Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
IX. LANDESVERSORGUNG
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 5, doc. 408
volume linkBern 1983
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E27#1000/721#3822* | |
Old classification | CH-BAR E 27(-)1000/721 648 | |
Dossier title | Versorgung der Armee mit Lebensmitteln und Fourage (1850–1950) | |
File reference archive | 03.C.7.b |
dodis.ch/43263
BERICHT ÜBER DIE HAFEN VERHÄLTNISSE IN GENUA1
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Unter den Geschäftsleuten der Getreidebranche steht Genua nicht in gutem Rufe, wer anders kann, leitet sein Getreide nicht über Genua, sondern über die Rheinroute, allenfalls via Marseille und Genf in die Schweiz. Ich erinnere daran, wie es besonderer Schritte bedurfte, um bei den letzten Weizenankäufen einige Partien Russweizen ab Schwarzmeerhäfen via Genua statt via Marseille in die Schweiz disponieren zu können. Die Bevorzugung der Rhein- und Rhoneroute geschieht aber nicht etwa einzig der günstigeren Frachten wegen (: ab Marseille und Genua besteht übrigens Frachtparität für Schweizerstationen der Centralund Ostschweiz:) sondern auch aus Gründen lokaler Natur. Jeder Geschäftsmann weiss, dass er bei Instradierung über Genua allerlei Widerwärtigkeiten ausgesetzt ist: Streik und Wagenmangel sind gerade in Zeiten des grossen Verkehrs auf der Tagesordnung und zufolge rückständiger Ausladeverhältnisse und ungenügender Anlagen für den Abtransport der Bahnwagen treten häufig Verzögerungen ein.
[...]
Nun ist ganz sicher, dass bei einer Mobilmachung die oberitalienischen Häfen, allen voran Genua, in ganz ausserordentlicher, noch nie gesehener Weise belastet sein werden. Die gewaltig entwickelte Industrie in Oberitalien wird in Eile die Betriebsbedürfnisse aller Art zu decken suchen, vor allem Kohlen und Rohmaterial heranschaffen; der Handel wird Getreide (: Mais, Weizen und Hafer:) und andere unentbehrliche Massenartikel in Mengen zuführen. Ist aber Genua durch den Inlandverkehr in solchem Masse in Anspruch genommen, so wird die Hafen Verwaltung die Auslandabfertigung, zumal in Kriegszeiten, ganz einfach zurückstellen.
Aus diesen Erwägungen und Verhältnissen komme ich zur Überzeugung, dass bei einer Kriegsmobilmachung die Transporte ab Genua nach der Schweiz für Wochen, vielleicht für Monate vollständig gestoppt werden, wenn nicht schon in Friedenszeiten eine verbindliche Vereinbarung mit der Hafenbehörde und mit der Bahngesellschaft abgeschlossen werden kann, welche die Transporte nach der Schweiz wenigstens in gewissen Grenzen zulässt. Ist eine solche Vereinbarung nicht möglich, so würde ich bei einer Mobilmachung gar nicht wagen, eilige Transporte z. B. Getreide nach Genua zu leiten.
Als zweiter oberitalienischer Hafen kommt für uns Venedigin Betracht. Tatsächlich wird auch hie und da Getreide via Venedig in die Schweiz eingeführt. Wie die Hafenverhältnisse und die Leistungsfähigkeit in Venedig sind, ist mir nicht bekannt.
In Friedenszeiten hat der Hafen von Triestfür uns keine Bedeutung. Aus politischen oder verkehrstechnischen Gründen kann dagegen bei einer Mobilmachung auch Triest wichtig werden. Von hier aus würden die Transporte unter Umgehung von Italien über den Brenner und Arlberg in die Schweiz geleitet werden können. Auch die Triester Hafenanlagen sind mir nicht bekannt.
Als weiterer Mittelmeerhafen spielt Marseilleeine grosse Rolle. Die Ausladeund Abtransportverhältnisse sind denen von Genua weit überlegen, immerhin ist auch auf diesem Platze bei einer Mobilmachung mit grosser Belastung für den Inlandbedarf (: Eingang und Ausgang:) zu rechnen.
An Nordseehäfen kommen für uns Rotterdamund Antwerpenin Betracht. Hier bestehen aber ganz andere Verhältnisse als in den Mittelmeerhäfen; das Getreide wird nicht wie dort bei Auslad aus dem Seedampfer in Säcke gefasst und auf Bahnwagen umgeschlagen, sondern das Getreide geht lose aus Seedampfer auf Rheinkähne, kommt den Rhein hinauf bis Mannheim oder Antwerpen[sic] (: neuestens auch nach Basel:) und wird erst hier in Säcke gefasst und auf Eisenbahnwagen umgeladen. Ab Mittelmeerhäfen haben wir ausschliesslich mit Bahntransporten und ab den Nordseehäfen mit gebrochenen Transporten, erst mit Wasser- und dann (: ab Mannheim-Strassburg:) mit Bahntransporten zu rechnen. Scheut man die hohen Frachten nicht, so kann man auch ab Antwerpen und Rotterdam per Bahn spedieren. Bis Mannheim gehen die Rheinkähne in der Regel das ganze Jahr ohne Unterbruch, wogegen die Wasserfahrt nach Strassburg bei ungünstigem Wasserstande eingestellt werden muss. In regenarmen Jahren kann die Unterbrechung einige Wochen dauern, es ist hingegen auch schon vorgekommen, dass das ganze Jahr hindurch bis Strassburg geschleppt werden konnte.
