Stresazwischenfall
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 3, doc. 221
volume linkBern 1986
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E1004.1#1000/9#6937* | |
Dossier title | Beschlussprotokoll(-e) 22.09.-25.09.1882 (1882–1882) |
dodis.ch/42200 Protokoll der Sitzung des Bundesrates vom 22. September 18821
4767. Stresa-affaire
Das politische Departement hat seinen Bericht betreffend die Reklamation3 der italienischen Regierung wegen der Vorfälle in Stresaeiner- und anderseits betreffend das Gesuch4 des tessinischen Statsrates, bei der ersteren Genugtuung wegen der gleichen Angelegenheit zu verlangen, sammt den herwärtigen und den vom italienischen Gesanten konfidentiell übergebenen italienischen Akten5 bei den Mitgliedern des Bundesrates in Zirkulation gesezt.
Nach den vorgelegten Akten feierte der schweizerische Piusverein am 21., 22., 23. und 24. August d.J. in Locarno sein 25. Jahresfest. Laut Programm war für den 24. August ein Besuch der borromäischen Inseln in Aussicht genommen. Da das an den Besizer der Inseln, Graf Borromeo, gerichtete Gesuch um Erlaubnis hiezu unbeantwortet blieb, wurde mit dem Dampfboot « Verballo» eine Fahrt auf dem See ausgeführt, ohne die Inseln zu berühren.
An dieser Fahrt beteiligten sich zirka 500 Mitglieder des Piusvereins mit einer Anzahl von Frauen und Kindern. Das Schiff wurde von den meisten italienischen Orten, die es passirte, freundlich begrüsst, nur in Intra soll dasselbe mit Pfeifen empfangen worden sein. Als es dann nach Stresa kam, woselbst man beschlossen hatte, eine Stunde zu verweilen, und als die Mitglieder des Vereins ans Land stiegen, wurden sie mit unzweideutigen Zeichen des Missfallens aufgenommen. Der Sindaco, an welchen sich die Herren Ständerat Respini und der Präsident des Vereins, Graf Scherer, wanten, um Aufschluss über das unfreundliche Benehmen der Bevölkerung zu erhalten, bedeutete ihnen, dass es namentlich das Tragen der päpstlichen Farben (: die Vereinsmitglieder trugen weissgelbe Kokarden oder Bänder mit diesen Farben:) sei, welches die Bevölkerung aufrege und dass vor allen Dingen diese Insignien abgelegt werden sollen oder sie den Ort zu verlassen hätten. Die Vereinsmitglieder wollten der Zumutung, ihre Vereinszeichen abzulegen, – welche sie als eine unberechtigte erklärten – nicht Folge leisten, fügten sich jedoch der Weisung, den Ort zu verlassen und begaben sich wieder auf das Schiff, mit welchem sie nach Locarno zurükfuhren. Tätlichkeiten sind nicht vorgekommen, ausser dass – wie Herr Respini berichtet – versucht wurde, einem Mitglied sein Band zu nehmen und dass zwei am Land zurükgebliebenen Damen, welche ihre Taschentücher (: pozzuole:) schwenkten, dieselben aus der Hand gerissen wurden.
Da die mündlichen Anbringen des italienischen Gesanten über die Vorfälle in Stresa von der Darstellung des von der tessinischen Regierung übermittelten Berichtes6 des Herrn Fürsprechers und Ständerates Respini in Locarno in wesentlichen Punkten abweichen und von Italien namentlich vorgebracht wurde, die Exkursion nach Stresa sei eine absichtliche Demonstration zu Gunsten der weltlichen Herrschaft des Papstes gewesen, wurde vom Statsrat des Kantons Tessin unterm 5. d. M. (: Prot. No . 4486: ) nach verschiedenen Richtungen Auskunft verlangt. Die diesbezügliche Antwort der tessinischen Regierung vom 12. September geht nun im Wesentlichen dahin:7
1. Die Mitglieder des Piusvereins haben die gleichen Abzeichen getragen, wie dies bei eidgenössischen und kantonalen Festen stets der Fall sei, nämlich: die Mitglieder des Komité eine gelbe und weisse Kokarde, mit dem eidgenössischen Kreuz in der Mitte, die ändern Mitglieder ein gelb und weisses Band. Damit sei aber die weltliche Gewalt des Papstes in keiner Weise angedeutet. Es habe, im Gegenteil, bei allen Reden, die gehalten wurden, auch nicht die leiseste Anspielung hierauf stattgefunden. Auch sei, weder in Stresa, noch anderswo, jemals der Ruf: «es lebe der Papstkönig» (: papa rè:) erhoben worden. Das Tragen der päpstlichen Farben – gelb und weiss – werde übrigens in Italien sonst nicht als Provokation angesehen. In Rom, in Mailand und an vielen ändern Orten durchziehen Vereine, mit denselben geschmükt, die Strassen und werden überdies auch Fahnen mit gelben und weissen Farben getragen. Noch in den lezten Tagen seien in Como derartige Fahnen sogar von der Polizei geschüzt worden. Es sei daher unbegreiflich, wie man nun in Stresa im Tragen dieser Abzeichen eine Provokation habe erbliken wollen.
