Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
IX. LANDESVERSORGUNG
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 5, doc. 242
volume linkBern 1983
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E27#1000/721#16859-2* | |
Old classification | CH-BAR E 27(-)1000/721 3994 | |
Dossier title | Altdorf (1907–1945) | |
File reference archive | 08.C.1.b |
dodis.ch/43097
[...]3
Völkerrechtliches und Geschichtliches
Alle bisher zwischen den Staaten gepflogenen Unterhandlungen haben nicht dazu geführt, den Begriff der «Kriegsmittel» resp. der «Kriegskontrebande» festzustellen. Man muss immer noch mit der englischen Auffassung rechnen, dass jeder kriegsführende Staat befugt sei, bei Kriegsausbruch zu erklären, was er als Kriegsmittel betrachtet und demgemäss dem freien Verkehr entziehen bezw. als Prise mit Beschlag belegen könne. Soweit aber bezügliche amtliche Erklärungen nicht erlassen wurden, erklärt England, liege es in der Kompetenz der Prisengerichte, in jedem Fall zu entscheiden, ob eine Ladung Kriegskontrebande sei oder nicht. Moseley lässt aber auch darüber keinen Zweifel, dass England alle Lebensmittel, die für feindliche Armeen oder Flotten bestimmt sind, als Konterbande betrachtet.
Andererseits ist allerdings der Satz angenommen, wenn auch nicht kodifiziert, dass der Begriff Kriegskonterbande nur auf Waren anzuwenden sei, die für die Kriegsparteien selbst, und nicht auf solche die für Neutrale bestimmt sind. Der Wert dieser Einschränkung fällt aber dahin, wenn man den folgenden Moseley’schen Satz in’s Auge fasst, in dem jeder Unterschied zwischen Kriegsführenden und Nichtkriegführenden verschwunden ist4:
«Tous les articles, de quelque sortes qu’ils soient, susceptibles d’être appropriés aux usages de la guerre, peuvent être saisis moyennant remboursement de leur valeur.»
Der Satz ist ein natürlicherAusfluss des im Kriege bestehenden unbeschränkten Requisitionsrechtes gegen volle Entschädigung.
In der Praxis würde dieser Satz allerdings selbst von England nicht in seiner vollen brutalen Tragweite angewendet; so gestattete es, trotz der Möglichkeit dagegen einzuschreiten, dass während des Boerenkrieges Lebensmittel in die neutralen portugiesischen Häfen (Delagoa etc.) gebracht wurden, obschon es zum mindesten zweifelhaft war, ob die Ware für die portugiesische Kolonie oder für Englands Gegner bestimmt war.
Auf Grund einlässlicher Prüfung gelangt schliesslich Wiegner5 (S. 216), trotz des von England eingenommenen Standpunktes, zu dem Schlüsse: «Es ist demnach für das heutige Völkerrecht die Frage: ‹sind Lebensmittel Kriegskonterbande › in dieser Allgemeinheit gestellt, in Theorie und Praxis verneinend beantwortet, schon aus dem Humanitätsgrunde, dass es eben eine durch nichts zu rechtfertigende, grausam harte Massregel wäre, einem ganzen Volke die Nahrungszufuhr abzuschneiden.» «Sie sind aber Kriegskonterbande, wenn ihre Zufuhr einem rein militärischen Zwecke dient...» (Verproviantierung der Armee oder einer Festung etc.).
Für die Brotversorgung unseres Landes im Kriegsfälle spielt der Begriff der Kriegskonterbande natürlich nur dann eine Rolle, wenn wir selbst Kriegspartei sind. Da wir aber in diesem Falle aller Wahrscheinlichkeit nach niemals allein stehen, sondern voraussichtlich wenigstens einen der vier Nachbarn auf unserer Seite haben werden, so wird unsere Zufuhr zum mindesten von dieser Seite her nicht bedroht werden; ja ein allfälliger Alliierter hat im Gegenteil allen Grund unsere Brotversorgung nicht zu erschweren, sondern zu fördern.
Viel bedenklicher als Theorie und Praxis der Kriegskonterbande könnten für uns im Kriegsfälle die Ausfuhrverbote und ganz besonders die Transportverhältnisse der Nachbarstaaten werden und zwar sowohl wenn wir selbst Krieg führen, als wenn wir nur neutraler Zuschauer sind.
[...]
