Classement thématique série 1848–1945:
II. RELATIONS BILATÉRALES
16. Italie
16.2. Ouvriers italiens en Suisse
16.2.2. Rupture des relations diplomatiques (affaire Silvestrelli)
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 4, doc. 386
volume linkBern 1994
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2001A#1000/45#652* | |
Old classification | CH-BAR E 2001(A)1000/45 75 | |
Dossier title | Nr. 627. Silvestrelli-Handel (1900–1903) | |
File reference archive | B.252 |
dodis.ch/42796
Sie haben in den Zeitungen von einem Zwischenfall gelesen, zu welchem gewisse von dem italienischen Gesandten Herrn Comm. Silvestrelli an den Bundesrat gerichtete Noten Anlass gegeben haben.
Der richtige Sachverhalt ist kurz folgender.
Am 5. Februar abhin besuchte der italienische Gesandte Herr Silvestrelli den Unterzeichneten und legte ihm die Nummer des in Genf erscheinenden anarchistischen Blattes «II Risveglio» vom 18. Januar vor, welcher einen das Andenken des Königs Humbert beschimpfenden Artikel enthielt. Sie finden diesen Artikel in Beilage I2. Wir übermittelten das Blatt dem eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement und stellten es ihm anheim, dem Bundesrate die ihm gut scheinenden Anträge zu unterbreiten.
Am 25. Februar beschloss der Bundesrat nach Einsicht eines Gutachtens der Bundesanwaltschaft3 der italienischen Gesandtschaft durch eine Note mitzuteilen, dass er gegen die für den Artikel des Risveglio verantwortlichen Personen nur in Form einer Anklage aus Art. 42 des Bundesstrafrechtes einschreiten könne, dass es aber nach dieser gesetzlichen Bestimmung vor allem auch erforderlich sei, dass die italienische Regierung einen Antrag stelle und das Gegenrecht zusichere. Den Text dieser Note finden Sie in Beilage II4. Es sind die gleichen Bedingungen, welche das deutsche Strafgesetzbuch (§ 103) aufstellt. Auch das italienische Pressegesetz vom 26. März 1848 (Artikel 56) verlangt für die Einleitung des Strafverfahrens im Falle der Beleidigung eines fremden Souveräns oder Staatsoberhauptes, dass eine förmliche Beschwerde von den beleidigten Souveränen oder Staatsoberhäuptern eingereicht werde.
Es leuchtet ein, dass der Bundesrat sich an das Gesetz halten muss und dass er die Überweisung des Verfassers des inkriminierten Artikels an die Gerichte nicht verfügen kann, bevor die formellen Erfordernisse des Art. 42 des Bundesstrafrechtes nicht erfüllt sind. Als die deutsche Regierung sich durch ein während der Baseler Fastnacht (20.–22. Februar 1888)5 verbreitetes Gedicht beleidigt fühlte, zögerte sie nicht, sich den Forderungen unseres Gesetzes zu unterziehen. Hierauf beschloss der Bundesrat, gestützt auf den Art. 4 der Bundesstrafrechtspflege und die Art.42, 69 und ff., 73 litt, c des Bundesstrafrechts, es sei gegen die Verfasser, Herausgeber und Verbreiter des Gedichtes, betitelt «Vive la France», strafrechtliche Untersuchung einzuleiten, und Anklage vor den Bundesassisen zu führen. Der Verfasser wurde zu einer Busse von Fr. 800 verurteilt.
Die italienische Gesandtschaft erwiderte mit Note vom 8. März im Aufträge ihrer Regierung, sie sei nicht in der Lage, Klage einzureichen, protestiere aber gegen die Straflosigkeit, deren sich der «Risveglio» in der Schweiz erfreue; es genüge der italienischen Regierung, den Bundesrat an die Erfüllung seiner internationalen Pflichten erinnert zu haben; sie überlasse ihm die Verantwortlichkeit dafür; die Forderung der Zusicherung des Gegenrechts sei unangebracht, weil es ja nicht Vorkommen könne, dass der Bundesrat in italienischen Blättern anders als mit Hochachtung behandelt werde. S. Beilage III6.
