Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 6, doc. 121
volume linkBern 1981
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E27#1000/721#13555* | |
Old classification | CH-BAR E 27(-)1000/721 2806 | |
Dossier title | Massnahmen an der Südgrenze beim Kriegseintritt Italiens, Mai 1915 (1915–1916) | |
File reference archive | 06.H.3.e.1 |
dodis.ch/43396
Le Chef de l’Etat-Major Général de l'Armée suisse, Th. von Sprecher, au Général, U. Wille1
Alle Nachrichten weisen darauf hin, dass die Entscheidung betreffend die Haltung Italiens unmittelbar bevorsteht und dass sie sehr wahrscheinlich im Sinne eines Eingreifens gegen Österreich fallen wird. Heute morgen aus Kreisen der deutschen Regierung an H. St. gelangte Berichte besagen, Italien habe an Österreich so weit gehende Forderungen gestellt, dass eine Verständigung darüber ausgeschlossen erscheine. Auch habe die deutsche oberste Heeresleitung erklärt, sie sei für den Krieg gegen Italien bereit.
Die italienischen Truppenbewegungen an der Grenze nehmen ihren Fortgang, und zwar erfolgen die Transporte vielfach bei Nacht. In Val Cuvio und Gavirate steht eine Inf. Brigade mit Kavallerie; in Gregend Gallarate-Aron a sind 4 Art. Regimenter gemeldet, ferner eine Inf. Brigade aus Sizilien; in der Gegend Varese-Como-Mailand 4 neuformierte Inf. Regimenter l.er Linie (Nr. 153-159), bei Como 1 Geb. Art. Abt. Die Geschütze der vorbereiteten Stellungen südlich der Tresa, bei Como, am Sighignola und bei Fuentes sind in der Nähe der Stellungen magaziniert; zahlreiche Munitionstransporte werden gemeldet. Nach dem Veltlin wurde Reg. 67 mit Gebirgsausrüstung transportiert; Alpini mit Geb. Artillerie befinden sich seit langem dort. Vom 1. A. K. sind keinerlei Transporte nach Osten gemeldet; das Korps steht mit zahlreichen Neuformationen an unserer Südgrenze. Eisenbahnen: der Zivil-Güterverkehr über den Brenner und nach dem Veneto ist unterbrochen, die Bahnen sind auch südlich des Pos bewacht.
Aus Bankkreisen kommen stetsfort Nachrichten über Abreise deutscher und deutschsprechender Geschäftsleute aus Italien. Die Lage auch der seit Jahrzehnten in Italien ansässigen deutschsprechenden Ausländer wird, in den Städten namentlich, immer unleidlicher.
Die Journalisten aus Deutschland und Österreich haben auf Anraten Fürst Bülows und Macchios bis auf einige wenige Rom verlassen; nach der Ihnen bekannten Depesche Barth soll der letzte deutsche Journalist mit dem deutschen Gesandten beim Vatikan, Mühleberg, abreisen.
Der italienische Militârattaché in Deutschland, Oberst Bongiovanni, ist nach gestern eingetroffener Meldung aus dem deutschen Hauptquartier nach Berlin zur Gesandtschaft eingerückt.
Italien hat seit Kriegsbeginn gerüstet und seit Monaten wird die Armee mobilisiert; immer neue Jahrgänge, auch solche höhern Alters werden einberufen; grosse Pferde- und Automobil-Requisitionen sind in den letzten Tagen in der Lombardei vor sich gegangen. Es kann kein Zweifel darüber herrschen, dass die italienische Armee nahezu schlagfertig bereitsteht. Damit ist eine Situation gegeben,
die für uns gefährlicher ist als die, welche für uns durch die Mobilmachungsbeschlüsse der Grossmächte um den 1. August herum geschaffen wurde. Unsere zum Schutze von Bellinzona und der Gotthardbahn errichteten Werke sind noch nicht vollständig bereit und bedürfen auch ohnedies starker äusserer Reserven,
um gegen einen Überfall von Süden gehalten werden zu können. Bellinzona aber einmal gefallen und in Händen einer Grossmacht ist für uns beinah unwiederbringlich verloren.
