zehnder vom 27. Februar 1948. Nicht abgedruckt.↩
- 9
- Diese Person konnte nicht identifiziert werden.↩
- 10
- Diese Person konnte nicht identifiziert werden.↩
Relations to other documents
http://dodis.ch/4361 | cf. | http://dodis.ch/10353 |
Tags
Germany (USSR zone) Organisation for Economic Co-operation and Development (OEEC–OECD)