Diese in ungewohnt schroffem Tone abgefasste Note mit ihren willkürlichen Unterstellungen machte auf den Bundesrat einen höchst peinlichen Eindruck. Der Bundesrat wies in einer Note vom 12. März (Beilage IV)7 die gegen ihn erhobenen Vorwürfe unter nochmaligem Hinweis auf das Gesetz zurück.
Inzwischen erschien in der Lausanner «Revue» (18. März) eine Korrespondenz aus Bern vom 17. März, wo der Zwischenfall besprochen wurde. Eine Untersuchung darüber, wer dem Korrespondenten dieses Blattes die betreffenden Mitteilungen gemacht habe, ist im Gange. Herr Dr. Bovet, der Verfasser der Korrespondenz, weigerte sich, den Namen seines Gewährsmannes zu nennen; der Bundesrat untersagte ihm auf 3 Monate den Zutritt zu den Bundeshäusern.
Die italienische Gesandtschaft richtete hierauf an den Bundesrat die Note vom 23. März (Beilage V)8, worin sie erklärt, dass sie bei ihrem Standpunkte beharre. Durch diese Note wird der Versuch gemacht, die Frage, welche allein bis jetzt Gegenstand der Erörterung war, zu erweitern und als Grund der Beschwerden Italiens die ganze Haltung des Bundesrates gegenüber dem «Risveglio» hinzustellen. Wir verweisen diesfalls auf beiliegende Übersetzung eines «Communiqué» der Consulta an die «Tribuna» vom 23. März (Beilage VI)9
. Darin wird die Forderung des Bundesrates, dass die Reziprozität zugesichert werde, als ein abgeschmackter Scherz (scherzo di cattivo gusto) bezeichnet.
Infolge der letzten italienischen Note ist nun der Konflikt mit Italien akut geworden. Der Bundesrat hat daher heute beschlossen10, Herr Carlin habe sofort nach Bern zu kommen, um mit ihm über die zu treffenden Entschliessungen zu beraten.
Dies die Sachlage.
Es lag uns daran, Sie genau über unsere Differenzen mit Italien zu unterrichten, weil wir gestern erfahren haben, dass Italien im Begriffe ist, eine Art Coalition der Regierungen gegen die Schweiz ins Leben zu rufen, um uns zu weitgehenderen Massnahmen gegen die Anarchisten zu veranlassen. Es ist deshalb dringend notwendig, dass Sie sofort den Staatssekretär des Auswärtigen über die wirkliche Sachlage orientieren, um zu verhindern, dass Deutschland sich nicht etwa zu übereilten Schritten verleiten lasse.
Der Bundesrat ist sich seiner internationalen Pflichten wohl bewusst und bestrebt, denselben nachzukommen; die Forderung Italiens aber, dass er sich über die Landesgesetze hinwegsetze, ist unerfüllbar.
Indem wir Ihre Mitteilungen über das Ergebnis Ihrer Unterredung mit Herrn von Richthofen gewärtigen [...]11
- 1
- Lettre (Copie): E 2001 (A) 627. Eingeschrieben.↩
- 2
- Non reproduit.↩
- 3
- PVCF u 25 février (E 1004 1/208, no 781). Cf. aussi no 375.↩
- 4
- Cf. no 380, annexe 1.↩
- 5
- Cf. FF 1888, I, p. 761.↩
- 6
- Cf. no 380, annexe 2.↩
- 7
- Cf. no 380, annexe 3.↩
- 8
- Cf. no 387.↩
- 9
- Cf. no 385 annexe.↩
- 10
- Il n’y a pas de décision à ce sujet dans le PVCF du 25 mars 1902.↩
- 11
- Cf. no 388.↩
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