dodis.ch/43054
Die schweizerische Delegation an der zweiten Haager Friedenskonferenz an den Bundespräsidenten und Vorsteher des Politischen Departementes,
E. Müller1
Scheveningen, 6. Oktober 1907
Gestern hielt die I. Kommission zwei Plenarsitzungen ab und erledigte in diesen die Generaldebatte über die obligatorischen Schiedsgerichte. Es sprachen für die Statuierung einer allgemeinen Verpflichtung zur schiedsrichterlichen Entscheidung in der Convention und insbesondere für die Einführung eines Obligatoriums ohne Reserven für gewisse Materien folgende Delegationen: Portugal (zwei Mal), Argentinien, Frankreich (Renault und Bourgeois), Vereinigte Staaten, Serbien, Grossbritannien, Persien, Russland, Dänemark und Japan, letzteres allerdings sehr reserviert. Dagegen sprachen Rumänien, Deutschland, Belgien, Griechenland und Österreich. China ist grundsätzlich für einen Weltschiedsvertrag, protestiert aber gegen die Vorlage, weil sie die Exterritorialitätsverträge ausschliesst (Art. 161).
Unsere Delegation, in Gemässheit Ihrer Instruktionen, erklärte keine bedingungslose Schiedsgerichtsbarkeit annehmen zu können, sie wiederholte aber, dass sie einem Vermittlungsstandpunkt geneigt sei, wonach die Majorität in den Stand gesetzt werden soll ihren Wunsch zu verwirklichen, ohne dabei die Staaten, die keine bedingungslose Schiedsgerichtsbarkeit annehmen, zu irgendetwas zu verpflichten. Der Text unserer Deklaration ist diesem Berichte beigelegt2.
Die beiden wichtigsten und sachlichsten Reden pro und contra waren diejenigen von Marschall und Renault. Ersterer stellte sich auf den Standpunkt, dass heute die Entscheidung zu treffen sei, ob das Schiedsgerichtswesen durch das erprobte, noch erheblich zu verbessernde System der particulären Vertragsschliessung oder aber durch einen Weltschiedsvertrag zu fördern sei. Deutschland gebe dem ersteren den Vorzug. Renault suchte die gegen den Weltschiedsgerichtsvertrag erhobenen juristischen Gründe zu entkräftigen, wobei hauptsächlieh zwei Gedanken vorherrschten: einmal sind die wegen der Wirkung auf die innern staatlichen Verhältnisse (Kollision mit der legislativen und rechtsprechenden Gewalt) erhobenen Einwände in gleicherweise für die schon bestehenden Schiedsgerichtsverträge zutreffend u. sodann würde der Weltschiedsgerichsvertrag, der fast ausschliesslich auf die Auslegung von Staatsverträgen anwendbar sein würde, deshalb keine Geltung gegenüber ganz beliebigen Staaten haben, weil er sich nur auf solche bezöge, denen man bereits durch den Abschluss von Verträgen ein gewisses Zutrauen entgegengebracht hat.
Nach Abschluss der Generaldebatte wurde mit der Abstimmung begonnen, wobei Artikel 37 (identisch mit Art. 15 und 18 der alten Convention) und Art. 38 (identisch mit dem alten Art. 16 unter Zusatz eines vom «Comité d’examen» am 6. August angenommenen österreichischen Amendements) ohne weiteres votiert [wurden].
Die Artikel 16a und b der Vorlage des Comité d’examen, welche die allgemeine Schiedsgerichtsbarkeit unter der bekannten allgemeinen Klausel aussprechen, wurden mit 30 Stimmen gegen sechs Nein, bei vier Enthaltungen und fünf Absenzen angenommen. Mit Nein stimmten Deutschland, Österreich-Ungarn, Griechenland, Rumänien, China und die Türkei.