Zunächst muss ich die Überzeugung aussprechen, dass bei den Beziehungen der Grossmächte wie sie jetzt und auf absehbare Zeit bestehen, es nicht denkbar ist, dass eine oder mehrere Grossmächte uns zu einem Kriege zwingen könnten, ohne dass wenigstens eine andere Grossmacht sich auf unsere Seiten stellte oder doch als wohlwollend Neutraler sich zu uns verhielte. Setzen wir einmal den schlimmsten Fall, den eines allgemeinen europäischen Krieges, in dem wir genötigt würden für eine Seite Partei zu ergreifen. Wie stände es dann um unsere Brotversorgung?
Unsere Vorräte reichen schlimmstenfalls für 1 Monat aus; wahrscheinlich aber ist, dass bei Trübung der internationalen Lage, der Getreidehandel die Zufuhren in den Tagen vor der Mobilmachung gesteigert und damit unsere Situation verbessert haben wird. An weitere Zufuhren von Belang kann vorerst nicht gedacht werden, denn sowohl Frankreich und Italien, als Deutschland und Österreich werden zu diesen Zeiten über Bahnen und Rohmaterial anders verfügt haben. Wenn im Jahre 1870 unsere Getreide-Einfuhr noch anwuchs, so dürfen wir darauf im angenommenen Falle aus den oben angeführten Gründen nicht mehr rechnen; immerhin ist als sicher anzunehmen, dass die Partei, an deren Seite wir uns stellen müssen, uns die Zufuhr, mit unserem eigenen Rohmaterial wonötig, sei es von Genua, von Marseille, von Mannheim oder von Wien her bei unbedingtem Bedarfe nicht verwehren wird. Ausfuhrverbote sind freilich von allen unsern Nachbarstaaten zu erwarten, doch jedenfalls nicht mit Wirkung gegen den Alliierten und nicht mit Bezug auf den Transit von Egypten, Argentinien, Nordamerika, Russland, Rumänien etc. soweit er durch das Gebiet des Verbündeten geht. Die Hauptausfuhrländer werden sich hüten, Ausfuhrverbote für Getreide zu erlassen, sie bezwecken denn damit einen Nutzen für die eigene Kriegslage. Vor allem ist dies bei Egypten, Argentinien, Nordamerika vollständig ausgeschlossen. Wollte aber England zur See die Zufuhr von Nordamerika unterbinden, so wäre ihm der Krieg mit den Ver. Staaten gewiss, und uns bliebe die rumänische und ungarische Zufuhr noch offen.
Die Schwierigkeit wird sich meines Erachtens auf die ersten Wochen beschränken. Haben wir aber mobil gemacht und stehen auf der Grenzwacht als Zuschauer, so müssten wir diplomatisch doch sehr schlecht bedient sein, wenn es uns nicht gelänge, unser tägliches Brot hereinzubekommen. Der eine oder andere Nachbar hätte auch dann unter allen Umständen ein Interesse daran, dass wir schlagfertig auf seiner Flanke stehen, wenn uns selbst dabei nur das eigene Interesse leiten würde.
Auch in diesem Falle werden die Schwierigkeiten sich namentlich in den ersten Wochen zeigen, während welcher, auch ohne irgend ein Übelwollen Seitens der Nachbarn, die Zufuhr nach unserm Lande infolge der Mobilmachungs- und Aufmarschtransporte sehr eingeschränkt oder gar unterbrochen sein dürfte. Die kritische Periode wird im einen wie im ändern Falle etwa in der 3. bis 4. Woche nach der Mobilmachung, wenn solche in eine Zeit geringer Vorräte fällt, zu erwarten sein. Für 4 Wochen sind wir zwar unter allen Umständen versorgt; je mehr aber die sichere Aussicht auf die Ergänzung der Vorräte schwindet, um so höher werden die Preise steigen und daraus allein schon müsste der Bevölkerung und dem Staate grosser Nachteil erwachsen; an Hungersnot braucht man dabei noch gar nicht zu denken.
Der im Lande liegende Minimal-Vorrat von einem Monatsbedarf genügt also auf keinen Fall und es ist mehr als je, bei den veränderten heutigen europäischen Verhältnissen des Getreide-Baues und Brotbedarfes, eine Pflicht des Staates auf rasche Abhülfe zu denken, ganz abgesehen von den momentanen Schwierigkeiten des Mühlengewerbes.
Wir bedürfen mindestens eines unbedingt sichern steten Vorrates an Brotgetreide für 2 Monate, um über die Schwierigkeiten der ersten Zeit nach der Mobilmachung hinwegzukommen; sollen wir aber mit Ruhe allen Ereignissen entgegensehen können und unter allen Umständen einer Beunruhigung des Volkes Vorbeugen, wie die Befürchtung einer Brot-Teuerung sie hervorruft, so muss das Minimum der Vorräte für 3 Monate oder besser 100 Tage ausreichen.