Die Wassertransporte werden von zahlreichen privaten Speditions- und Transportgesellschaften ausgeführt, die über eine grosse Rheinflottille und in der Regel auch über grosse Lagerhäuser in Mannheim - Ludwigshafen und Strassburg - Kehl verfügen.
Bei der riesigen Leistungsfähigkeit der Rheinanlagen gehen in Friedenszeiten auch bei grossem Verkehrsandrange die Transporte in der Regel glatt von statten. Im Kriege werden auch hier die Verhältnisse für uns schwieriger werden. Die Kriegslage mag sein wie sie will, so wird der Rhein als Transportroute eine grosse Rolle spielen sowohl für die Zivil- wie für die Armeetransporte. Als ich im Januar 1913 in Strassburg war, konnte ich mich überzeugen, dass die deutsche Heeresintendantur mit den Lagerhaus- und Transportgesellschaften in Unterhandlung stund behufs Bereithaltung von Rheinkähnen für den Fall einer Mobilmachung. Wir haben sicher damit zu rechnen, dass die Militärintendantur einen Teil der Rheintransportmittel für sich in Anspruch nehmen wird und da in den ersten Wochen einer Mobilmachung ein ungeheurer Verkehrsandrang für den Inlandbedarf sich einstellen wird, müssen wir darauf gefasst sein, auch diese Route für den Transitverkehr längere Zeit geschlossen zu sehen. Ich füge gleich bei, dass seitens der Militärintendantur nicht nur die Transportmittel, sondern auch die Waren scharf im Auge behalten werden. Jedes Jahr werden Erhebungen gemacht über die Vorräte aller Art in den grossen Lagerhäusern am Rheine, offenkundig in der Absicht, im Kriege diese Lager nach Kriegsrecht mit Beschlag zu belegen. Das gleiche Schicksal wird im Kriege der transitierenden Ware beschieden sein, wenn nicht besondere Abmachungen mit Deutschland ungehinderten Durchgang gestatten.
Wir stehen daher bei Ausbruch eines allgemeinen Krieges nach allen Richtungen vor grossen Schwierigkeiten: Wir können an den Hafenplätzen nicht ausladen. Es fehlt an Transportmitteln. Die transitierende Ware verfällt der Requisition.
Trotz alledem werden bei Krieg und Kriegsgefahr der Staat und der Privathandel sofort Getreide kaufen müssen. Da handelt es sich zunächst darum, schlüssig zu werden, nach welchem europäischen Hafen die Waren zu disponieren sind, dann sind Massnahmen zu ergreifen, um die erwähnten Schwierigkeiten zu heben. Hiermit darf aber nicht bis zum letzten Momente zugewartet werden, es bliebe keine Zeit und man fände wenig Entgegenkommen für solche Verhandlungen.
Ich empfehle daher jetzt schon folgende Massnahmen.
1.) Über die Leistungsfähigkeit (: Auslade- und Abtransportverhältnisse:) aller europäischen Häfen, die für uns in Betracht kommen, sind Informationen einzuziehen und diese Informationen sind auf dem Laufenden zu erhalten. Hierfür sollte an jedem Hafenplatze eine Vertrauensperson zur Verfügung stehen. Dies sind meines Erachtens die Konsuln, mit denen, durch Vermittlung des politischen Departements, in Verkehr zu treten wäre.
2.) Die Konsuln haben mit den Hafenbehörden und Transportgesellschaften in Verbindung zu stehen und für ungehinderten Auslad des für die Schweiz bestimmten Getreides zu wirken; sie hätten für Transportmittel zu sorgen (: Kähne auf dem Rheine, Leerwagen für Eisenbahntransport:) allenfalls wäre schon jetzt, auf jeden Fall bei Kriegsgefahr mit Transportgesellschaften eine Vereinbarung zu treffen.
3.) Die Bundesbahnen haben Vorbereitungen zu treffen, um bei Bedarf sofort Leerwagen an die Ausladehäfen zu disponieren.
4.) Die Gesandtschaften haben bei den betreffenden Staaten die Zusicherung des ungehinderten Durchgangsverkehrs für das nach der Schweiz bestimmte Getreide zu erwirken, allenfalls unter der Bedingung, dass wir unser eigenes Transportmaterial stellen.
Bei meinem Besuche in Genua habe ich diese Fragen mit dem Schweizerkonsul, Herrn Salvadé, vertraulich besprochen; er hält ein solches Vorgehen für zweckmässig und ist bereit, nach Möglichkeit mitzuwirken.
Im Anschlüsse an die kürzlichen Besprechungen mit dem Chef der Generalstabsabteilung, werde ich demnächst Bericht erstatten über den überseeischen Ankauf und die Verschiffung von Getreide im Falle einer Mobilmachung und über die vorbereitenden Massnahmen.
- 1
- E 27, Archiv-Nr. 3822. Autor dieses Berichtes ist O. Zuber, Chef des Verpflegungs- und Magazinbüros des Oberkriegskommissariates. Th. von Sprecher übersandte diesen Bericht am 9. Mai 1914 dem Militärdepartement.↩