Von unsern Truppen stehen z. Z., abgesehen von den in den Werken festliegenden Geschützen und Maschinengewehren, die folgenden in und um Bellinzona:
Inf. Br. 23, ohne Reg. 46, und Rdf. 23
Sap. Bat. 21, 23, 24
bewegl. Festungs-Art., Haub. Battr. 1/4, 7,5 cm. Battr. II/7
Festungsmitr. Kp. 1 und 5
Festungspion. Kp. 3.
Eine Truppenzahl, die für den Wacht- und den Armierungsdienst nur notdürftig genügt und keinerlei Gefechtskraft aufweist. Die schwerbedrohte Ostflanke von
Bellinzona ist sogar ohne jede Sicherheitswache.
Es mag ja sein, dass die italienische Regierung nichts gegen die Schweiz im
Schilde führt; eine Regierung aber, die sowenig Macht über die Geister des
Landes bewiesen hat und die anscheinend vor dem schamlosesten Treubruch nicht zurückschreckt, verdient kein Vertrauen und kann nicht beanspruchen, dass wir für unsre Sicherheit allein auf ihr Wort bauen. Auch Frankreich und
Deutschland haben uns zurzeit ihres Wohlwollens und der Achtung unserer
Neutralität versichert und dennoch war alles einig, die ganze Armee aufzubieten.
Niemand aber leistet uns Gewähr dafür, dass nicht der Gedanke der italienischen
Irredenta, wenn er seine Befriedigung im Osten nicht findet, sich gegen Norden wendet, um wenigstens ein Opfer zu erhaschen. Jetzt wo Europa bis auf den
Grund aufgewühlt und alles Bestehende in Frage gestellt ist, kann Italien sehr wohl auf den Gedanken kommen, den Augenblick zu benutzen, um seine
«berechtigten nationalen Wünsche» (aspirazioni) zu erfüllen, annehmend, es habe jeder genug mit sich selbst zu tun und niemand werde einen Finger für uns
rühren. Und wenn auch die Regierung keine solchen Absichten hat, die
Volksstimmung, der sie längst die Zügel hat schiessen lasse, wird sich um ihre diplomatischen Bedenken und freundschaftlichen Versicherungen nicht kümmern und ins Werk setzen, was sie gelüstet. Ich komme also zu dem Schlüsse, dass wir ohne Rücksicht auf diplomatische Erklärungen, ohne Verzug das vorkehren
müssen, was für die Sicherstellung unserer südlichen Gebiete gegen italienische
Unternehmungen zunächst notwendig ist und das ist m. E. das Folgende und zwar sollte der Beschluss des Aufgebotes vom Bundesrate noch heute gefasst werden:
1. Transport der 2.Div., ohne kombinierte Brigade 5, nach dem Tessin, sofort auszuführen.
2. Aufgebot der Geb. Brig. 15 mit ihren Spezialwaffen.
3. Einrücken von Korpsstab 3 am 8. d.M. statt am 10.
4. Aufgebot der 1.Division (die am längsten a.D. war).
5. Aufgebot des Bat. 36 (Simplon-Schutz).
6. Aufgebot des Landw. Reg. 46 (der Brig. 23).
7. Aufgebot folgender kleinerer Einheiten: Etappen-Bat. 101 und 105. Kav. Mitr. Kp. 1 und 3. Ballon-Pi. Kp. 2 Bäcker-Kompn.
l.Mob. Tag für alle aufzubietenden Truppen 10. Mai.. Für die l.Div. wird der Transport nach dem Tessin vorbereitet. Der Rest der 5. Division (2 Brigaden etc.) bleibt einstweilen auf Pikett, bereit, nach Süden oder Westen abtransportiert zu werden. In letzterem Falle wird ihr die Brigade 5 statt der Brig. 15 zugeteilt. Unterstellung der Brig. 15 unter 2.Div. oder direkt unter Kdo. 3. A. K. Vorbehalten.
Für Graubünden schlage ich einstweilen, abgesehen von Zerstörungsvorbereitungen, keine weitern Massregeln vor indem die 16. und 17. Brigaden von Ende nächster Woche an zur Verstärkung der S.O. Front verfügbar sein werden; ein Vorrücken des Mob. Tages ist nicht mehr möglich.
P.S. Am Gotthard und dessen Hauptzufahrten ist die Bewachung sofort zu ergänzen; ebenso sind einige Hauptobjekte der Rh.B. wieder zu bewachen.
- 1
- (Copie): E 27, Archiv-Nr. 13555. M Schutz der Südfront.↩