2. Die Anschuldigung, dass eine italienische Fahne von einem Balkon weggenommen worden sei, erweise sich als durchaus unrichtig. Es sei überhaupt auf keinem Balkon eine italienische Fahne sichtbar gewesen, und unter allen Umständen könne des Bestimmtesten versichert werden, dass niemand sich an einer solchen vergriffen habe. Der Ruf: «es lebe der Papstkönig» sei von Niemandem erhoben worden; wohl aber habe man von vielen Seiten den Ruf gehört: «Nieder mit den Schweizern» (: abasso gli Svizzeri:). Es sei somit nicht an den Einwohnern von Stresa, Klage zu führen, sondern vielmehr seien die Mitglieder des schweizerischen Piusvereins hiezu berechtigt.
3. An der Fahrt nach Stresa haben allerdings 4 Gensdarmen teil genommen, von denen 2 die Erlaubnis vom Kommissär in Locarno erhalten hatten, und zwei andere, unter denen der Kommandant, von sich aus und ohne Erlaubnis auf das Schiff gegangen waren. Die Gensdarmen trugen den Säbel an ihrer Seite, Sie begaben sich, als sie in Stresa anlangten, sofort in ein Café-Haus, in welchem sie verweilten, bis sie, zur Abfahrt, in das Schiff gerufen wurden. Es sei der Regierung nicht bekannt gewesen, dass die Gensdarmen bewaffnet erschienen und dem Kommandanten, welcher ebenfalls auf das Schiff gegangen, sei hiefür ein ernstlicher Verweis erteilt worden.
Was übrigens das Tragen von Waffen anbelange, so sei es auffallend, dass man in Italien hierüber so viel Wesens mache, da italienische Carabinieri stets in Brissago und Ascona mit Säbel und Revolver bewaffnet, erscheinen. Auch kommen oft Offiziere der italienischen Armee mit dem Degen an der Seite nach dem Tessin, ohne dass jemals einer derselben desshalb molestirt worden wäre. Die Gensdarmen seien eigentlich weniger wegen des Tragens der Waffen zu tadeln, als dafür, dass wenigstens ein Teil von ihnen ohne reglementarische Erlaubnis an der Fahrt teilgenommen habe.
Auf den Antrag des politischen Departements wird nun beschlossen:
1. Es sei an den Statsrat des Kantons Tessin folgendes Schreiben zu erlassen:
«Mit Schreiben vom 12. d. erteilen Sie uns die gewünschte weitere Auskunft über die Vorgänge in Stresa, bei Anlass der am 24. August stattgehabten Fahrt des schweizerischen Piusvereins.
Wir entnehmen ihrem Berichte, dass die von der italienischen Presse erhobenen Klagen sich grossenteils als ungenau oder übertrieben erweisen, und wollen daher dieser ganzen Angelegenheit keine weitere Folge geben, indem wir mit Ihnen voraussezen, dass sich die italienischerseits behauptete Wegnahme einer Fahne durch schweizerische Teilnehmer an der Festfahrt als unrichtig herausstelle.
Der Umstand jedoch, dass Gensdarmen mit dem Säbel bewaffnet den italienischen Boden betreten, (: wenn auch diese Tatsache dadurch, dass sie sich im Urlaub befanden und nicht in dienstlicher Stellung handelten, an Bedeutung verliert:), veranlasst uns, Sie einzuladen, dieselben in angemessener Weise zu bestrafen.
Im Übrigen betrachten wir die Sache als erledigt und benuzen den Anlass etc.»
2. Es sei dem italienischen Gesanten, Herr Graf Fé d’Ostiani durch das Präsidium folgende mündliche Antwort (:Wenn es gewünscht wird, in Form einer note8:)zu erteilen:
Der Bundesrat habe nicht ermangelt, über die Vorgänge in Stresa eingehende Untersuchung zu pflegen und auch die Regierung des Kantons Tessin zur Vernehmlassung einzuladen. Es ergebe sich nun zu seiner Befriedigung, dass in keiner Weise konstatirt sei, dass irgend welche provokatorische Absicht bei dem Besuch des Piusvereins in Stresa gewaltet habe. Die Mitglieder desselben haben die gleichen Insignien getragen, wie dies bei ihren eidgenössischen und kantonalen Festen und Vereinigungen Übung sei. Die von einzelnen Zeitungen behaupteten Demonstrationen, namentlich der Ruf «es lebe der Papstkönig», haben nach übereinstimmenden Zeugnissen von Anwesenden nicht stattgefunden. Auch sei keine italienische Fahne von einem Balkon weggenommen worden, ja, es sei in ganz Stresa auf keinem Balkon eine solche Fahne sichtbar gewesen.
«Sollte sich diese formelle Erklärung, die uns abgegeben worden ist, nicht als richtig erweisen und die Angaben der 3 Zeugen von Stresa als tatsächlich wahr sich herausstellen, so würden wir dies in hohem Grade bedauern und tadeln. Immerhin aber können wir keine Verantwortlichkeit für Handlungen, die von uns unbekannten Privatpersonen verübt worden, übernehmen. Wir wollen es dahin gestellt sein lassen, inwieweit die von Mitgliedern des Piusvereins vorgebrachten Klagen, so namentlich: dass von vielen Seiten gerufen worden sei «abasso gli Svizzeri», dass man einem Mitgliede seine Abzeichen zu entreissen versucht habe, dass Frauen ihre Taschentücher entrissen worden seien, sich als richtig oder unrichtig erweisen. – Der Vorfall erscheint um so mehr von ganz untergeordneter Bedeutung zu sein, als es sich lediglich um den Besuch einer Gesellschaft von Privatpersonen handelte, bei denen kein einziges Mitglied einer kantonalen Regierung anwesend war. Ebenso wie in der Schweiz das öftere Erscheinen italienischer Gesellschaften mit Abzeichen und Kokarden, mit uniformirten Musiken und Fahnen, keinem öffentlichen Tadel begegnet, erwarten wir, dass ein Gleiches von Seite Italiens auch uns gegenüber geübt werde. – Die freundnachbarlichen Beziehungen beider Staten sind glüklicherweise derart, dass man sich füglich über solche Vorgänge hinwegsezen kann, zumal deren Bedeutung noch geringer ist, da sie, wir wiederholen es, durch Privatpersonen veranlasst wurden, mit denen die beiden Regierungen keinerlei Solidarität haben. – Als tadelnswert müssen wir jedoch die Teilnahme der Gensdarmen bezeichnen. Wenn zwar auch zum öfteren italienische Offiziere und Carabinieri den schweizerischen Boden bewaffnet betreten, ohne dabei molestirt zu werden, so erachten wir dies doch beiderseitsiür unstatthaft und haben daher, soweit die Sache uns anbelangt, die tessinische Regierung eingeladen, den Gensdarmen für ihr bei diesem Anlass unbefugtes Betreten des italienischen Bodens in angemessener Weise zu bestrafen.
Hiemit glauben wir, dass gegenseitig die ganze Angelegenheit als definitiv erledigt zu betrachten sei.9»
- 2
- ;2. Es handelt sich wahrscheinlich um den Antrag vom 18. 9. 1882 (E 2/49). ↩
- 3
- Vgl. die Bundesratsprotokolle vom 29.8. und 5. 9.1882 (E 1004 1/130, Nrn. 4356 und 4486).↩
- 5
- Vgl. die Berichte des Bürgermeisters von Stresa vom 28. 8.1882 und des Unterpräfekten von Pallanza vom 11. 9.1882 (beide Berichte in: E 2/49).↩
- 6
- Bericht vom 29. 8. 1882 (E 2/49).↩
- 7
- Beide Schreiben in: E 2/49.↩
- 8
- Die Kopie der Verbalnote trägt den Vermerk: Remise par le Président de la Confédération au Ministre d’Italie le 22 Septembre 1882 (E 2/49).↩
- 9
- Der italien ische Aussenminister Mancini erklärte seiner Gesandtschaft in Bern mit Telegramm vom 27.9.1882: Le projet de Note du Conseil Fédéral que vous m’avez transmis par votre Rapport du 22 courant, me paraît absolument inacceptable. Le refus ouvert d’une satisfaction qu’on ne saurait refuser jamais entre Gouvernements amis serait contraire au bons procédés et produirait en Italie la plus fâcheuse impression. Le principe de la non responsabilité de la part de l’Etat suivant nous, doit répondre des faits délictieux de ses sujets qu’il n’a pu empêcher ou réprimer. [...] (E 2/49). Der Bundesrat hielt in seiner Sitzung vom 27.9.1882 an seiner früheren Haltung fest (E 1004 1/130, Nr. 4853).↩